„Tag des Marsches“ war der Titel der Aktionen zum Jahrestag der palästinensischen Nakba. Wie jedes Jahr wurde der Katastrophe von 1948 gedacht, bei der im Zuge der Gründung des exklusiv jüdischen Staates Israel eine Million Palästinenser in die umliegenden Länder vertrieben und Palästina von der Landkarte gelöscht wurde.
Dieses Jahr fiel das Andenken der Nakba im Geiste des Frühlings der Demokratie in der arabischen Region aus, wo überall Massenbewegungen gegen diktatorische Regime entstanden sind.
An allen Grenzen zum besetzten Palästina versammelten sich zehntausende Palästinenser und Araber zu einer politischen Kundgebung neuer Form. Die Forderungen waren nichts Geringeres als das Ende der Besatzung und der Blockaden, Freiheit für Palästina und das Rückkehrrecht der palästinensischen Vertriebenen in ihre Heimat. Im Norden sowie im Gazastreifen schoss die israelische Armee in die Menge, im Süden hinderten die Regime Jordaniens und Ägyptens die Demonstranten daran, die Grenzen zu erreichen. Im Westjordanland koordinierte die Polizei der PNA mit der israelischen Armee die Unterdrückung der Proteste. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen mit beiden Kräften.
Das Massaker an den Nordgrenzen
An der libanesischen Grenze sowie im Gazastreifen marschierten zehntausende palästinensische Flüchtlinge. Am libanesischen Grenzort Maroun-Elras versammelten sich über fünfzigtausend Menschen, vorwiegend Flüchtlinge, zu einem symbolischen Akt. Die älteren Personen trugen die Schlüssel der Häuser, aus denen sie 1948 vertrieben wurden, und übergaben diese an die Jüngeren. Die israelische Armee schoss einfach in die Menge, um die „Demonstranten abzuschrecken und sie von der Annäherung an die Grenze abzuhalten“. Zehn Tote und dutzende Verletzte waren das Ergebnis.
An den syrischen Grenzen auf den Golanhöhen gelang es Demonstranten, beim arabischen Ort Majdal Schams die Grenze zu durchbrechen und gemeinsam mit den Dorfbewohnern eine politische Kundgebung abzuhalten. Die israelische Armee deklarierte den Ort zum Militärsperrgebiet und stürmte Majdal Schams auf der Suche nach den „Eindringlingen“. Es ist noch unklar, was im Ort geschah, aber am Abend übergab die israelische Armee der syrischen Seite zehn Leichname. Über die Umstände ihrer Ermordung fehlt jegliche Information. Das war das erste Mal seit Jahrzehnten, dass die Grenze an diesem Ort durchbrochen wurde.
Jordanien: Regime setzt Schläger ein
In Jordanien hinderten die jordanischen Sicherheitskräfte die Demonstranten, an die Grenzen heranzukommen. Etwa fünfzehntausend Demonstranten versammelten sich im Ort Karama, der wenige Kilometern von der Grenze entfernt ist. Das jordanische Regime, das zuvor die Kundgebung bewilligt hatte, ließ (wie bei den Protesten der Demokratiebewegung in Amman) die Demonstranten von Schlägern in Zivil angreifen. Danach intervenierten die Uniformierten, um „Ruhe und Ordnung zu schaffen“ und lösten die Kundgebung vorzeitig auf. Durch die Angriffe der Schläger sowie den Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen der Polizei gab es ebenfalls dutzende Verletzte.
Ägypten: Heftige Auseinandersetzungen in Kairo und am Suezkanal
Ähnlich ging es in Ägypten zu, wo Hilfskarawanen nach Gaza am Suezkanal angehalten wurden. Als die Armee die Abreise vom Kairoer Tahrir-Platz nach Gaza unterbinden konnte, bewegten sich die Massen in Richtung israelische Botschaft und forderten ihre Schließung. Dem Versuch, die Botschaft zu stürmen, wurde von Armee und Polizei mit exzessiver Gewalt begegnet. Über 250 Personen wurden verletzt und es gab mehr als 100 Verhaftungen. Auf der ägyptischen Seite der Stadt Rafah demonstrierten ebenfalls zehntausend Personen in Solidarität mit Palästina. Das hohe Polizeiaufgebot hielt sie von der Grenze fern. Die Aktionen wurden von der ägyptischen Linke getragen. Die Moslemischen Brüder sowie die Salafiten hielten sich eher zurück, bevor sie sich dem Militärregime anschlossen und die Demonstranten aufforderten, die Kundgebung vor der israelischen Botschaft aufzulösen.
Gaza: mit Artillerie gegen Demonstranten
In Gaza versammelten sich zehntausende Demonstranten an den Nordgrenzen des Streifens. Aus ihren Stellungen hinter dem Grenzzaun schoss die israelische Armee Artilleriegranaten auf die Versammelten. Als die Artilleriegeschosse die Jugendlichen nicht abschrecken konnten, schossen die israelischen Soldaten in die Menge. Durch die Splitter starb der achtzehnjährige Khamis Habib. Über neunzig Personen wurden verletzt.
Westjordanland: Zeichen der „dritten Intifada“
Im Westjordanland entflammten schon am Freitag die Demonstrationen gegen die israelische Besatzung. An diesem Tag fiel in Jerusalem der 21 jährige Milad Ayyash als erster Märtyrer des Nakba-Tags. In allen Städten gab es Kundgebungen gegen die Besatzung und für das Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Die palästinensische Polizei setzte Tränengas, Gummigeschosse und Schlagstöcke ein, um die Demonstranten fern von den israelischen Militärsperren zu halten. In Orten unter direkter israelischer Kontrolle wie etwa Jerusalem und das Flüchtlingslager Qalandia kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Auch an den Nordgrenzen zum Libanon gab es Auseinandersetzungen, als die israelischen Sicherheitskräfte jüdische und arabische Aktivisten daran hinderten, zu den geplanten Kundgebungen auf der palästinensischen Seite der Grenze zu fahren. Mehrere Aktivisten wurden verhaftet.
