F: In den letzten Wochen und Monaten hat es Neue Soziale Proteste gegeben, von der Bewegung in Spanien, bis zur Occupy-Wall-Street Bewegung. Was ist der Hintergrund?
A: Wir würden zwei wesentliche Motive ausmachen. Einmal die Perspektivlosigkeit angesichts der weiter schwelenden Wirtschaftskrise. Und auf der anderen Seite der Protest gegen die immer ungleichere Einkommensverteilung. Das reichste Prozent US-amerikanischer Haushalte hat in den 1970er Jahren acht Prozent der Einkommen erhalten – heute liegt diese Zahl bei 18 Prozent. Und dieser Oligarchie, die sich in den letzten Jahren so unbeschreiblich bereichert hat, wurde in der Krise mit allen möglichen Rettungspaketen unter die Arme gegriffen, während viele vor dem Abgrund stehen. In den USA leben mittlerweile 40 Millionen Menschen von Lebensmittelmarken.
F: Welche Forderungen werden aufgestellt?
A: Das ist tatsächlich sehr diffus. Weder „Occupy-Wall-Street“ noch die Bewegung in Spanien hat einheitliche Forderungen. Und die Proteste in Griechenland zielen in erster Linie auf den Sturz der Regierung, was dann kommen soll, ist nicht ausformuliert. Diese Breite hat natürlich Vorteile, weil niemand ausgeschlossen wird – und sie ist auch unvermeidlich, weil die Protestierenden nicht traditionell politisch organisiert sind und gerade erst aus jahrelanger politischer Apathie erwacht sind. Auf der anderen Seite muss man aber letzten Endes auch eine allgemeine strategische Antwort auf die Krise geben, sonst läuft die Sache irgendwann auseinander, einzelne Gruppen können vom Regime eingebunden werden…
Als echtes Problem würden wir die Fokussierung auf die Finanzwirtschaft ausmachen. Natürlich ist der Protest gegen die Banken berechtigt und notwendig, aber der überdimensionierte Finanzsektor ist mehr ein Symptom als Resultat der Probleme. Er ist das Ergebnis der wachsenden Ungleichheit, weniger ihre Ursache.
F: Gibt es das Potential für echte gesellschaftliche Veränderungen? Für mehr Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich?
A: Das Auftreten dieser Bewegungen ist bereits eine Veränderung. Für 20 Jahre war es schick, reich zu sein. Wer Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit aufgestellt hat, der war ein Neider, ein Sozialromantiker oder ein Spinner. Heute hat sich ein tiefes Unbehagen über das aktuelle Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ausgebreitet – man merkt, dass etwas nicht stimmt. Natürlich sind diese Gefühle diffus, können sich durchaus in einem rechtsgerichteten Prozess entladen (so wie die amerikanische Tea-Party oder die ungarischen Neofaschisten), oder einfach verpuffen. Wie das ausgeht ist nicht entschieden, aber „Occupy Wall-Street“ ist Ausdruck einer Veränderung des allgemeinen Klimas. So etwas kann in den nächsten Jahren grundlegende Opposition wieder möglich machen.