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Pilgerfahrt nach Auschwitz

Das Holocaust-Gedenken ist zu einer Art Religion geworden.


10. März 2010
Von Iris Hefets

Was haben die beiden Professoren Ilan Pappe (Israel), Norman Finkelstein (USA) und der Publizist Hajo Meyer (Deutschland) gemeinsam? Alle drei sind Juden, Überlebende des Holocaust beziehungsweise deren Nachkommen sowie vehemente Kritiker der israelischen Politik.


Was haben die Stadt München, die Trinitatiskirche in Berlin, die Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemein? Sie alle haben, nach anfänglichen Zusagen, Ilan Pappe beziehungsweise Norman Finkelstein wieder ausgeladen und ihnen versprochene Veranstaltungsräume verwehrt – so wie es die Heiliggeistkirche in Frankfurt vor ein paar Jahren bereits einmal mit Hajo Meyer getan hatte. Die genannten Institutionen gaben damit dem Druck sich proisraelisch gebender Kreise nach, die Finkelstein, Pappe und Meyer sogar als „Antisemiten“ denunzierten. Wegen der Schoah. So nennt man das mittlerweile.

Früher sagte man „Auschwitz“, dann „Holocaust“. Bis Claude Lanzmann kam. Er suchte für das gigantische Menschheitsverbrechen, das er nicht verstand, ein Wort, das er ebenfalls nicht verstand. Also nannte der französische Regisseur seinen neunstündigen Dokumentarfilm über den Völkermord an den Juden 1985 „Shoah“. Dabei störte es ihn nicht, dass es sich um einen religiös aufgeladenen Begriff handelt: Auf Hebräisch bezeichnet man damit eine Katastrophe, die Gott über die Welt gebracht hat. Inzwischen hat sich der Begriff auch in Deutschland eingebürgert.

Mit dem Wort „Schoah“ wird der Völkermord an den Juden mit der Aura des Unfassbaren, des Heiligen ummantelt. Dabei handelt es sich bei diesem Völkermord, so erschreckend er war, nicht um ein esoterisches Ereignis, sondern um ein modernes, gut dokumentiertes und recherchiertes Verbrechen, das Menschen an anderen Menschen verübt haben. Zahllose Bücher wurden darüber geschrieben: Unfassbar ist es also nicht auf einer intellektuellen, sondern allenfalls auf einer emotionalen Ebene.

Mit dem hebräischen Wort „Schoah“ wird in Deutschland auch die israelische Interpretation des Ereignisses übernommen. In Israel ist diese eine Art nationale Erzählung und ein Grundpfeiler des Staates, sodass sich dort jedes jüdische Kind damit identifizieren kann, selbst wenn seine Eltern ursprünglich aus dem Jemen oder aus Indien stammen. Schülerreisen nach Auschwitz, ursprünglich nur von israelischen Eliteschulen betrieben, sind heute ein fester Bestandteil jeder israelischen Postpubertätsbiografie geworden. Bevor ein junger Israeli zur Armee geht, muss er mindestens einmal Suff, Sex und eine Auschwitzreise erlebt haben. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann er seinen Armeedienst leisten und hinterher in Indien ausflippen.

Zu offiziellen Gedenktagen holen auch ältere Israelis die inzwischen obligate Pilgerfahrt nach Auschwitz nach. Von einfachen Soldaten bis zu hohen Generälen und Politikern marschieren sie in Uniform (!) durch Auschwitz und erinnern an die Worte Ehud Baraks: „Wir sind 60 Jahre zu spät gekommen.“ Das Evangelium von Auschwitz hat inzwischen sogar schon den Weltraum erreicht: Als der erste israelische Astronaut Ilan Ramon 2003 mit dem Raumschiff „Columbia“ ins All flog, hatte er auch die Bleistiftzeichnung eines kleinen Jungen dabei, der in Auschwitz ermordet wurde.

Bei diesem Schoah-Kult handelt es sich, so muss man wohl sagen, um eine Art Religion mit festen Ritualen. Dazu gehört – ungeachtet aller heutigen Realitäten – die feste Überzeugung, die Deutschen seien die ewigen Täter und die Israelis die ewigen Opfer, weshalb die Gesetze und Regeln demokratischer Staaten für Letztere nicht zu gelten hätten: ein Sonderfall halt.

Diese Religion erfreut sich nicht nur in Israel großer Beliebtheit. Auch vielen Deutschen kommt eine solche Mystifizierung von Auschwitz gelegen. Denn wenn Auschwitz eine heilige Aura umgibt, dann muss man sich nicht mehr mit dem eigenen Potenzial zur Täterschaft auseinandersetzen. Wenn der Holocaust so heilig ist, dann darf man nur auf Zehenspitzen gehen.

Nicht wenige Deutsche haben damit ein prima Arrangement mit der Vergangenheit getroffen. Sie erklären das Verbrechen ihrer Vorfahren als so schlimm, dass es zu etwas quasi Mystischem geworden ist. Das Thema ist damit aus dem Diesseits und dem Feld der Politik in die Sphäre des Sakralen entrückt. Solange man die Rituale dieser Religion befolgt, braucht man sich nichts vorwerfen zu lassen und kann sich sogar, wie Angela Merkel in der Affäre um die Piusbruderschaft gezeigt hat, päpstlicher als der Papst verhalten. Kein Wunder, dass man in Deutschland zuweilen viel engagiertere Verfechter der israelischen Politik antrifft als in Israel selbst.

Die Dinge beim Namen nennen
Es gibt aber auch Juden, die dieses israelisch-deutsche Interpretation der Schoah nicht akzeptieren. Für sie ist Auschwitz nicht heilig und Israels Politik noch immer kritisierbar. Publizisten wie der israelische Wissenschaftler Ilan Pappe, der ein Buch über „Die ethnische Säuberung Palästinas“ geschrieben hat, sein US-Kollege Norman Finkelstein, der eines über die „Holocaust-Industrie“ verfasste, und der in Deutschland geborene Dr. Hajo Meyer, der „Das Ende des Judentums“ publizierte, gehören dazu. Doch in Deutschland sind sie deswegen nicht willkommen.

Man stelle sich vor, Heinrich Böll wollte heute über die Sprache der israelischen Besatzer reden – und die nach ihm benannte Stiftung ließe das nicht zu. Rosa Luxemburg bekäme in der Stiftung, die ihren Namen trägt, keine Gelegenheit, über die Machtverhältnisse in Israel zu sprechen. Und der Jude Jesus fände die Türen der Trinitatiskirche verschlossen, wenn er über die Missachtung des Nächsten in Israel sprechen wollte.

All diese Institutionen üben sich in Selbstzensur und belegen Publizisten, die sich für die Menschenrechte im Nahen Osten einsetzen, mit einem Redeverbot. Es ist immer noch angebracht, Rosa Luxemburgs Erbe weiterzugeben und die Dinge beim Namen zu nennen. Doch die Stadt München, die Trinitatiskirche in Berlin, die Böll- und die Luxemburg-Stiftung drücken sich davor.

Iris Hefets ist im Vorstand der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden“ und arbeitet für das hebräische Internetportal www.kedma.co.il. Sie hat Israel vor acht Jahren aus politischen Gründen verlassen und lebt heute in Berlin.

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