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Weltordnung und Krise: B-Phase oder System-Ende?

von Hannes Hofbauer


18. Januar 2011

Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet die Weltwirtschaftskrise 2007ff. Sie kam nicht überfallsartig und unvorhersehbar. Im Gegenteil: linke, radikale Kapitalismuskritik schien sich in ihr zu bestätigen. Diese war seit Mitte der 1970er Jahre von einer Krise der materiellen Produktion im Kapitalismus ausgegangen.


Wir veröffentlichen hiermit Diskussionsbeiträge zur „Tagung der Ungläubigen: Krise, Weltordnung, Hegemonie“. Sie dienen dazu die Debatten anzustoßen und verstehen sich als Entwürfe, die als Ergebnis der Zusammenkunft noch verändert werden können.

Weltordnung und Krise: B-Phase oder System-Ende?
von Hannes Hofbauer

Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet die Weltwirtschaftskrise 2007ff. Sie kam nicht überfallsartig und unvorhersehbar. Im Gegenteil: linke, radikale Kapitalismuskritik schien sich in ihr zu bestätigen. Diese war seit Mitte der 1970er Jahre von einer Krise der materiellen Produktion im Kapitalismus ausgegangen. Demnach war die seit diesem Zeitpunkt evidente Überproduktionskrise eine Folge gesättigter Märkte, die Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft nicht mehr unbegrenzt aufnehmen konnten, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschehen, sondern an Kapazitätsgrenzen stieß. Die von der Wehrmacht effizient betriebene vollständige Leerräumung der Märkte (bei gleichzeitiger schnellstmöglicher Verwertung von Rüstungsgütern in einem militär-keynesianistischen staatlichen Nachfragemodell) konnten nach 1945/48vor allem die USA nützen, um via Marshallplan (für die politischen Partner) scheinbar unbegrenzte Absatzmärkte für die im Krieg gestärkten Kapitalgruppen und via Cocom-Embargo (für die kommunistischen Länder) einen Bruch traditioneller Wirtschaftsbeziehungen zwischen West- und Osteuropa zu realisieren.

Spätestens Mitte der 1970er Jahre stieß dieses Modell an seine Grenzen. Die Rendite für Realinvestitionen fiel. Als Folge wurden billigere Produktionsstandorte gesucht und parallel dazu billigere Produzenten in die Zentren der Weltwirtschaft verbracht (Südeuropäer und Türken in den Nordwesten Europas; Lateinamerikaner in die USA). Dem Phänomen verstopfter, gesättigter Märkte konnte damit nicht begegnet werden. Überproduktion war die Folge.

Wir können drei Reaktionen auf diese Strukturkrise erkennen: Flucht in die Spekulation, betriebswirtschaftliche Rationalisierungen durch Einsatz neuer Technologien und Strategien der Markterweiterung (bis hin zum Krieg).

Akkumulationsheischendes Kapital verließ mehr und mehr die Produktionssphäre und suchte in der Spekulation seine Rendite. Aufgeblasene Kapital- und Finanzmärkte schienen ein Ausweg, politisch betriebene Deregulierung ver-zigfachte die Profitmöglichkeiten in dieser Spekulationssphäre. Dass die daraus entstehenden Blasen irgendwann platzen würden, war vorhersehbar und durfte nicht verwundern.

Betriebswirtschaftliche Rationalisierungen fanden im großen Stil statt. Der Einsatz der digitalen Technologie führte zu einer betrieblichen, aber auch gesellschaftlichen Umformung. Neue Formen der Kommodifizierung von immer mehr Lebensbereichen gingen damit einher.
Die Expansionsstrategie äußerte sich auf zwei Ebenen. Reagans Aufrüstung beinhaltete neue Waffensysteme wie Pershing II und Cruise Missiles, die Krieg als Mittel der Politik leichter führbar machten (was sich später im Irak und auf dem Balkan blutig zeigen sollte). Und mit dem Zusammenbruch des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe im Juni 1991 öffneten sich schlagartig neue Absatz- und Arbeitsmärkte, was sowohl für betriebliche Übernahmen der allermeisten Branchen im großen Stil als auch für erneuten Import billiger Arbeitskräfte aus dem Osten (Polen und Slowakinnen anstelle von Jugoslawen) genutzt wurde.