Es ist scheint kein Zufall zu sein, dass am darauffolgenden Tag die israelische Regierung die nach der Versöhnung mit Hamas gesperrten Gelder der PNA wieder freigab. Die Gelder werden benötigt, um den aufgeblähten Apparat der PNA zu bezahlen. Die Polizei der PNA hat sich erneut als der zuverlässigste Partner der Besatzung erwiesen. Damit diese ihre Rolle weiterhin spielen kann, sind Gehälter nötig.
Die westlichen Medien als Komplizen Israels
Die deutschsprachigen Medien verschwiegen die bevorstehenden Aktionstage weitgehend. Nur die Sperrung der Facebook-Seite der „Dritten Intifada“ fanden sie erwähnenswert. Am Abend des Massakers kamen in den deutschsprachigen Medien karge Meldungen. Die Abendnachrichten des Österreichischen Rundfunks übergingen das Thema. Die spärlichen Meldungen bezogen sich ausschließlich auf israelischen Quellen. Der Ermordung von 21 Menschen durch Schüsse der israelischen Armee ist für die hiesigen Medien keine erwähnenswerte Neuigkeit. Hingegen wurde prominent über einen Autounfall in Tel Aviv berichtet, bei dem ein arabischer Lastwagenfahrer den Tod eines Israelis verursachte. Dies wurde anfangs als Attentat interpretiert. Die deutschsprachige EURONEWS überging in der ersten Berichterstattung die Verletzung von hunderten Palästinensern mit der Meldung, dass etwa hundert Palästinenser in israelischen Spitälern behandelt wurden. Es ist kaum anzunehmen, dass Palästinenser am Tag der Nakba ausschließlich deshalb demonstrieren, damit sie vom israelischen Gesundheitswesen Gebrauch machen können.
Erste politische Bilanz des 15. Mai:
1. Die Palästinenser haben wieder gezeigt, dass sie durchaus in der Lage sind, auf ihre Sache aufmerksam zu machen. Nach 63 Jahren Vertreibung, Unterdrückung, Massakern und Verrat durch die eigene Führung, bestehen die ursprünglichen Bewohner des Landes auf ihr Recht und lassen sich weder durch Drohungen noch durch Bestechung davon abhalten.
2. Die Aktion bringt dadurch die Palästina-Frage zu ihren Grundlage zurück: die Vertreibung der Palästinenser 1948 und ihr Recht auf ihr Land. Diese Positionierung geht über die sterilen Details des Alltags hinaus: die Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung, die Siedlungen, die Mauer und die Gaza-Blockade. Das befürchten die Israelis, und genau das versuchen die Medien und die Politiker im Westen zu verschweigen.
3. Die Aktionen stellen eine neue Art der politischen Artikulierung der Palästinenser und im regionalen Kontext sowie in Verbindung mit der arabischen Solidarität (vor allem Ägypten) eine qualitative Wende dar. An diesem Tag der Nakba traten die Palästinenser so vereint wie nie zuvor auf. Parteien und politische Organisationen blieben im Hintergrund und überließen das Feld den Volksinitiativen. Es ist jedoch noch offen, ob das als neue politische Form interpretiert werden kann, die über die existierenden Organisationen und die entstandenen NGOs hinaus geht.
4. Alle Seiten verhielten sich wie erwartet. Sowohl Israel als auch die arabischen Regime haben nur eine Antwort auf die Massen, nämlich exzessive Gewalt. Wie bei der Freiheitsflotille weigert sich die israelische Armee nicht, zur Abschreckung in die Menge zu schießen. Wissend, dass es weder mediale noch diplomatische Konsequenzen geben wird, kann Israel fast beliebig töten. Die arabischen Regime sind ihrerseits an keiner Eskalation interessiert und versuchen daher ebenfalls die Proteste niederzuhalten. Gegenüber beiden muss die Konsequenz gezogen werden, dass genauere politische Vorbereitungen und effizientere Medienarbeit notwendig sind.
5. Während der Aktionen hat es bei den Organisatoren sowohl an politischer als auch an medialer Infrastruktur gemangelt. Daher konnte der große Massenzulauf nur begrenzt genützt werden. Die Organisatoren konnten den Ansturm auf die Grenze weder verhindern noch leiten. Auf dieses Szenario war offensichtlich niemand vorbereitet. Keiner der Organisatoren hatte einen Plan für den Tag danach. Durch das mediale Schweigen wird die Aktion schnell in Vergessenheit geraten.
6. Für die israelische Regierung hat die Aktion gezeigt, dass die Schwäche der arabischen Staaten und der palästinensischen Bewegung nicht bedeutet, dass ein exklusiv jüdischer Staat in Palästina eines Tages zur Normalität würde. Die Palästinenser haben gezeigt, dass sie nach 63 Jahre Vertreibung auf die Rückkehr nach Palästina bestehen und sich von Ansätzen wie Palästinenserstaat im Westjordanland nicht beirren lassen. Vielmehr entwickeln sie neue Methoden und Organisationsformen, um Druck auszuüben.
7. Der Mut, mit dem die Jugendliche dem israelischen Kugelhagel begegneten, und die Leichtigkeit, mit der die Israelis töten, weist auf die zunehmende Entwertung des Menschenlebens in der Region hin. Ignoriert die Welt die passive Selbstaufopferung der Palästinenser, werden die Palästinenser aktivere, weniger pazifistische Methoden finden, um erneut auf ihre Sache aufmerksam zu machen.