Interview mit Khaled Saghyeh, Redaktion von Al-Akhbar
Anna-Maria Steiner, Bärbel Beuermann, Natasha Stojanowic, Mohammad Abu-Rous
Wie hoch ist die Auflage eurer Tageszeitung?
Etwa 15.000 Exemplare. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung lesen hier im Libanon sehr wenige Zeitung. Das ist vor allem auf den Bürgerkrieg zurückzuführen. Vor dem Krieg erreichte eine einzige Zeitung eine Auflage von über 60.000, heute erreichen kaum alle Tageszeitungen zusammen eine ähnliche Auflage.
Wie viele Mitarbeiter hat Al-Akhbar?
Wir beschäftigen ungefähr 60 Journalisten. Wir haben viele Korrespondenten im Libanon und einige Auslandskorrespondenten. Die Journalisten hier sind vollzeiteingestellt.
Wie ist der inhaltliche Charakter ihrer Zeitung? Schreibt ihr eher analytische Artikel?
Wir sind keine Theorie-Zeitung. Was uns von anderen Zeitungen unterscheidet ist die journalistische Arbeit. Die meisten Zeitungen hier konzentrieren sich auf die Nachrichten selbst und entnehmen ihre Meldungen den lokalen bzw. internationalen Presseagenturen. Sie machen keine Berichterstattung, Feldforschungen oder politische Analysen. Das ist jedoch genau das, was Al-Akhbar hauptsächlich tut. Wir wenden wenige Seiten den Nachrichten selbst zu und widmen den Rest unserer eigenen Berichten und Analysen. Diese interessieren die Leser mehr als die bloßen Nachrichten, die sie schon am Vortag im Radio oder Fernsehen mitbekommen hatten. Das tun wir nicht nur in der Politik, aber auch in anderen Bereichen. Auch bei Auslandsthemen versuchen wir in mehreren Medien im Internet unsere eigenen Nachforschungen zum Thema zu unternehmen, vielmehr als die Meldungen der Presseagenturen zu kopieren.
Ihre Zeitung wurde gleich nach dem Krieg von 2006 gegründet und vertritt eine oppositionelle Linie gegenüber der Regierung und zugunsten des Widerstands. Was ist die Beziehung zwischen Ihrer Zeitung und den politischen Parteien? Wie beeinflussen sie Ihre Redaktionslinie?
Die Situation hier ist hier anders als in westlichen Staaten. Die linken Parteien sind hier nicht so groß. Es gibt im Land eine große Kluft zwischen zwei Lagern. Auf der einen Seite steht Hizbullah und die Pro-Widerstand-Parteien, darunter besonders die Partei von General Aoun. Ihnen gegenüber stehen Hariris Partei Mustaqbal (Zukunft) und ihre Verbündete. Im Land herrscht eine sehr starke Spaltung. Die meisten Kollegen hier sehen sich als linke Journalisten, die mit dem Widerstand verbündet sind. Wir sind für den Widersand. Unsere Allianz mit einer islamischen Kraft mag für andere Linke nicht nachvollziehbar sein. Für uns ist nicht die Ideologie des Widerstands das ausschlaggebend, wenn es darum geht, ob wir für oder gegen diesen Widerstand sind. In den Achtzigern waren es die Kommunisten und andere linke Parteien, die den Widerstand gegen Israel begannen. Später waren setzten die Islamisten das fort. Für mich geht es aber um die Menschen. Es sind vor allem die Bewohner des Südlibanons, seien sie Linke, Islamisten oder was auch immer.
Andererseits sind weder Hizbullah noch General Aoun linke Kräfte. Wie viele andere Drittweltstaaten hat der libanesische Staat eine neoliberale Agenda, welche aufgrund des Bürgerkriegs der Achtziger erst in den Neunzigern eingesetzt wurde. Wir als Linke sehen wir uns in Opposition zu dieser Agenda. Die Partei, welche in der Regierung diese Agenda durchsetzte war die „Mustaqbal“. Das bedeutet nicht, dass Hizbullah gegen diese Agenda ist. Hizbullah war jedoch nicht die Partei, die für diese Agenda eintrat. Wir als eine Kraft, die für den Widerstand und gegen die neoliberale Agenda ist, sehen wir uns im Moment näher zu Hizbullah als zur „Mustaqbal“.
