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Tunesien: „Politische Gemeinsamkeiten mit der Linken, aber diese zieht säkularistische Familie vor“

Interview mit Ajmi Lourimi mit Kommentaren von Sami Brahem


31. August 2011
von Wilhelm Langthaler

Ajmi Lourimi ist Mitglied des Exekutivkomitees der Enahda und einer ihrer historischen Führer. Der Philosoph gilt als Vertreter des progressiv-liberalen Flügels. Zu lebenslanger Haft verurteilt, verbrachte er siebzehneinhalb Jahre seines Lebens in den Gefängnissen Ben Alis und kam erst 2007 frei. Er übersetzte Jürgen Habermas ins Arabische.


Sami Brahem ist ein unabhängiger islamischer Intellektueller, der sich für die Historisierung der Scharia und damit ihre Anpassung an die Gegenwartsgesellschaft einsetzt. Er wurde von Ajmi Lourimi zum Gespräch eingeladen. Seine Positionen sind separat ausgewiesen.

Das Gespräch mit Ajmi Lourimi zeigt deutlich, dass es in Tunesien in der islamischen Bewegung einen progressiven Flügel gibt, sowie in kaum einem anderen arabischen Land. Das Verbot der Interpretation des Koran (das „ungeschaffene Wort Gottes“, also nicht durch Menschen übertragen) und der Sunna (der Überlieferung aus der Zeit des Propheten Mohamed und seinen Nachfolgern) ist einer der zentralen Dogmen des modernen sunnitischen Islam. (Modern deswegen, weil es historisch nicht immer so war.) Wer das in Frage stellt, macht einen tiefen Bruch, der potentiell Türen aufstößt.

Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Linken wird deutlich signalisiert. Aber natürlich handelt es sich um eine moderate Kraft, die sowohl mit der Übergangsregierung als auch mit dem globalen System kooperieren will. Sozioökonomisch machen sie indes einen hilflosen Eindruck.

Die Einschätzung vieler tunesischer Linker, dass es sich eine politisch-kulturell konservative und sozioökonomisch liberale Partei in der Näher der wirtschaftlichen Eliten handelt, ist jedoch nicht nachvollziehbar.

Dabei sei noch angemerkt, dass Enahda keineswegs homogen ist und es angesichts der neuen politischen Freiheiten zu einem politischen Differenzierungsprozess such unter den Islamisten kommen wird.

F: Sind Sie für einen islamischen Staat?

A.L.: Anfangs waren wir keine politische Bewegung im eigentlichen Wortsinn. Wir betrachteten den Islam als Lösung für alle Probleme. Gleichzeitig waren wir mit der forcierten Entislamisierung durch die Regierung konfrontiert. Für uns war die arabisch-islamische Identität in Gefahr. Dagegen propagierten wir die Reislamisierung.

Doch der Islam ist die Religion des Volkes geblieben, man konnte ihn nicht ausreißen. Die Globalisierung strebt eine Homogenisierung an, aber diese gelingt nicht. Der kulturelle Pluralismus ist fest etabliert und in ständiger Entwicklung.

Heute geht es daher nicht mehr um die Verteidigung des Islam, sondern um die Demokratie, in der dieser gedeihen in Freiheit und Würde kann. Die alten Eliten sind nicht mehr einheitlich. Sie können nicht mehr wie sie wollten.

S.B.: Von der Seite der Marxisten vermissen wir allerdings eine solche Selbstkritik, einen solchen Wandel, selbst wenn sie heute von Demokratie sprechen. Manche von ihnen sind extrem intolerant und sehen in der islamischen Bewegung den Hauptfeind. Man könnte sie Fascho-Laizisten nennen. Sie sind trotz ihrer Phraseologie eine Reserve der Konterrevolution.

F: Ihre Feinde werfen Ihnen vor die Scharia einführen zu wollen?

A.L.: Nein, die Einführung der Scharia, so wie sie von unseren Feinden an die Wand gemalt wird, befindet sicht nicht im Programm von Enahda. Auch nicht in der Form wie sie in Afghanistan, Pakistan, Saudiarabien, Somalia und anderen Ländern praktiziert wird. Und schon gar nicht die Körperstrafen.

