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Nigeria – radikale Islamisten?

30. Dezember 2011
Von E. Gschaider

Kommentar zu den Anschlägen in Nigera vom 24.12.


Selbst in den deutschsprachigen Mainstreammedien hört man jetzt von den radikalen Islamisten in Nigeria. Die Gruppe Boko Haram, eine Folgegruppe der Nigerianischen Djihad – Bewegung vor etwa 10 Jahren, setzte anfangs mit ihren Anschlägen gezielt auf Soldaten, Polizisten und Regierungsmitarbeitern. Auch eine UN-Zentrale wurde ins Visier genommen. Die letzten Ziele richteten sich allerdings gegen Kirchen und andere christliche Institutionen in Nordnigeria.

Nigeria ist geographisch, ethnisch und religiös in Nord – und Südnigeria gespalten mit einem so genannten Middle Belt, einer Hochebene. Verwaltungsmässig ist der Staat in 36 Bundesstaaten unterteilt, deren Governeure wie Fürsten herrschen. Sie verteilen die Jobs unter ihrem Clan und zahlen entweder Jugendgangs oder organisierte Milizen, um ihren Machtbereich auch wenn nötig mit Gewalt verteidigen zu können.
Nordnigeria ist der Nachfolgestaat des Königreichs Sokoto, einer muslimischen Herrscherdynastie, deren Oberhaupt, der Sultan von Sokoto, bis heute das muslimische Oberhaupt in Nigeria stellt. Er traf sich erst vor kurzem wieder mit Präsident Jonathan Goodluck und erklärte diesem, dass jegliche Racheakte von Christen verhindert werden sollten, dass es prinzipiell ein friedliches Zusammenleben der Religionen gibt und er dieses auch unterstützt, er aber dafür auch den Zuspruch der Regierung einfordert. Bis dato hat diesen Goodluck Jonathan noch nicht ausgesprochen. Er ist ein Christ und ethnisch gesehen ein Ibo aus Südostnigeria. Er kam zum Zug, nachdem der gewählte Präsident Yar’Adua unerwartet im Sommer 2010 verstarb. Diesen April wurde Goodluck Jonathan auch gewählt. Etliche Wähler aus dem Norden boykottierten die Wahl. Denn es ist Tradition in Nigeria, dass vier Jahre lang ein Moslem aus dem Norden, vier Jahre ein Christ aus dem Süden den Präsidenten stellen darf. Durch Jonathans Amtsübernahme und deren Bestätigung durch eine Wahl, ist dieser Zirkel unterbrochen worden und das ist unter anderem auch der Hintergrund der Anschlagsserie.

Dazu kommen wirtschaftliche Gründe. Nigeria ist eine reiche Nation und dieser Reichtum fußt auf das im Süden gewonnene Erdöl. Auch Österreich bezieht Erdöl aus Nigeria. Shell ist das Hauptunternehmen der Ausbeutung. Da das Erdöl in Nigeria zwar auch vor der Küste, vor allem aber im Bereich des Flußdeltas landeinwärts gewonnen wird, ist die Umweltverschmutzung verherrend. Und Nigerias Umwelt wird ohne viel Aufhebens die letzten 30 Jahre verwüstet. Das Fischereiwesen und die Landwirtschaft sind komplett zusammengebrochen. Das Wasser ist eigentlich ungenießbar, aber was soll man tun, wenn man kein anderes hat, denn die Infrastruktur im öffentlichen Bereich (Kanalisation, Wasserversorgung, Straßenbau uäm) ist so gut wie nicht vorhanden. Die Bevölkerung spürt also nichts vom Erdölreichtum.

