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Kommentar zur Stuttgarter Konferenz und Stuttgarter Erklärung

15. Januar 2011
Von Ilan Pappe

Vor kurzem wurden die Organisatoren der Stuttgarter Konferenz und besonders jene, die die Stuttgarter Erklärung unterschrieben haben, von mehreren deutschen Autoren und Politikern heftig kritisiert, auch in dem für Deutsche aus der linken Mitte so typischen aggressiven Ton.


Abgesehen von den unwichtigen Aspekten des Streits – wie dem Stil und die eigenartige Fokussierung auf irgendeine Person, die die Erklärung unterschrieben hat – sollten die wesentlichen Fragen und Gesichtspunkte hervorgehoben werden, mit der diese Konferenz einen so wichtigen Beitrag für den palästinensischen Kampf geleistet hat.
Unter den Aktiven im Kampf um Palästina gibt es auf der einen Seite das orthodoxe Herangehen und auf der anderen eine neue herausfordernde Bewegung. Das orthodoxe Herangehen gründet seine Friedensvision auf eine Zwei-Staaten-Lösung und auf der tiefen Überzeugung, dass eine Veränderung der israelischen Gesellschaft durch das dortige Friedenslager eine gerechte Lösung bringen wird. Zwei völlig souveräne Staaten würden nebeneinander existieren, sie würden sich einig werden in der Frage der palästinensischen Flüchtlinge und gemeinsam über die Zukunft Jerusalems entscheiden. Dies schließt auch den Wunsch mit ein, Israel als einen Staat all seiner Bürger zu sehen und nicht nur als einen jüdischen Staat – der jedoch seinen jüdischen Charakter behalten soll.
Diese Vision gründete sich einerseits auf den Wunsch, den Palästinensern zu helfen und andererseits auf realpolitische Überlegungen. Sie nährt sich aus einer Überempfindlichkeit gegenüber den Wünschen und Ambitionen der mächtigen israelischen Seite und aus einer übertriebenen Rücksichtnahme auf das internationale Kräfteverhältnis und sie will vor allem auch der amerikanischen Grundposition und Haltung zu diesem Problem entgegenkommen. Es ist dennoch eine aufrichtige Position und in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der Position der politischen Eliten des Westens. Diese waren viel zynischer als sie ihre sanftere Version der orthodoxen Sicht ins Spiel brachten. Diese Politiker wussten und wissen sehr wohl, dass ihr Diskurs und Plan Israel erlaubt, die Enteignung Palästinas und der Palästinenser ohne Unterbrechung fortzusetzen. Es ist kein glaubwürdiges Rezept zur Beendigung der Kolonisierung Palästinas.
Bei den Aktivisten hat die orthodoxe Sicht allmählich an Bedeutung verloren. Sie wird noch immer hochgehalten vom offiziellen Friedenslager in Israel und von den liberalen zionistischen Organisationen weltweit, ebenso wie von den linkeren Politikern in Deutschland und Europa. Im Namen der Realpolitik und der Effizienz wird sie auch in gewisser Weise immer noch von guten Freunden, wie Norman Finkelstein und Noam Chomsky, vertreten.
Doch die große Mehrheit der Aktivisten wollen sie nicht mehr. Die BDS-Bewegung, die durch die palästinensische Zivilgesellschaft innerhalb und außerhalb Palästinas initiiert wurde, das wachsende Interesse und die Unterstützung für eine Ein-Staaten-Lösung und die Entstehung eines entschiedeneren, wenn auch kleinen, antizionistischen Friedenslagers in Israel haben zu alternativem Denken geführt.
Die neue Bewegung, die von Aktivisten in aller Welt, in Israel und in Palästina, unterstützt wird, folgt dem Beispiel der Anti-Apartheid-Solidaritätsbewegung. Das gesamte Palästina war und ist ein Gebiet, das kolonisiert wurde und noch immer kolonisiert und durch Israel in der einen oder anderen Weise besetzt wird und die Palästinenser leben unter diversen legalen und repressiven Herrschaftsformen. Es ist deshalb notwendig, die Realität vor Ort fundamental zu ändern, bevor es zu spät ist.