Bei unserer Beziehung zur Hizbullah sind wir aber nicht von ihr abhängig. Sie begrüßen zwar unsere Haltung für den Widerstand, erkennen jedoch die politischen Differenzen zu ihnen und zur Partei von General Aoun. Für uns bedeutet das manchmal auf einer schmalen Spur gehen. Beispielsweise würden wir nie die eingeforderten Bürgerrechte für Palästinenser im Libanon in Frage stellen. Diese sind aber eine Blasphemie für General Aoun, der aus konfessionellen Gründen kein Verständnis für diese Idee hat. Sie können sich daher einen Pro-Aoun Leser von Al-Akhbar vorstellen. Er liest die Zeitung täglich und interessiert sich für Ihre Inhalte. Eines Morgens wacht er auf und findet einen Artikel, der Bürgerrechte für Palästinenser fordert. Das wird ihm bestimmt nicht gefallen.
Gleichzeitig spielen wir eine Rolle in der Radikalisierung des oppositionellen Diskurses bezüglich der Wirtschaft. Viele ökonomische Debatten wurden von Al-Akhbar angeregt, besonders in den Zeiten, wo alle Großparteien in einer Einheitsregierung saßen.
Wie verhält sich Hizbullah zu Wirtschaftsfragen? Wie werden Sie von den Mustaqbal-Anhängern gesehen?
Um einen nationalen Konsens für eine Einheitsregierung herzustellen, wird der Wirtschaftspolitik eine geringere Priorität eingeräumt. Zum Beispiel würde die Hizbullah die Wirtschaftsdebatte mit der „Mustaqbal“ auslassen, solange diese die Waffen von Hizbullah nicht zur Diskussion stellt. Wir hatten jedoch mehrmals eine Debatte zu bestimmten wirtschaftspolitischen Themen angerissen, als diese noch aktuell waren, und wir hatten das Gefühl, das hat auch ihre Positionen positiv beeinflusst. Man kann sagen, es ist ein komplexes Verhältnis.
Auf der anderen Seite wollte die „Mustaqbal“, als wir 2006 begonnen haben, nicht einmal mit uns reden. Sie startete eine Propagandakampagne gegen Al-Akhbar, in der sie behauptete, wir seien vom Iran gegründet, wir würden zu Hizbullah gehören usw. Heute hat sich die Situation verändert. Einerseits hat sich die Konfrontation zwischen den Parteien entspannt, und anderseits begriffen sie, das Al-Akhbar eine seriöse Zeitung ist, die sie nicht ignorieren können. Sie sahen, dass sie durch Boykott mehr verlieren als wir. Jetzt sind sie offener zu uns, weil es zu ihrem Vorteil ist, wenn eine gegnerische Zeitung was für sie veröffentlicht.
Jedenfalls sind unsere Beziehung zu den Parteien eher technisch als politisch. Die meisten parteinahen Zeitungen veröffentlichen Berichte über die Aktivitäten ihrer Anführer und deren Bilder sehr prominent und sehr voluminös. Da wir das nicht tun, begriffen sie am Anfang nicht, was wir überhaupt wollen.
Bei welchen Themen der libanesischen Politik liegt Ihr jetziger Schwerpunkt?
Vor allem spezialisieren wir uns auf das Thema des Konfessionalismus. Dieser Schwerpunkt unterscheidet uns von anderen politischen Medien. Im Libanon gibt es viele Konfessionen und politisch ist alles aufgeteilt nach religiöser Zugehörigkeit. Fast jeder politische Streit wandelt sich in einen konfessionellen, und umgekehrt. Es hängt immer vom Ausgangspunkt der Analyse. Einige Analytiker wollen nur den Konfessionalismus sehen und interpretieren die Politik dementsprechend. Oder Sie sehen es aus einem anderen Standpunkt, nämlich danach, ob jemand mit dem Widerstand gegen Israel ist oder mit Israel zusammenarbeitet. Und weil das Land konfessionell ist, nimmt diese Differenz eine konfessionelle Form. Ab diesem Punkt fangen die größeren Probleme an, denn hier hört Logik auf. Da wird es schwierig, jemanden aus einer anderen Sekte von einem politischen Standpunkt zu überzeugen. Es geht dann nicht mehr um Argumente, sondern um Tribalismus, wo jeder an der Identität seiner Sekte oder seines politischen Stammes festhalten.
