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Wieder Tote in Tunesien: Das Regime schlägt nach Atempause zurück

Ende der Romantik im Arabischen Raum


27. Februar 2011
Antiimperialistische Koordination

Fast zeitgleich zur Räumung des Kairoer Tahrir-Platzes Freitagabend, 25. Februar, räumten die Sicherheitskräfte und die Armee des tunesischen Regimes die Kundgebung vor dem Regierungssitz am Qasba-Platz in Tunis. Ein großes Polizeiaufgebot griff die hunderttausend friedlichen Demonstranten an und brachte sie auseinander. Es gab einen Toten und mehr als 100 Verletzte. Am folgenden Tag wurden beim erneuten Ausbrechen der Proteste weitere drei Personen von der Polizei ermordet. In einer neuen Verhaftungswelle wurden über 100 Aktivisten von den Sicherheitskräften verschleppt. Das Regime in Tunesien hat offensichtlich Atem eingeholt und schlägt zurück. Mitten in diesem Wirbel trat am 27. Februar Ghanouchi selbst als Premierminister zurück!


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Kein Teilnehmer oder Sympathisant der Demokratiebewegung in Tunesien machte sich die Illusion, dass das Regime nach dem Abgang Ben Alis ansatzweise zu politischer und wirtschaftlicher Reform bereit ist. Die Armee hat die Massenbewegung daran gehindert, den staatlichen Apparat völlig zu zerlegen. Die niedergeschlagenen Sicherheitskräfte Ben Alis wandelten sich in Plünderer und Mörder um, um durch Terror ein Bedürfnis nach „Stabilität“ und „Sicherheit“ zu kreieren. Kaum saß die umbenannte Partei des Regimes mit der alten domestizierten „Opposition“ wieder in der Regierung, zogen die Verbrecher wieder die Uniformen an und schossen als Polizisten in die Menge.

Die Dauerkundgebung vor dem Regierungssitz fordert den Rücktritt der Regierung von Ghanouchi und eine Übergangsregierung aus den repräsentativen Volkskräften, die Bildung einer neuen konstitutionellen Versammlung und ein demokratisches System. Die Demonstration am Freitag war mit hunderttausend Teilnehmern die größte seit dem Abgang Ben Alis. Auch in der Stadt Qasrein, 200 km westlich von Tunis kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften des Regimes, die am Samstagabend wieder in Plünderungen und Zerstörungsaktionen in Zivil übergangen ist. Seit Freitag sendet das tunesische Staatsfernsehen aufgrund eines Redaktionsstreiks keine Nachrichten mehr. Die Nachrichtenredaktion fordert den Rücktritt des Generaldirektors Baschir Hamidi und eine demokratischere Redaktionslinie.

Die Regierung Ghanouchis weigerte sich, den von den unterschiedlichen Oppositionskräften gebildeten „Rat zur Verteidigung der Revolution“ anzuerkennen und betrachtet diesen als eine Provokation. Dass Mohammad Ghanouchi aus der Partei des Regimes ausgetreten ist und sich als ein „Unabhängiger“ ausgibt, kann die Opposition als eine Beleidigung ihrer Intelligenz sehen.
Denn die Partei des Regimes kontrolliert nach wie vor den Staatsapparat und führt die Sicherheitsapparate. Keiner der Verantwortlichen für die Morde und Folter ist zur Rechenschaft gezogen. Hingegen verspricht die Regierung neue Wahlen im Juli, ohne auf Details über die Bedingungen einzugehen. Als Antwort auf die Dauerkundgebung der Opposition verhängte das Regime eine nächtliche Ausgangssperre, um einen gesetzlichen Vorwand für den Angriff auf die Demonstranten zu schaffen. Das Selbe machte zeitgleich die ägyptische Armee in ihrem Angriff auf die Demonstranten am Tahrir-Platz.
Am Sonntag 27. Februar trat Premierminister Mohammad Ghanouchi zurück. In seiner Rücktrittsrede betonte er, dass er „kein Interesse hat, für Maßnahmen verantwortlich zu sein, die zu Blutvergießen führen“. Interessanterweise schloss sich Ghanouchi bei einer Pressekonferenz nach seinem Rücktritt der Forderung der Opposition nach für einer konstituierenden Versammlung an!

Das deutet auf den Druck hin, der vom Apparat des Regimes ausgeübt wird, dessen Macht dem Premierminister übergeordnet ist.

Das tunesische Regime erhielt von seinen westlichen Partner nicht nur politischen Rückenwind, sondern auch genug Munition und Repressionsgeräte, um gegen die Massenbewegung vorzugehen. Da Ben Ali weg ist, können die westlichen Regierungen ihre Unterstützung des Regimes vertreten und seinen „Willen zur Demokratisierung“ glaubhaft darstellen. Hier ist es leicht, ein verhasstes Gesicht auszutauschen. Es gibt schlussendlich einen anderen Schurken, wo USA und Europa die Demokraten spielen können: Libyen.

Während die Medien auf Libyen konzentriert sind, versuchen die Regime in Ägypten und Tunesien zurückzuschlagen. Die Romantik der Stunde, die auch große Teile der bürgerlichen Kräfte auf die Straßen trieb, wurde durch das Blutbad in Libyen beendet. Man hat gesehen, wozu ein Regime in Bedrängnis in der Lage ist. Die bürgerlichen Kräfte tendieren zu mehr Kompromissen und sind bereit, die Unterschichten und die radikaleren Kräfte in der Konfrontation alleine zu lassen.

Die nächste Etappe der Konfrontation in Tunesien scheint blutiger und verbitterter zu sein als die erste, die mit der Flucht von Ben Ali endete. Diesmal ist die Opposition in Organisationen, Gewerkschaften und Parteien konsolidiert. Das Regime steht zwar mehr mit der Rücken zur Wand, genießt jedoch mehr westliche Unterstützung und zieht Vorteile aus der Lage in Libyen. Es erhofft sich auch eine Spaltung der Opposition auf der Basis von Säkularismus versus Religion, sowie auf der Basis der Kompromissbereitschaft der Bürger.

Wie in Ägypten ist die Opposition auch über die Position zu den lokalen sozialen Kämpfen gespalten. Die eine Seite sieht diese als eine Radikalisierung der Bewegung, während die andere die Streiks als einen Versuch des Regimes sieht, vom politischen Zentralthema abzulenken und die Konzessionen dort zu machen, wo es weniger an Macht kostet.
Wie sich der Rücktritt Ghanouchis auf die Entwicklungen in Tunesien auswirkt, ist noch offen. Klar ist nur, dass das Regime in Tunesien wie alle anderen Regime der Region seine Macht nicht kampflos aufgeben wird und, ebenso wie sein Nachbar, zu einem Blutbad bereit ist.

Es ist fraglich, inwiefern der Westen und seine Regime durch Zuckerbrot und Peitsche die Massenbewegung aufhalten können. Der Prozess, der durch diese Bewegung ausgelöst wurde, hat die politischen Verhältnissen in den arabischen Ländern und die Psyche der Menschen tiefer verändert, als sich die optimistischste Befreiungsbewegung erträumen konnte.

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