17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung gibt den Startschuss für einen Aufstand, der zu erst von den Ärmsten und Benachteiligten getragen wird. Dieser Aufstand überraschte alle: das Regime, die Opposition, die Gewerkschaften. Dessen Kraft war so groß, dass sie schnell gezwungen wurden Position mit oder gegen die
Bewegung zu beziehen.
Der Letzte, der es verstand, war der Diktator Ben Ali selbst. In seiner letzten Rede am 13. Januar formulierte: ich habe euch verstanden! Am folgenden Tag verließ er unter dem Druck des Volks (und offensichtlich auch seiner Eliten) das Land, wohlgemerkt der Diktator aber nicht die Diktatur!
Der 14. Jänner bezieht seiner Wichtigkeit nicht nur aus dem Faktum, dass an diesem Tag Ben Ali stürzte, sondern vor allem weil die ganze Welt von einer „Revolution“ in Tunesien zu sprechen begann. Plötzlich „entdeckten“ sie alle, dass in Tunesien über Jahrzehnte eine Diktatur, ein korruptes System, ein Polizeistaat geherrscht hatte.
Seit 14. Januar gaben sich in Tunesien drei Regierungen die Klinke in die Hand, über 100 politische Parteien haben sich gebildet. Alle betrachten sich als pro-revolutionär. Doch die Hauptströmungen spiegeln das klassische Bild der politischen Szene in den arabischen Staaten des Postkolonialismus wider: rechtsliberal, „rechts“-islamistisch, panarabisch-sozialistisch, kommunistisch – wobei es in Tunesien aus historischen Gründen, die mit dem Regime Bourguiba zu tun haben, eine starke franco-laizistische, eine „moderate“ islamistische und eine starke kommunistische Bewegung gibt. Letztere neigt dazu, antiislamistisch zu agieren.
Seit 14. Januar hat die tunesische Revolution mehrere Wellen durchlaufen und verschiedene Etappensiege erreicht, von der Auflösung zweier Regierungen, die einige Minister vom Regime Ben Ali beinhalteten, bis zur Zusage für die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, eine Kernforderung der Sit-ins in Kasbah-Regierungsviertel aber auch der der Kommunistischen Arbeiterpartei PCOT.
Die verschiedenen Sit-ins, Demonstrationen, Bewegungen und Aktionen der Bewegungen zeigen immer, wieder dass eine politische Führung der Revolution fehlt. Denn obwohl unter dem Druck der Massen zwei Regierungen zurückgetreten mussten und viele Gesichter des alten Regims entfernt wurden, schaffen es die Revolutionäre nicht eine alternative Regierung zu etablieren.
Was als Vorschlag in der Luft liegt, ist die Regierung der nationalen Einheit aus unabhängigen und nicht korrupten Persönlichkeiten. Die Kräfte der Bewegung, insbesondere die Linke, haben es nicht geschafft die Entwicklung der Komitees zur Verteidigung der Revolution, die sich am Anfang in ganz Tunesien gebildet haben, zu fördern in Richtung
eines Revolutionsrates mit Führungspersönlichkeiten.
Auf der andere Seite zeigen die Kräfte der Konterrevolution immer wieder, dass sie besser organisiert sind (logisch, nach über einem halben Jahrhundert Diktatur). Sie schaffen es sowohl durch das Spielen der Sicherheitskarte als auch durch das An-die-Wand-Malen der „Gefahr“ der Islamisten zu verhindern, das sich eine politische Front formiert, die die Ziele der Revolution besser verteidigen könnte – in Richtung Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit und Demokratie.
So haben wir heute in Tunesien die Sebsi-Regierung (Sebsi selbst war ein Bourguiba-Mann, und in den sechziger und siebziger Jahren Innen- und Außenminister), die das Land zu den Wahlen führt, die beim Aufbau einer demokratischen Republik mitwirkt, aber die gleichzeitig die Entstehung eine unabhängige Justiz verhindert und das Land wirtschaftpolitisch in den alten neoliberalen Bahnen der Globalisierung belässt.
Schafft es die progressive politische Szene in Tunesien sich von der Islamismus-Phobie (Nahdha-Phobie) zu befreien und sich mit der Kernbewegung des Volks zu identifizieren? Oder bleibt sie zerrissen zwischen ihren Ängsten vor den Islamisten an der Macht und dem Paktieren mit dem Teufel (den Wächtern des alten Systems).
Am 15. und 16. August versuchten die Tunesier wieder ihre Revoltuion wach zu rütteln und gingen wieder auf der Strasse um zu zeigen, dass ihre Forderungen bei weitem nicht erfüllt sind … und wieder hinken die politischen Kräfte nach.
Denn letztlich droht auch in Tunesien die Gefahr, dass die Revolution in den Armen der Nato endet, wie anderswo.
16. August 2011
* Imad Garbaya ist seit Jahrzehnten tunesischer Aktivist des sozialistisch-panarabischen Milieus und lebt im Exil in Österreich.