Wir verstehen die Scharia zuerst als universelles Wertesystem, ebenso wie die Menschenrechte. Nach ihr wollen wir die Gesellschaft gestalten, eine Gesellschaft ohne Kriminalität, der Solidarität, der Gerechtigkeit. Das heißt auch, dass man den Staatschef nicht heilig sprechen darf.

Dann erst kommt die Scharia als Gesetz, als Strafrecht. Aber so wie das in den genannten Ländern praktiziert wird steht das im Widerspruch zum Islam, so wie wir ihn verstehen.

S.B.: Für mich sind die Menschenrechte Teil des Islam. Das Strafrecht und die Strafformen selbst müssen historisch gelesen und für die Gegenwart neu interpretiert werden. In diesem Sinn bin ich gegen die Körperstrafen.

A.L.: Die Körperstrafen finden sich im Koran und sind daher Teil des Islam, doch sind sie nicht Teil des Programms von Enahda.

F: Würden Sie einen in einem demokratisch gewählten Parlament beschlossenen Gesetzeskodex akzeptieren?

A.L.: Ja.

F: Die Kommunistische Arbeiterpartei (PCOT) wirft Ihnen vor mit der Teilnahme an der „Hohen Kommission für die Realisierung der Ziele der Revolution, der politischen Reform und den demokratischen Übergang“ mit der Übergangsregierung und damit den Resten des alten Regimes zu kooperieren?

A.L.: Wir nehmen Teil, weil wir den Konsens mit allen Komponenten der Gesellschaft suchen. Nach der zweiten Kasbah-Bewegung [Kasbah bezeichnet auf arabisch die volksnahe Altstadt und gleichzeitig das Regierungsviertel in Tunis], die zum Rücktritt Premiers Mohamed Ghanouchis führte, suchten alle die revolutionäre Einheit. Der demokratische Übergang ist nur mit Konsens möglich, sonst droht Konfrontation und Chaos.

F: Man kann das aber auch als politische Unterstützung für die alten Eliten lesen, die sich im neuen Regime recycelt haben.

A.L.: Natürlich gibt es noch Leute des alten Regimes. Die müssen zurückgedrängt werden. Aber wir dürfen keine institutionelle Leere zulassen, die zu Chaos und Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führt. Die Institutionen, die aus der Revolution hervorgegangen sind, sind notwendig. Man muss den konstitutionellen Weg respektieren. Auch die Armee hat sich auf die Seite der Revolution gestellt und muss im Interesse des Volkes die Sicherheit erhalten. Die zweite Übergangsregierung von Essebsi hat schließlich vorgeschlagen zur Sicherung der Revolution die Hohe Kommission zu schaffen. Die Reaktionen waren überwiegend positiv und ein großer Teil der Gesellschaft beteiligte sich von Parteien bis Individuen.

F: Warum hat Enahda die Kommission verlassen?

A.L.: Wir haben immer wieder kritisiert, dass die Hohe Kommission nicht ausgewogen ist. Wir haben als wichtige Partei drei Sitze, während es zahlreiche Kleinparteien gibt, die kaum jemanden repräsentieren. Die sogenannten Unabhängigen sind in Wirklichkeit nicht unabhängig. Die Mehrheitsverhältnisse in der Hohen Kommission spiegeln jene in der Gesellschaft überhaupt nicht wider. Wichtige Kräfte wie die PCOT haben die Teilnahme verweigert. Auch das hat Bedeutung und muss in Rechnung gestellt werden, denn sie vertreten eine Sektion der Gesellschaft.

Wir haben unsere Teilnahme an der Hohen Kommission suspendiert, weil es in ihr keinen Konsens gibt und er nicht gesucht wird, weil sie nicht demokratisch funktioniert und weil sie die Wahlen nicht vorbereitet. Im Gegenteil, sie errichtet Hürden. Da ist das Problem der Einschreibungspflicht, die es insbesondere am Land vielen Leuten schwer macht sich zu beteiligen. Trotz dieser Schwierigkeiten haben wir uns von Anfang an beteiligt und sind auch in Zukunft wieder bereit teilzunehmen, wenn auf unsere Forderungen eingegangen wird.

