Vorveröffentlichung eines Artikels, der in Kürze in Intifada Nr. 33 erscheinen wird:>
Drôle de révolution?>
Eigenartige Revolutionen, bei denen Millionenmassen ein paar Wochen friedlich auf die Straße gegen und den Tyrannen damit in die Knie zwingen. Wo es keine konsolidierte(n) politische(n) Führung(en) gibt. Wo verwestlichte Mittelschicht-Facebook-Hacker eine milliardenschwere prowestliche Oligarchie das Fürchten lehren.
So oder ähnlich will unsere Medienmaschine die arabische Revolution lesen. Und damit ist sie nicht allein. Auch Teile der Akteure selbst gefallen sich in dieser Rolle oder glauben wirklich, das Rad der Politik neu erfunden zu haben.
Erfahrenen Medienkritikern kann man wiederum die Skepsis nicht verdenken. Wie kann es sein, dass noch vor kurzem verhätschelte und hochgelobte Präsidenten so schnell in Ungnade fallen, so dass Sarkozy seinen alten Freund Ben Ali auf einmal nicht mehr kennen will und er nicht nach Frankreich ins Exil darf, sondern nach Saudiarabien muss. Handelt es sich etwa doch um eine farbige Revolution nach osteuropäischem Vorbild? Zeigen nicht die libyschen Ereignisse den logischen Entwicklungsgang an? Revolutionen, die den Imperialismus anbetteln, das eigene Land anzugreifen? Das stinkt nach dem serbischen Otpor.
Tiefe Erschütterung>
Um Antworten auf die aufgeworfenen Fragen geben zu können, muss man sich den globalen und historischen Kontext vergegenwärtigen. Das ägyptische Modell (stellvertretend für alle anderen) war in mehrfacher Hinsicht völlig verbraucht:
a) Gegen den Willen der übergroßen Mehrheit kooperierte die Elite vollständig mit dem westlichen Imperialismus. Das Regime unterstützte alle Kriege der USA, verbündete sich mit Israel und half in empörender Weise bei den Verbrechen gegen die Bevölkerung Gazas. Die Reduzierung der arabisch-islamischen Führungsmacht auf einen Wurmfortsatz der Neokolonialherren musste als außerordentliche nationale Demütigung empfunden werden.
b) Kairo setzte die von Washington diktierten neoliberalen Rezepte ohne Widerrede um. Vor dem Hintergrund lobenswert guter Wirtschaftsindikatoren versank die Mehrheit der Bevölkerung in entsetzlichem Elend (die Hälfte der Ägypter muss mit unter einem Dollar pro Tag ihr Auslangen finden), die Mittelschicht sackte ab, während die Oligarchie sich ohne Scham die Taschen vollstopfte. Die Öffnung der Märkte zerstörte die Eigenversorgung mit Lebensmitteln. Die Schwankungen der Weltmarktpreise schlugen damit unmittelbar und ungedämpft durch, da auch die Preisstützungen radikal gekürzt wurden.
c) Macht und Reichtum konzentrierte sich in einer dem Volk durch nichts verpflichteten Oligarchie, die mittels eines grausamen und willkürlichen Polizeistaates herrschte. Symbol dafür war der bereits drei Jahrzehnte währende Ausnahmezustand, der damit zur Regel wurde.
Weder das Volk noch die Oligarchie konnten so weitermachen wie bisher. Schließlich war es der tunesische Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Praktisch vier Jahrzehnte, zwei Generationen lang, hatte sich die historische Opposition aufgerieben, war in den Gefängnissen verschwunden, gefoltert, marginalisiert worden. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die Revolte keine wohl organisierte politische Führung aufweist, sondern Facebook-Revolutionäre scheinbar die erste Geige spielen können. Bei näherem Hinsehen wird man erkennen, dass dieses plausibel wirkende Bild nicht ganz stimmt. Man kann für Ägypten grob folgende politische Strömungen in der Bewegung ausmachen:
a) In Form von Kifaya („Genug“) hatten die Reste der Linken die letzten Jahre in erster Reihe und mit großen Opfern ihre Stimme gegen das Regime erhoben und den Boden für die Revolte bereitet. Dieses Milieu war und ist tonangebend, selbst wenn es zu schwach ist, die Bewegung zu kontrollieren.
b) Eine linksliberale, gebildete, verwestlichte Mittelstandsjugend, repräsentiert von Wael Ghonim, dem gehypten Google-Manager.
c) Die traditionelle, bürgerliche und liberale Opposition, die mit dem Regime kooperierte, aber angesichts der veränderten Rahmenbedingungen die Massenbewegung nutzen will. Mohammed el-Baradei versucht, sich als einer ihrer Führer aufzuschwingen.
d) Die Muslimbrüder, die stärkste und am besten organisierte Kraft der Opposition. Sie war unter Mubarak mehr schlecht als recht geduldet, wurde aber vom Regime gegenüber der Linken als kleineres Übel angesehen.
e) Eine Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die bisher durch die Repression am Vorstoßen ins politische Feld gehindert worden war und so nur über lose Anknüpfungspunkte mit der Linken verfügt.