Mit anderen Worten, wir sind Zeugen eines Paradigmenwechsels, der von diesem neuen Aktivismus vertreten wird. (Er hat natürlich viele Elemente alter Ideen aus der PLO-Charta von 1968 und von Aktivistengruppen wie der Abna al-Balad, Matzpen, der PFLP und PDFLP übernommen und der heutigen Realität angepasst, Ideen die 1993 im Namen der Realpolitik fallengelassen wurden.) Das neue Paradigma besteht auf der Analyse Israels als einen kolonialen Siedlerstaat des 21. Jahrhunderts, dessen Ideologie das Haupthindernis für Frieden darstellt. Es sucht friedliche Mittel zur Veränderung dieses Regimes für alle, die dort leben und für jene, die von dort vertrieben wurden.
Aktivismus um des Aktivismus willen ist sinnlos. Aktivismus muss sich auf eine Analyse gründen und eine Prognose vorschlagen. Zionismus war und ist eine koloniale Siedlerbewegung und Israel ist ein kolonialer Siedlerstaat. So lange dies so bleibt, wird selbst ein Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen und die Schaffung eines Bantustans die Enteignung und die ethnische Säuberung, die 1948 begann, nicht beenden. Die Bantustans haben die Apartheid in Südafrika nicht beseitigt.
Die neue Bewegung, die mit der Konferenz in Stuttgart ein bedeutendes Zeichen setzte, gibt der Unterstützung für Palästina und den Palästinensern von außerhalb neuen Auftrieb. Sie kann sich aber nicht mit der Frage der palästinensischen Vertretung befassen – dieses Problem kann nur von den Palästinensern selbst gelöst werden – auch nicht mit der Frage, wie die israelischen Juden am besten die Verantwortung für die ethnische Säuberung Palästinas übernehmen sollten und wie eine andere Zukunft erreicht werden kann, in der Araber und Juden zusammenleben können. Aber in Stuttgart waren beide, Palästinenser und Israelis, vor allem auf dem Podium zahlreich vertreten. Die Stuttgarter Erklärung beschreibt sehr gut die Hoffnung beider Seiten, die von anderen moralisch unterstützt wird. Sie enthält Vorschläge für Aktionen in Europa, um die Enteignung von Palästina – nicht nur in kleinen Bereichen – zu beenden.
Es ist nicht töricht, auf einen Regimewechsel in Israel zu hoffen, es ist nicht naiv, sich einen Staat vorzustellen, in dem alle gleich sind, und es ist nicht unrealistisch, sich für die bedingungslose Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat einzusetzen. Diese Sehnsüchte behindern nicht den Kampf gegen die täglichen israelischen Übergriffe in Palästina. Im Gegenteil, sie geben uns die einzig mögliche rationale Erklärung, warum wir mit demselben Engagement und mit der gleichen moralischen Kraft gegen die Zerstörung von Häusern in Jerusalem, im Negev und im Gazastreifen Widerstand leisten müssen.
Stuttgart war eine Station. Der Zug fährt jetzt woanders weiter, zu Universitäten in Amerika, Kirchen in England und Versammlungsräumen von Gewerkschaften in Europa. Hoffen wir, dass er auch Synagogen erreicht. Der Kampf gegen den Zionismus sollte mit nichts anderem verwechselt werden. Der Zionismus ist eine außergewöhnliche Ideologie, eine Ideologie mit einem Staat und einer Armee. Sie schadet nicht nur den Palästinensern, sondern auch den Juden, wo immer sie sind – auch den Juden in Israel.
Wir sollten den Organisatoren danken, die Erklärung unterzeichnen und vorwärts gehen. Palästina kann nicht auf deutsche Bedenken und Skrupel Rücksicht nehmen. Wir sollten Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen praktizieren. Dies ist der einzige Weg, der von außen beschritten werden kann, damit beide Völker in Palästina künftig eine faire Chance haben, eine bessere Zukunft zu bauen.

12.1.11

(dt. Ellen Rohlfs)

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