MEND, Movement for the emancipation of the Niger Delta, ist neben vielen anderen die professionellste Widerstandsgruppe im Süden des Landes, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, ausländische Erdölfirmen aus dem Land zu vertreiben und das Erdöl für Nigeria und durch Nigerianer zu nützen. MEND wurde im letzten Jahrzehnt immer professioneller. Durch Entführungen von ausländischen Mitarbeitern, in den letzten Jahren vor allem auch Chinesen, verdienten sie viel Geld. Sie schützten und organisierten die illegalen Anzapfungen von Pipelines, um Dörfer zu versorgen und prangerten die Umweltverschmutzung international an. Zuletzt erschien dazu sogar ein UN-Bericht. Aber große Teile der MEND lösten sich 2010 auf, als Goodluck Jonathan, damals noch Vizepräsident unter Yar’Adua, ein Amnestieprogramm anbot: Ausstieg aus MEND und den Abspaltungen der Gruppe, Abgabe aller Waffen, Speedbooten und sonstiger Infrastruktur, dann Schulung (viele sind Analphabeten), dann ein Job, außerdem Geld von der Regierung. Tompolo, Führer der Splittergruppe NDPVF, gab vor laufender Kamera und unter Tränen seine Waffen ab. Insgesamt sollen rund 26.000 ehemalige Militante dem Amnestieprogramm beigetreten sein – etwa 70% sagt die Regierung, etwa 10% sagen Beobachter. Aber es nützte Jonathan sehr bei der Unterstützung seiner Wahl im April 2011. Heute allerdings ist das Amnestieprogramm verlaufen. Die Regierung konnte die Jobs nicht anbieten. Angeblich wurden 2600 ehemalige Kämpfer ins Ausland verfrachtet. Die Verträge mit den Erdölfirmen gehen weiter, ohne dass der Durchschnittsnigerianer angestellt wird oder sonst wie davon profitiert. Es ist durchaus möglich, dass sich einige „Boko Haram“ im Norden angeschlossen haben, was die Professionalität der großen Anschläge erklären würde.

Und im Norden? Der Norden hat seine Gewerbebetriebe nie aufgegeben. Hier gibt es die besten Universitäten, den kulturellen Reichtum und eine beständige Mittelschicht. Die ländliche Bevölkerung setzt vor allem auf Viehbestände. Das Problem seit Jahren ist hier die Wasserversorgung, weshalb die Nomaden immer weiter südwärts ziehen. Im Middle Belt treffen sie aber auf sesshafte Bauern, die sich gegen die Verwüstung ihrer Felder und der Wasserentnahme von „Fremden“ wehren. Der Konflikt Christ – Moslem fußt hier also vor allem auf einer wirtschaftlichen Komponenente. Zusätzlich ist es so, dass das nigerianische Gesetz „Seddlers“ gegenüber „Non-Seddlers“ bevorzugt.
Das ist auch das Problem im Norden. Jene Bewohner im Süden, die also der Misere entfliehen und ein ordentliches Leben im Norden aufbauen wollen, werden als Fremde gegenüber den Einheimischen verstanden und behandelt. „Boko Haram“, die oben genannte islamistische Sekte, schrieb sich also, nachdem die Anschläge auf Regierungsnahe Institutionen nicht fruchteten, die Vertreibung der „christlichen Eindringlinge“ aus dem Süden auf die Fahnen. Dass einzelne einen Gottesstaat errichten wollen, wie die westlichen Medien, unterstützt von der südafrikanischen Presse, jetzt vermehrt berichten, ist sicherlich für einige wenige Mitglieder richtig, aber nicht das eigentliche Ziel der Gruppe. Unter anderem haben ja schon 2003, 2004 zwölf nördliche Bundesstaaten die Sharia in der Erstinstanz, zum Teil im zweiten Instanzenzug für Moslems eingerichtet.

Noch etwas ist ganz typisch für nigerianische Christen: sie konvertieren zum Islam, wenn sie im Norden einen Job annehmen, und werden wieder Christen, wenn sie ihre Familie im Süden besuchen. In den letzten Jahren aber treten vermehrt radikale Geistliche aus der Pfingstkirchenbewegung auf, auch im Norden, und predigen Missionierung. Die katholische Kirche in Nigeria gilt übrigens als die korrupteste aller geistlichen Institutionen.

Boko Haram wird vermutlich auch zu Silvester bombadieren, denn die nigerianischen Sicherheitskräfte haben zwar viele Waffen und sind schlagkräftig, aber absolut nicht organisiert. Viele ihrer Männer sind bei den letzten Anschlägen nur deshalb verstorben, weil sie keine Krankentransporte organisieren konnten.
Es gibt also nur einen Ausweg: das Geld vom Erdölreichtum muß endlich in die marode Infrastruktur und damit Arbeitsbeschaffung gesteckt werden. Aber ob dazu Goodluck Jonathan und seine mächtigen Governeure bereit sind, ist mehr als fraglich, denn sie leben verdammt gut mit dem Erdölreichtum.

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