In diesem Szenario kann man die bisherigen Ereignisse nur als erste Eruption einer viel größeren Krise betrachten. Kaum eine der Forderungen der in Bewegung gekommenen Massen wurden bisher erfüllt, nicht einmal alle politischen Gefangenen befreit. Die sozialen Probleme sind allgegenwärtig und harren dringen einer Lösung. Doch was sich tatsächlich geändert hat, ist, dass der Bleideckel der Diktatur weggesprengt wurde, dass man es nun wagen kann, auf die Straße zu gehen, seine Interessen zu artikulieren. Die gesellschaftlichen Widersprüche liegen endlich blank. Nichts kann die Funken mehr hindern, sie zu entzünden, selbst wenn es Anhänger des Modells der farbigen Revolutionen gegeben haben mag (insbesondere unter der gebildeten Mittelschicht). Sie können den sich entfaltenden Konflikt zwischen den verarmten Massen und der proimperialistischen, kapitalistischen Oligarchie nicht aufhalten. Wir stehen in der arabischen Welt am Beginn einer tiefgreifenden und langen Veränderung als Teil eines globalen Prozesses mit heftigen und auch bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen und imperialistischen Interventionen. Sein Ausgang ist ungewiss, doch eines ist sicher: Das System Mubarak ohne Mubarak ist nicht zu halten. Es bedurfte des Potentaten, ohne ihn funktioniert das System nicht.
Manifestation der Krise des globalen Herrschaftssystems>
Wir haben die Etappen der Krise der Hegemonie des Westens und seines Zentrums, der USA, Schritt für Schritt kommentiert,[fn]Siehe www.intifada.at, zuletzt:
Wilhelm Langthaler: Peolple‘s Power versus Islamofaschismus?, Der Kampf in Teheran spitzt sich zu. In: Intifada 30.
Wilhelm Langthaler: Aufziehender Sturm. Rettet China den Kapitalismus?. In: Intifada 30.[/fn] von der goldenen Periode Clintons über die neokonservative Hybris der Omnipotenz bis hin zum Kollaps des permanenten Krieges im Irak. Damit verquickt sind der kometenhafte Aufstieg Chinas im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung und die Weltwirtschaftskrise, deren grundlegende Ursachen noch keineswegs überwunden[fn]Wilhelm Langthaler: QE2: Feuer am Dach. Globalisierung am Ende? November 2010.[/fn] sind. Obama kommt nun die unrühmliche Aufgabe der Schadensbegrenzung zu, zu retten was noch von der Weltherrschaft zu retten ist, Hegemonie zurückzugewinnen.
Der kartenhausartige Zerfall der US-Architektur in Nahost, dem neuralgischen Zentrum des Weltsystems, muss als Zeichen der Schwäche gedeutet werden. Vom “Greater Middle East” kann keine Rede mehr sein. Statt eingedämmt worden zu sein, wächst der Einfluss des regionalen Hauptfeindes Iran, der sich auf die eine oder andere Weise mit Widerstandsbewegungen von unten verbunden hat. Der NATO-Staat Türkei schert zunehmend aus. Und nun stürzt auch noch der Kern der proamerikanischen Despotie in Arabien, der moderne Pharao am Nil. Auch wenn das Regime noch nicht entfernt wurde, wird es doch gezwungen sein, die Wünsche der Massen stärker zu reflektieren. Die extrem proimperialistischen Positionen – symbolisiert durch die Abschottung des Gaza-Streifens – werden eher früher als später gedämpft werden müssen. Eine türkische Entwicklung kann dabei für die USA noch als günstigste Variante angesehen werden. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Umbrüche auch den Öl-Golf erreichen, was nicht ausgeschlossen ist. Selbst wenn das nicht eintritt, könnten die Golf-Diktaturen doch stärker isoliert und ihr Einfluss zurückgedrängt werden.