In der Zeit nach dem Bürgerkrieg, als die syrische Armee bis 2005 präsent war, haben die Syrer die konfessionellen Probleme im Land reguliert. So wurden auch die Aufgaben konfessionell aufgeteilt: die Schiiten trugen den Widerstand gegen die israelische Besatzung des Südens und die Sunniten kontrollierten die Wirtschaft. So durfte Rafiq Hariri, der den Neoliberalismus einführte, nicht gegen den Widerstand von Hizbullah reden. Gleichzeitig durfte sich Hizbullah nicht in Wirtschaftspolitik der Regierung nicht einmischen. Was den Christen betrifft, so waren diese als Verlierer des Bürgerkriegs marginalisiert. Einer ihrer Führer war im Gefängnis und der andere im Exil. Für die Syrer war es ein konfessionelles Spiel, in dem sie die Jobs aufteilten.
Als die Syrer das Land verließen, da begannen die Konflikte. Einerseits wollte jede Gruppe einen größeren Anteil, und andererseits fehlte nunmehr der Schießrichter. So fordert die „Mustaqbal“ mehr oder weniger offen die Entwaffnung der Hizbullah und reden vom Staatsmonopol über Waffen. Gleichzeitig will Hizbullah seine Position als Widerstandskraft verteidigen und fängt gleichzeitig an, sich in die Wirtschaftspolitik einzumischen. Zusätzlich kamen die unter der syrischen Vorherrschaft marginalisierte Christen und wollen ebenfalls ihren Anteil. Wer würde an Sie einen Teil seiner Macht abgeben?
Das war eine Art von Analyse. Eine andere besagt, dass wir hier im Libanon einen Widerstand haben, der in der Lage war, das Land zu befreien und den wir brauchen, um das Land zu verteidigen. Im anderen Lager sind US-Alliierte, welche die US-Agenda in der Region applizieren und auf dieser Agenda setzen, um mehr Machtanteile im Libanon zu erhalten. Dieser Kampf geht weiter und nimmt mehrere Formen. Seine jetzige Form ist das internationale Tribunal um den Mord an Premierminister Rafiq Hariri.
Wie kann Ihrer Meinung nach das Thema Libanon im deutschsprachigen Raum attraktiver präsentiert werden? Welcher Aspekt gehört am meisten behandelt?
Ich weiß nicht was gut für Europa wäre, aber ich sehe, dass die meisten westlichen Medien sich vor allem mit Hizbullah beschäftigen. Das Problem im Libanon wird so dargestellt, als ob wir eine bewaffnete Partei haben und eine Lösung für diese zu finden ist. Sie stellen Hizbullah so dar, als ob sie der Bildung eines modernen Staates im Libanon im Wege stünde. Man sollte die Sachen aus einer anderen Perspektive darstellen: was die Israelis im Libanon machen, warum wir Hizbullah haben, dass Hizbullah eine libanesische und keine iranische Partei ist… Es ist auch interessant, den Leuten andere Seiten des Libanon zeigen, anderes als nur ein Ort, wo Bürgerkrieg stattfand.
Es gibt auch die palästinensischen Flüchtlingslager. Im Moment ist es Mode geworden, Hilfsgüter nach Gaza zu schicken, als ob die Welt erst jetzt die Existenz von palästinensischen Flüchtlingen entdeckt hat. Die Flüchtlinge sind da seit mehr als sechzig Jahren und ihre Lage hat sich keineswegs verbessert.