S.B.: Es geht ihnen darum einen Wahlerfolg der islamischen Kräfte zu unterbinden. Die marxistischen, feministischen und laizistischen Fundamentalisten (wie die „Demokratischen Frauen“ oder die At-Tajdid [„Erneuerung“, aus der ehemaligen prosowjetische KP hervorgegangen] wollen maximal kleine Verfassungsänderungen, sie wollen keine demokratische Konstituante.

F: Gilt das auch für die PCOT oder ist mit dieser ein Block möglich?

A.L.: Unter der Diktatur gab es Kooperation gegen die Repression, für die politischen Gefangenen, die Bürgerrechte, gegen Korruption usw. nicht nur mit der PCOT, sondern auch mit anderen linken Kräften wie der PDP [Fortschrittlich-Demokratische Partei, unter Ben Ali halblegale linke Opposition]. Es gab sogar ein gemeinsames politisches Dokument, wo wir uns über die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Frauenrechte, die Beziehung Religion-Staat verständigten.

Doch nach der Revolution bildete die PCOT die Front des 14. Januar – ein exklusiv linker Block –, während sich die PDP an der Regierung beteiligte. Der Dialog ist seither zum Erliegen gekommen.

S.B.: Es gibt gegenseitigen Respekt zwischen Enahda und PCOT. Natürlich abgesehen von der Ideologie, können wir zu den unmittelbaren politischen Fragen viele Gemeinsamkeiten feststellen. Aber die PCOT zieht es vor mit der linken Familie zu gehen, deren einzige wirkliche Gemeinsamkeit es ist, gegen die Islamisten zu stehen. Letztlich ist ihre Basis sehr säkularistisch. Man muss die Politik desakralisieren, die bei den Marxisten noch geistlicher ist als bei den Islamisten.

F: Welche Antworten haben Sie auf die sozioökonomischen Schwierigkeiten, die ja die Revolte mit ausgelöst haben?

A.L.: Wir glauben, dass es eine Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus gibt. Für uns ist die islamische Pflichtspende Zakat der entscheidende Pfeiler. Alle müssen ab einer gewissen Einkommensschwelle für einen Fond spenden, der nicht vom Staat verwaltet wird.

Grundsätzlich ist für uns die Schaffung von Reichtum kein Verbrechen, sondern eine Tugend. Aber natürlich sind wir gegen die extrem ungleiche Verteilung und für mehr soziale Gerechtigkeit. Wir brauchen Wachstum und Entwicklung, um Armut und Arbeitslosigkeit insbesondere auch in den unterentwickelten Regionen zu bekämpfen.

Demokratie heißt auch, dass wir unsere nationale Unabhängigkeit sicherstellen müssen. Der IWF und die internationalen Finanzinstitutionen haben zu viel Einfluss. Wir müssen ihnen ein anderes Entwicklungsmodell entgegenstellen. Unsere Wirtschaft ist zu stark auf Europa ausgerichtet. Wir sollten unsere Beziehungen zur arabischen Welt oder auch zu Afrika forcieren.

F: Was halten Sie von der Idee der Streichung der Staatsschuld, wie sie von Teilen der Linken propagiert wird?

A.L.: Wir können uns die Konfrontation mit unseren internationalen Partnern nicht leisten. Selbst unter Ben Ali eingegangene Verpflichtungen müssen respektiert werden.

F: Die ägyptischen Muslimbrüder sprechen sich gegen Streiks als Mittel der Interessensvertretung aus. Sie auch?

A.L.: Streik ist ein legitimes Recht. Aber es darf nicht missbraucht werden und es gibt auch andere Mittel.

F: Viele islamische Kräfte haben den Nato-Krieg gegen Libyen begrüßt. Sie auch?

A.L.: Nein, wir sind gegen die Nato-Intervention. Aber wir sind für die Revolution und diese war mit friedlichen Mitteln offensichtlich nicht möglich.

Das Gespräch wurde am 23. Juli 2011 in Tunis geführt.

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