Klar, dass die Schwächung des Systems auch mit der Sackgasse der neoliberalen Rezepte und der wirtschaftlichen Probleme des westlichen Zentrums zu tun hat.
Die Umbrüche in der arabischen Welt treiben die Tendenz zum Multipolarismus, die wir zumindest seit dem Scheitern des Irak-Abenteuers beobachten, weiter an.
Zauberwort Demokratie
Der neokonservative Export der Demokratie in den Irak erwies sich als politisch sehr kostspielig. Der amerikanische Verlust von Prestige und Hegemonie war enorm. Obamas Politik zielt nun darauf ab, den demokratischen Anspruch, mit dem die „Neue Weltordnung“ von Bush senior begründet wurde, wieder glaubhaft zu machen.
In diesem Sinn stellte es sich für Washington als unmöglich dar, sich frontal gegen die Massenbewegungen zu stellen, zumal diese den Westen fast vor geschaffene Tatsachen stellten. Man trat den geordneten Rückzug an und versuchte, möglichst viel vom alten Regime zu erhalten, Kontinuität zu wahren. Dies erscheint auch deswegen als machbar, weil die Bewegungen keine radikalen und wohl artikulierten Führungen haben. Man rechnet sich aus, dass sie beherrschbar, domestizierbar bleiben. Bahrain, Oman und die anderen Verbündeten am Golf hält man an, möglichst liberale Reformen zu unternehmen. Die ungeschminkt reaktionäre Konterrevolution kann unter den heutigen Bedingungen vom Westen nicht offen unterstützt werden. Das würde den Einflussverlust der USA und des Westens nur beschleunigen.
Die Umarmung der arabischen Bewegung durch die europäischen Medien darf man nur bedingt ernst nehmen. Im selbstgefälligen Abfeiern der westlichen Werte, der Demokratie, übersieht man geflissentlich, dass es die eigenen Diktaturen waren, an denen da gerüttelt wird. Man schreibt sich die Revolutionen schön als samtene, farbige, im festen Vertrauen, dass diese blöden Araber nun doch endlich der kulturelle Überlegenheit Europas akzeptieren werden. Wenn nicht, kann man ja leicht die Linie ändern, denn der Medienkonsument ist geschichtslos.
Es ist abzusehen, dass der Westen und seine Regimemedien jene Kräfte, die für “regime change” kämpfen, mit Gift überschütten wird, während die „wahre Demokratie“ die Interessen der kapitalistischen Eliten nicht einschränken darf.
Libysches Geschenk
Szenenwechsel: Die Führung der Revolte von Bengasi bittet den Westen um eine Militärintervention. Nach 150 Jahren (Neo)kolonialismus bedürfen die Araber eben dieser Neokolonialisten, um sich einen Despoten vom Hals zu schaffen. Etwas Besseres konnte dem Westen gar nicht zustoßen, zumal man sich gerade eben noch als Freund der Potentaten diskreditiert hatte. Man ist geneigt anzunehmen, dass da entsprechend kräftig nachgeholfen wurde.
Auch an den libyschen Ereignissen kann man ablesen, wie wirkungsvoll das westliche Ideologem von der Demokratie ist. Imperialistische Interessen sind am besten verkaufbar, wenn sie getarnt als Demokratie, Menschenrechte, Humanitarismus etc. auftreten. Der Verlust dieses ideologischen Instruments, wie es unter Bush junior passierte, kann durch militärische Macht nicht ausgeglichen oder wettgemacht werden.
Vergegenwärtigt man sich die Unterstützer der Intervention in der arabischen Welt, dann finden sich neben den üblichen Verdächtigen, wie die westliche Exilopposition, ein paar Neoliberale sowie diverses Monarchistengeschmeiß, vor allem die Muslimbrüder und der über verschiedene Fäden mit ihnen verbundene katarischen Sender al-Jazira. Was noch vor nicht allzu langer Zeit als große Gefahr gehandelt wurde (eine Machtübernahme der Muslimbrüder am Nil – nicht auszudenken; Bestrafung von al-Jazira durch Bombardements im Irak und Afghanistan), erweist sich nun unverhofft als wertvolle Stütze. In Ägypten selbst beteiligten sich die Muslimbrüder erst an der Bewegung, als sie nicht mehr aufzuhalten war. Die Signale sind vernehmbar, dass sie bereit wären, das alt-neue Regime zu unterstützen, natürlich zu Bedingungen, aber dennoch um einen bezahlbaren und akzeptablen Preis. Es geht letztlich darum, die noch größere Gefahr von links, das heißt von unten, von den armen Klassen, hintanzuhalten. Dazu sind ausschließlich die Muslimbrüder in der Lage. Ob ihr Angebot angenommen wird, lässt sich indes noch nicht absehen.