Wie gehen Sie als Linke mit dem Dilemma, Hizbullah einerseits als Widerstandskraft zu unterstützen, und andererseits als Teil des konfessionellen Systems und der liberalen Wirtschaftspolitik des Landes zu kritisieren? Wie beeinflusst dieser Widerspruch ihre Redaktionslinie? Wie viel Autonomie genießen Ihre Journalisten?
Einer der Hauptmerkmale von Hizbullah als eine islamische Kraft im Libanon ist die Tatsache, dass sie nie versuchten, eine islamische Agenda durchzusetzen. Im Gegensatz zu anderen islamischen Kräften in der Region versuchen nicht, das Land zu islamisieren oder an die Macht zu kommen. Sie verbreiten ihre Ideologie innerhalb ihrer Gemeinde, versuchen diese aber nicht in die Gesetzgebung einzubringen. Sie haben auch nicht die neoliberale Agenda mitgetragen, weil sie nicht an der Regierung nicht beteiligt waren. Man kann sie dafür kritisieren, diese Agenda nicht opponiert zu haben. Was wir als Linke versuchen, ist sie in ihrer wirtschaftlichen Agenda nach links zu bewegen.
Unter der jetzigen Aufteilung im Land sind sie einerseits die Partei des Widerstands, und andererseits die größere Partei der Schiiten. Wenn sie eine konfessionelle Gemeinde vertreten, dann wird es schwierig, eine soziale Agenda zu tragen. Sie müssen nämlich die Interessen aller Klassen innerhalb der Konfession verteidigen, weil sie jeden der Gemeinde vertreten.
Bezüglich ihrer jetzigen Haltung in der Regierung, so können sie manchmal kritisiert werden, weil sie keine radikale Haltung haben. Manchmal haben sie diese jedoch! Es wurden in dieser Zeitung z.B. viele Kritiken über die Position Hizbullah’s bezüglich des Iraks geschrieben. Im Irak, wo auch eine konfessionelle Situation herrscht, waren es diesmal die Sunniten, die den Widerstand gegen die US-Besatzung trugen. Hizbullah in ihrer Verbindung zu den Schiiten im Irak und im Irak kritisierte die Haltung der schiitischen Parteien im Irak nicht oft.
Andererseits hilft uns diese starke Spaltung im Land. Niemand will jetzt über die Details reden! Wir sprechen von den Details, aber in dieser starken Polarisierung sind diese für viele Leser kein großes Thema. Was den wirtschaftlichen Ansichten betrifft, so kann sich jeder radikal auf der einen oder der anderen Seite positionieren. Das ist nicht der Hauptstreitpunkt im Moment, und daher wird es von allen toleriert.
Sie sehen also Ihre Zeitung als eine Plattform in Unterstützung des Widerstands?
Ja, es ist eine allgemeine Strömung, in der sich mehrere Plattformen befinden. Lassen wir die große Debatte beiseite, so sehen wir, dass wir hier mehrere politische Parteien haben, von denen keine ein linkes Modell zu befolgt. In der ganzen Welt fehlt das Modell und fast alle linken Parteien sind auf der Suche nach Wegen und Auswegen. Es ist daher nicht die Aufgabe der Zeitung, eine bestimmte linke Linie zu vertreten. Alle Ansichten der Linke kommen zum Ausdruck hier. Einige Linke lehnen nach wie vor jede Zusammenarbeit mit Islamisten ab, andere sehen Sozialismus nur in wirtschaftlichem Sinne und wollen mit Tradition und Religion nicht brechen. Die Zeitung bietet ein Dialogforum innerhalb der linken Kräfte. Wir tolerieren viele Positionen innerhalb einer allgemeinen politischen Linie. Die Zeitung wurde 2006 gestartet, als das US-amerikanische Projekt in der Region sehr aggressiv war und wir waren hier eine der radikalsten Stimmen gegen dieses Projekt.
Wir sind nicht einfach eine linke Zeitung. Unter den jetzigen politischen Umständen hierzulande gibt es hier Linke, Islamisten, Panarabisten und andere Strömungen, die zusammenarbeiten.