All das war linker, radikaler Analyse bekannt. Die Heftigkeit der 2007er-Krise löste dennoch Erstaunen aus, obwohl ihr Tiefpunkt noch nicht erreicht ist. So implodiert ein Gesellschaftssystem, dachte so mancher Kapitalismuskritiker und vermeinte auch diesen Zusammenbruch als alternativlos zu sehen. Das Ende eines kapitalistischen Zyklus war also vorhersehbar. Wie schon so oft. Aber ist es das Ende der kapitalistischen Produktionsweise?

Von der Zyklizität der Auf- und Abschwünge

Sozialwissenschaftler betrachten wirtschaftliche und soziale Entwicklungen seit langem als zyklische Verläufe. Die Theorien dazu sind unterschiedlich, wiewohl sich der Augenschein oft gleicht. Ob man den Produktionszyklen von Nicolai Kondratieff oder Joseph Schumpeter folgt oder den Akkumulationszyklen von Karl Marx oder Ernest Mandel, längere und kürzere Wellen von Auf- und Abschwüngen bestimmen die ökonomischen Weltbilder dieser Theoretiker. Und sie passen zusammen, fügen sich z.B. bei Weltsystemanalytikern wie Andre Gunder Frank, Samir Amin oder Immanuel Wallerstein in ein Weltbild, das – ergänzt durch deren Sicht auf das Zusammenspiel von Zentren und Peripherien – sowohl historisch als auch aktuell aussagekräftig ist.

Produktions- und Akkumulationswellen, die Konjunkturzyklen beschreiben, gehen von circa 25-jährigen Phasen aus, in denen ein wirtschaftlicher Aufschwung bzw. ein Abschwung stattfindet. Im Aufschwung weiten sich Produktion und Nachfrage aus (Kondratieff-A-Phase), während der Abschwung in eine Rezession führt, nachdem im aktuellen Fall überproduziert und unterkonsumiert worden ist(Kondratieff-B-Phase). Die B-Phase, durch Profit- und Produktionskrise gekennzeichnet und um Kostenreduktion und Rationalisierungen bemüht, ist von einem harten Konkurrenzkampf geprägt, der idealtypisch in eine neue Aufschwung (A-)-Phase mündet. Solche eine langen Welle von Auf- und Abschwung wird von Kondratieff in vier Phasen untergliedert: Erholung (von der vorangegangenen Krise), Prosperität, Rezession, Depression.

Die Anfang/Mitte der 1970er Jahre feststellbare Akkumulationskrise/Überproduktionskrise mündet nach dieser Beobachtung zyklischer Wellen Anfang/Mitte der 1990er Jahre in einen Aufschwung. Wie jeder dieser Aufschwünge (1. Kondratieff: Textilindustrie; 2. Kondratieff: Eisenindustrie inklusive Eisenbahn; 3. Kondratieff: Stahl & Konsumgüterindustrie; 4. Kondratieff: Automobil) verdankt sich auch dieser einen neuen Leitbranch: Informations- und Biotechnologien kennzeichnen den, wenn Andrea Komlosy folgen will, 5. Kondratieff-Zyklus. Dazu kommt in den 1990er Jahren auch eine Ausweitung der Märkte für die Zentralräume und ihre Global Players. Die USA schaffen diese direkt im Angriff auf arabische und später islamische Integrationsräume (Irakkrieg), die Europäische Gemeinschaft greift nach Osteuropa aus, um Absatzmärkte ihrer Unternehmen zu vergrößern (vollständige Übernahmen der wichtigsten Branchen) und potentielle Konkurrenten am Weltmarkt zu beseitigen (z.B. tschechoslowakische und polnische Rüstungsindustrie). Der Zusammenbruch des RGW/Warschauer Pakt-Raumes im Juni 1991 ist vor diesem Hintergrund mitnichten nur aus internen Faktoren heraus erklärbar. Militärische und ökonomische äußere Faktoren sind dafür wesentlich mitverantwortlich. Allein die NATO-Aufrüstung unter Ronald Reagan Anfang der 1980er Jahre pumpte Milliarden-Beträge (als staatliche Nachfrage) in den militärisch-industriellen Komplex, um die Sowjetunion tot zu rüsten und gleichzeitig die Entkolonisierung in der „Dritten Welt“ für expansives westlicher Kapital (anstelle der sowjetischen Einflusszonen) nutzbar zu machen.

Jenseits der geopolitischen wirtschaftlichen Expansionsstrategie wurden bereits Mitte der 1980er Jahre soziale Bewegungen/Akteure in den Zentren zurückgedrängt, mit der Folge, dass sie von der neuen Aufschwungphase nicht profitieren konnten. Vorbildlich gelang dies dem Thatcherismus in Großbritannien, paradigmatisch mit der Zerschlagung der britischen Bergarbeitergewerkschaft.