In Libyen selbst ist es die politische Unterentwicklung, die Inexistenz einer linken Opposition, die eine solche Degeneration eines Volksaufstandes möglich macht. Die mit Sicherheit vorhandene antiimperialistische Stimmung vermag sich keinen adäquaten politischen Ausdruck zu verleihen. Die prowestliche Exilopposition konnte die Revolte praktisch im Handstreich zu übernehmen. Das darf gleichzeitig als Maß dafür genommen werden, welches politische Desaster der Revolutions- und Business-Clown Muammar Gaddhafi angerichtet hat.
Indes macht die westliche Intervention einen kopf- und richtungslosen Eindruck. Die Bombardements aus der Luft können Gaddhafi vermutlich nicht zum Aufgeben bewegen. Genauso wenig werden das die Rebellen ihrer Majestät in Bengasi tun. Monate des Konflikts oder gar des Bürgerkriegs stehen bevor, während der Westen nur zu sehr hohen Kosten eingreifen wird können. À la longue tendieren Militäraktionen jedenfalls dazu, Widerstand hervorzurufen, selbst wenn sie in einem ersten Moment der Benommenheit mit einem guten Schuss medialer Inszenierung willkommen geheißen wurden. Jeder erinnert sich an die Jubeliraker, die von CNN & Co wochenlang auf- und abgespielt wurden, bis nach wenigen Wochen der Lärm der Bomben des Widerstands dieses Narrativ zum Schweigen brachte.
Was in Libyen passiert, mag nur ein kleiner Vorgeschmack davon sein, was sich in Syrien ereignen könnte, denn Damaskus ist das einzige Regime der arabischen Welt, das noch gewisse antiimperialistische Momente aufweist. Doch der legitime Protest des Volkes wird kommen und die Assads kräftig durchrütteln. Im Gegensatz zu Ägypten kann man als sicher annehmen, dass der Westen dem Damaszener Despoten nicht zur Hilfe eilen, sondern im Gegenteil versuchen wird, die Bewegung oder zumindest einen Teil ihrer zu instrumentalisieren. Hoffen wir, dass sie auch einen antiimperialistischen Flügel herausbildet – wozu die historischen Vorbedingungen in Syrien jedenfalls viel günstiger sind als in Libyen.
Islamische Welle am Ende?
Was in den arabischen Revolutionen auffällt, ist die Funkstille von islamischer Seite. So sorgfällig baute man sich sein Feindbild auf. Wo ist der Lieblingsfeind geblieben? Al-Qaida? Wie kann das interpretiert werden?
Das salafitische Milieu neben den Muslimbrüdern lehnt die demokratische Volksbewegung mehrheitlich ab und tendiert dazu, Mubarak und seine Nachfolger zu unterstützen. Bei jenen in der Nähe zu Saudiarabien – und das sind in unterschiedlichen Abstufungen nicht wenige – wundert das nicht weiter. Sie sind zu offenen Feinden der Massen geworden. Diejenigen, die sich für den bewaffneten Kampf gegen die Regime entschieden – Ägypten ist in einem gewissen Sinn eine Wiege der Bewegung –, bleiben verdammt still und damit impotent. Sie können weder das eine noch das andere gutheißen.
Der militante Salafismus (im Westen läuft das gemeinhin unter den Namen al-Qaida) kann als fortgesetzter Widerstand gegen die proimperialistischen Regime unter den Bedingungen der extremen Schwäche und der Passivität der Massen interpretiert werden. Ideologisches Sektierertum verbindet sich mit abenteuerlichem Militarismus.
Einzig in Afghanistan erwies sich dieses Rezept als massentauglich. Einerseits ist da die westliche Besatzung, die Anschläge zu einem bewaffneten Volkswiderstand wachsen ließ. Andererseits ist dort die Stammeskultur, die mit einer rigiden Auslegung des Islam teilweise Deckung zeigt. Man hört, dass die Taliban auch eine gewisse Flexibilität gegenüber dieser Kultur an den Tag legen.
Im Gegensatz dazu führte das Sektierertum des militanten Salafismus ihn im Rahmen des irakischen Widerstands – ebenfalls einer Volksbewegung – in sein schlimmstes Fiasko[fn]Wilhelm Langthaler: Halbe-halbe. Über Obamas Abzug aus dem Irak, der keiner ist, und halbe Niederlagen. Intifada 32[/fn] überhaupt.
Nun aber treten abermals die Massen auf die Bühne der Geschichte, inspiriert von demokratischen Rechten und angetrieben von einer überlebenden, wenn auch marginalisierten Linken. Und sie erzielen Teilerfolge, die sich niemand hätte träumen lassen. Das spornt die Massen zu weiterem Handeln an, während es die klandestinen, verschwörerischen und sektiererischen Konzepte der militanten Salafiten auf einen Schlag makuliert.
Einzig die Muslimbrüder, die den Massen näher sind, vermögen darauf zu reagieren und sich in die Bewegung einzugliedern. Doch die unweigerliche Politisierung ihrer Basis betrachten sie mit Argwohn. Wochenlang verbrachten ihre Anhänger die Tage und Nächte auf dem Tahrir-Platz, kämpften und diskutierten gemeinsam mit der Linken. Die kulturelle Absonderung, die Geschlechtertrennung, der Ausschluss der Kopten, die autoritäre Führungsstruktur, das soziale Kastenwesen (bei den Muslimbrüdern haben Ingenieure, Ärzte, Professoren usw. das alleinige Sagen), alles das wird der islamisch geprägten, kämpfenden Jugend zu denken geben. So tendieren die Muslimbrüder zum Kompromiss mit dem Regime. Wenn die Generäle nicht ideologisch verblendet sind, werden sie das islamische Angebot zu ihrer Rettung annehmen. Die Kooperation beim Verfassungsreferendum vom 19. März 2011, als Regime und Muslimbrüder die Bewegung mit einigen kosmetischen Änderungen an der Verfassung stoppen wollen, legt davon Zeugnis ab.
Damit soll nicht gesagt werden, dass die islamische Bewegung am Ende sei, aber sie hat die Führung des Widerstands nun abgegeben. Ob dies dauerhaft oder vorübergehend ist, hängt von den Erfolgen der Bewegung auch über Ägypten hinaus ab. Die moderaten, angepassten Salafiten von Schlag der Muslimbrüder muss man als wichtigste Bremse der Bewegung im Volk selbst verstehen. Revolutionäre Politik besteht heute darin, den Widerspruch in ihrem Inneren zu vertiefen, ihre Anhänger in den armen Klassen, die nach demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit streben, einzubinden, und von der elitären Führung, die mit dem Regime kooperiert, zu trennen. Ansätze dieser Differenzierung gab es bereits vor der Revolte, die diese massiv vertiefen wird. Die schweren Bataillone der Armut in den Elendsvierteln von Kairo und anderen Zentren bleiben jedenfalls fest islamisch. Sie zu mobilisieren ist für eine wirkliche Revolution unerlässlich.
Die Situation kann verglichen werden mit der versuchten Einheitsfrontpolitik der Kommunisten gegenüber den Sozialdemokraten, um gemeinsam gegen den Faschismus anzutreten.
Dabei darf man nicht vergessen, dass die Eliten noch über eine starke Waffe verfügen: den Konfessionalismus, das religiöse Sektierertum. Seine verheerende Wirkung sahen wir im Irak. Aber auch Mubarak spielte gekonnt auf dem islamisch-koptischen Gegensatz. Die Kräfte des alten Regimes werden hier weitermachen.
Verfassungsgebende Versammlung
Der radikale Flügel der revolutionären Bewegungen, insbesondere in Tunesien, aber auch in Ägypten, hat sich eine zentrale Forderung auf die Fahne geschrieben: die konstituierende Nationalversammlung. Denn sie wollen das angestrebte Selbstrecycling der alten Regime nicht akzeptieren. Die Militärs, die ihre Diktatoren im letzten Moment fallen ließen, sprechen gerne von Reformen und einer neuen Verfassung. Sie sind bestrebt, die Massen damit zu täuschen und so viel als möglich beim Alten zu belassen.
Das war auch der Sinn des eilig abgehaltenen, aber von den sensationsgeilen Medien wenig beachteten Verfassungsreferendums in Ägypten. Man ließ über kleinere, ja kosmetische Änderungen abstimmen, die man billig als Schritt zur Demokratie feiern konnte. Die Machthaber wollen es am liebsten damit schon wieder bewenden lassen. Ein kluger Schachzug, denn wer kann sich gegen demokratische Reformen wenden, seien es auch noch so kleine Reförmchen? Nur die Linke und – die Christen. Denn diesen ist aus verständlichen Gründen der Islam als Staatsreligion, wie von Sadat festgeschrieben, ein Dorn im Auge.