Zusätzlich zu den Konjunktur- bzw. Akkumulationszyklen konnte man in den vergangenen zwei Jahrhunderten auch sogenannte 100-jährige Hegemonialzyklen beobachten, deren britischer (in Konkurrenz zu Frankreich, zuvor zu den Niederlanden) Ende des 18. Jahrhunderts mit der Industriellen Revolution seinen Ausgang nahm und im Ersten Weltkrieg zerstob, gefolgt vom US-amerikanischen, den man mit dem New Deal der 1920er Jahren starten lassen könnte. Seither wurde das „amerikanische Jahrhundert“ schon mehrmals totgesagt; zuerst vor dem 1. Irakkrieg Ende der 1980er Jahre, dann nach dem Fallen der zwei Türme des World Trade Centers und nun anlässlich der Weltwirtschaftskrise 2007ff. Und tatsächlich mehren sich die Anzeichen eines Hegemoniewandels von den USA in Richtung Südostasien.

China treibt seit Mitte der 1980er Jahre mit seiner staatlich angetriebenen Produktivität alle anderen Konkurrenten vor sich her. Chinas Wachstum ist mehr oder minder direkt für die Expansionspläne mit ihrer erhöhter Akkumulationsfähigkeit sowohl der USA (Kriege im Zweistromland, Nahen Osten, Afghanistan) wie der EU (Erweiterung gegen Osten) verantwortlich. Solange allerdings die USA es verstehen, die Produktivität Chinas mittels der eigenen (US-Dollar-)Notenpresse auszugleichen und China keinen Weg findet, wertlose Papiere (US-Dollar) substantiell zu kompensieren, um in seiner Exportstrategie nicht auf einem Billionenhaufen von Dollarschulden sitzen zu bleiben, ist ein Hegemoniewechsel – und vor allem der Wechsel des Wie in der Hegemoniefrage – nicht vollführt.

Aufschwung ohne Sozialpolitik

Die vergangene 4. Kondratieff-A-Phase (1945/48 – 1970/73), die den Aufschwung nach den massiven Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ausgezeichnet hat, kann in zweifacher Hinsicht – sowohl was die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die geopolitischen Begleiterscheinungen betrifft – als anomalisch bezeichnet werden. Zum einen war das Destruktionspotential von Wehrmacht und Alliierten dermaßen enorm, dass für neue Investitionen schier grenzenlose Möglichkeiten existierten, Märkte waren vollkommen geräumt und mussten überhaupt erst wieder planmäßig geschaffen werden (Ziehungsrechte und Counterpart-Fonds als Triebkräfte des Marshallplans), Konkurrenz schien für Jahrzehnte kein nennenswerter Faktor. Zum anderen gab es jenseits des Eisernen Vorhanges zumindest verteilungsmäßig gesehen eine vollständig andere sozio-ökonomische Rationalität, die keine kapitalistische war und indirekt Druck auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Westeuropa und dem Trikont ausübte. Diese beiden Faktoren haben im größten Teil Europas (West wie Ost) seit 1945 eine Generation heranwachsen lassen, die die dem Kapitalismus inhärente Brutalität von Verwertung nicht kennengelernt hat. Im Osten nicht, weil dort eine andere, egalitärere Art von Verteilung vorherrschte, und im Westen nicht, weil soziale Partnerschaften Produzenten und Intellektuelle in das System kooptiert haben.

Die Aufschwungphase (A-Phase) seit 1989/91, die bis zu ihrer ersten manifesten Krise 2007ff fast 20 Jahre gedauert hat, ist jedenfalls weitgehend ohne vergleichbare soziale Integration (möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft) ausgekommen. Bis zu ihrem Zusammenbruch scheint sich diese Tendenz noch zu verstärken.

Welches revolutionäre Subjekt?

Eine soziale Antwort auf die aktuelle Krise muss nicht notwendiger Weise links sein, wie auch die Geschichte der 1930er Jahre eindrucksvoll und schmerzhaft gezeigt hat. Immanuel Wallerstein weist in seinem Buch „Utopistik“ darauf hin, dass jenseits kapitalistischer Verwertungsrationalität nicht nur emanzipative Logik, sondern auch fundamentalistische (rechte, religiöse) Antworten gefunden werden. Inwieweit diese unsere Zukunft bestimmen, ist Teil auch unserer Verantwortung.