Wie man am ägyptischen Beispiel sieht, bedeutet eine neue Verfassung recht wenig. Viel wichtiger ist, wer sie erstellt und wie sie erstellt wird. Die verfassungsgebende Versammlung legt sich vorab auf keine Inhalte fest, kann also alle Kräfte vereinigen, die sich Demokratie im weitesten Sinne, in den verschiedensten möglichen Interpretationen wünschen. Die meisten islamisch inspirierten Menschen, ja auch Teile der Islamisten, können die Forderung unterstützen. Die wichtigste islamische Kraft in Tunesien, die Ennahda, tut das auch. Entscheidend wichtig ist indes der politische Prozess bis dahin. Die Massen können und müssen möglichst involviert und die Diskussionen breit geführt werden. Die Wahlen zur Versammlung müssen organisiert und kontrolliert werden, so dass Fälschungen und Manipulationen durch das alte Regime und die Oligarchie hintangehalten werden. Die Bewegung für die Konstituante kann so tendenziell die Beschränkung auf formal-demokratische Rituale aufheben, wie sie sich die alte Elite wünscht. Doch diese hat selbst vor der formalen Demokratie Angst und wird alles tun, um das Volk aus dem verfassungsgebenden Prozess auszuschließen.
Im fernen Nepal gelang es den maoistischen Kommunisten mit der Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung nicht nur, die Monarchie zu stürzen, sondern auch Mehrheiten zu erobern. Etwas, was der bewaffnete Kampf allein niemals vermocht hätte.
Selbst für Libyen ist die Forderung entscheidend, um sich einerseits gegen die Autokratie Gaddhafis und andererseits gegen die prowestlichen Usurpatoren von Bengasi durchzusetzen.
Dabei handelt es sich um kein kurzfristiges Ziel, sondern man muss von einem jahrelangen Kampf ausgehen. Und das ist gut so, denn die Bewegung steht politisch völlig am Anfang, die alten Aktivisten müssen die bleiernen Jahre der Unterdrückung verdauern, die neuen müssen Erfahrungen sammeln. Ohne konsolidierte politische Führung kann der Oligarchie, welche die ganze Macht des Imperialismus im Rücken hat, niemals die Stirn geboten werden. Ansonsten machte man die Not zur Tugend.
Noch ein wichtiger Aspekt kommt hinzu. Der gänzlich friedliche Charakter der Bewegung war unter den gegebenen Bedingungen eine Notwendigkeit, reflektiert aber gleichzeitig eine enorme Schwäche. Man ist dem guten Willen der Armee ausgeliefert. Wirkliche Revolutionen bedürfen der Bewaffnung, des Aufstands des Volkes. Teile der Armee können dann eventuell auf die Seite der Revolutionäre gezogen werden. Dazu ist es noch zu früh, aber die Notwendigkeit kann früher eintreffen als die Möglichkeit, siehe Libyen.
Und Europa?
Bisher hat die eingeschlafene antagonistische Opposition sich auch von den Ereignissen in der arabischen Welt nicht erwecken lassen. Bei unserem anfänglichen Enthusiasmus stand wie so oft der Wunsch Pate. Die Krise der Linken in Europa ist historisch, strukturell, die antagonistischen Kräfte so marginalisiert, dass sie von dem Schwung nicht zu profitieren vermögen. Wenn der Boden ausgelaugt ist, kann auch die beste Saat nicht gedeihen. Selbst der Einbruch der Wirtschaftskrise hat vorläufig noch wenig bewegt.
Sowohl die arabischen Bewegungen, die über wichtige Strecken vom überschwänglichen Status der Revolutionen zu den Mühen des zähen Widerstands zurückkehren werden, müssen sich konsolidieren, als auch die Wirtschaftskrise wiederholt und noch härter zuschlagen. Erst dann wird die Brücke zwischen der arabischen Revolution und der europäischen Opposition geschlagen werden können.
Nüchtern betrachtet befinden wir uns immer noch in der Periode eines vielfältigen und fragmentierten Widerstands gegen die von den USA monopolar geführte kapitalistische Weltordnung. Es bleibt grundlegend ein defensiver Kampf, doch die herrschende Oligarchie befindet sich vor allem Dank dieses globalen Widerstands in einer immer tieferen Krise.
Willi Langthaler
24. März 2011