Soziale Aufbruchstimmungen existieren zur Zeit in verschiedenerlei Hinsicht und in unterschiedlichen Weltregionen. Am heftigsten und hoffnungsvollsten ist von sozialem Aufbruch dort etwas zu bemerken, wo sich antiimperialistische Bewegung mit religiösen Heilserwartungen und sozialem Engagement paart, mithin beispielhaft im Libanon und überall dort in der islamischen Welt, wo sich Unterstützergruppen gegen die imperialistischen Überfälle konstituieren, gesellschaftlichen Einfluss gewinnen und gleichzeitig in der Lage sind, soziale Politik betreiben zu können, somit gesellschaftlich aktiv und nicht nur reaktiv (im Abwehrkampf gegen einen imperialistischen Angriff) tätig sind. Die Verweigerung einer durch und durch kommodifizierten Gesellschaft durch diese Gruppen bietet für Linke im Westen Anhaltspunkte für eine kritische Solidarität, die religiös dominierte Weltsicht mit ihren gesellschaftlich transzendierenden, rückwärtsgewandten Heilsversprechen erstickt selbige im Keim.

Sozialer Aufbruch kann auch dort bemerkt werden, wo sich nationale Kämpfe mit antiimperialistischer Rhetorik bzw. Praxis sowie sozialem Engagement für gesellschaftlich Schwächere paaren. Dies war (und ist teilweise noch) am Balkan zu beobachten, in Belarus, aber auch in Lateinamerika (besonders stark in Bolivien, auch in Venezuela) sowie an anderen Plätzen dieser Welt. Solange die nationale Frage souveränistisch diskutiert wird und nicht vordringlich andere ausschließend, können solche Bewegungen mit linker Solidarität rechnen, die Gefahr einer exklusiven Betrachtung der eigenen Nation, somit einer Erhöhung derselben gegenüber anderen bleibt indes bestehen, womit sich linke Solidarität ad absurdum führen würde. In diesem Sinne sind Nationalbewegungen potentiell rückwärtsgewandt, solange sie die soziale Frage (mit ihren ökonomischen Grundlagen) nicht als übergeordnet begreifen.

Antikapitalistische Praxis ist zunehmend auch in den Zentren zu beobachten, genauer: in den suburbanen und vorstädtischen Milieus von Metropolen wie Paris, Athen, Rom. Subalterne, migrantische Identität und/oder schiere Zukunftsangst von Jugendlichen der Staatsnation reagieren auf exekutive Brutalität, indem sie das staatliche Gewaltmonopol – zumindest kurzfristig – außer Kraft setzen. Sozio-ökonomisch könnte man derlei Unruhen unter der Rubrik „IWF-riots“ einreihen, Sympathie für diese Art von Protest müsste allerdings auch dessen Mangel an theoretischer Grundlage und gesellschaftlicher Perspektive reflektieren. So wie sich die widerständigsten Teile der Unterprivilegierten in den Vorstädten zur Zeit gerieren, sind sie eher als Tumult oder Protest denn als soziale Bewegung einzuschätzen.

Bleiben eher theoretische linke Strömungen, die von der Erkenntnis ausgehen, dass sich die soziale Frage in Fundamentalismen und Ethnisierungen spiegelt, die deshalb unter bestimmten Bedingungen Ausgangspunkte für eine emanzipative Politik sein können. Starke Gegenkräfte versuchen gerade eine solche Entwicklung zu verhindern, indem demokratische Elemente in den einzelnen Gesellschaften immer mehr ausgehöhlt werden. Der Diktatur des Kapitals könnte auf diesem Wege die politische Diktatur folgen. Auch im Wertediskurs (sinnentleerte Positivsetzung von medien- und parteiabhängigem Parlamentarismus, angeblichem Kulturliberalismus, (arbeits-)marktbestimmter Multikulturalität und wirtschaftlichem Wachstum) der kooptierten ehemaligen linken Avantgarde sind derartige Muster angelegt.

Die Linke ist aufgefordert, derlei Tabus nicht nur nicht zu beachten, sondern zu durchbrechen. Dies ist schon deshalb nötig, um den in Jahrzehnten aufgebauten Graben zwischen linkem Theoretisieren und Überlebenspraxis der Unterprivilegierten zu überbrücken, was eine wesentliche Voraussetzung für linke Praxis darstellt.

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