Das arabische ancien regime
Der mittlere Osten war und ist neuralgischer Punkt des imperialistischen Weltsystems. Es genügen zwei Stichworte: Israel und Erdöl. Es ist kein Zufall, dass sich der palästinensische Widerstand nach 1989/91 fortgesetzte, während er im Rest der Welt in den meisten Fällen eingestellt wurde.
Die alte imperiale Ordnung des Mittleren Ostens geht auf zwei einschneidende Ereignisse zurück: Den israelischen Sieg im 6-Tage-Krieg 1967. Und das Ende der bipolaren Ordnung 1991 mit dem ersten Angriff auf den Irak. Fast alle arabischen Regime waren auf die eine oder andere Weise Produkte des antikolonialen Kampfes. (Ausnahmen finden sich nur an der Peripherie wie der arabischen Halbinsel oder Marokko bzw. Jordanien, das als Appendix Israels betrachtet werden kann. Unter dem Druck des Imperialismus und der dauernden militärischen Bedrohung durch Israel ordneten sich diese Regime in das US-Empire ein. Wirtschaftlich folgten sie den von IWF und Weltbank verordneten Rezepten, politisch bildeten sie säkulare Despotien bis hin zu dynastischen Formen. Die Eliten zeichneten sich durch extremen Nepotismus aus, der selbst Teile der eignen Elite entfremdete.
Das trifft auch auf jene Regime wie Libyen, Algerien oder Syrien zu, die noch den letzten Tropfen ihrer nationalistischen oder und antikolonialen Vergangenheit in die propagandistische Waagschale werfen. Davon soll man sich nicht täuschen lassen. Gaddafis Libyen wurde zum allseits beliebten Geschäftspartner des Westens. Der Staatsstreich der algerischen Generäle gegen die bei den Wahlen erfolgreichen Islamisten wurde vom Westen unterstützt. Und Syrien wurde für seine Beteiligung beim US-Überfall auf den Irak 1991 mit der Schirmherrschaft über den Libanon belohnt.
Die arabischen Volksmassen auf der Bühne
Insbesondere in der neoliberalen Phase hatten sich die Lebensbedingungen der arabischen Massen zusehends verschlechtert. Eigentlich waren sie schon seit längerer Zeit unhaltbar. Aber die gegenwärtige Explosion wurde erst möglich, als die US-Ordnung ernste Schwächen und Risse zu zeigen begann. Natürlich hatte der Widerstand in Palästina, Irak oder Afghanistan dem Wiedererwachen den Boden bereitet.
Das Programm der Massenbewegung ist in der ganzen Region mehr oder weniger gleich:
• Ende des Despotismus – für demokratische Rechte.
• Wirtschaftliches Überleben und soziale Gerechtigkeit.
• Nationale und kulturelle Unabhängigkeit vom Westen.
Es handelt sich um eine demokratische Revolution des Volkes gegen die 1967/1991-Ordnung und ihre Elite. Die Revolte ist spontan und verfügt über keine gefestigte politische Führung.
Indes ist die Rückkehr zur alten Ordnung ausgeschlossen. Einerseits sind die Massen einmal in Bewegung gekommen und können nicht so ohne weiters gestoppt werden. Andererseits sind die sozioökonomischen Bedingungen ausgesprochen ungünstig. Der Versuch der Reintegration, des Aufbaus einer neuen Ordnungsstruktur unter westlicher Kontrolle, kann nicht umhin den Faktor Massenbewegung in Rechnung zu stellen. Substanzielle Zugeständnisse sind unumgänglich. Zwar ist der Rückgriff auf polizeiliche und militärische Gewalt durchaus möglich, doch er wird auf massiven politischen Widerstand stoßen. Die Kräfteverhältnisse haben sich qualitativ verschoben. Die Stabilisierung neuer Regime im Rahmen des globalen Herrschaftssystems stößt jedenfalls auf enorme Schwierigkeiten.
Die Revolution hat gerade erst begonnen. Es steht eine sehr konfliktreiche Periode vor der Tür, deren Ausgang nicht vorausgesagt werden kann. Sie wird wesentliche Rückwirkungen auf das gesamte Weltsystem zeitigen.
Eine neue Rolle für die Islamisten?
Unter dem alten Regime wurde der politische Islam nicht nur zur stärksten Kraft im Volk, sondern dominierte auch den antiimperialistischen Widerstand.
Um so bemerkenswerter ist es, dass der politische Islam in seinen zahlreichen Varianten die Volksaustände weder initiierte noch anführte. Die erste Reihe der Kämpfer ist entschieden demokratisch und eher von einem tendenziell linken Geist inspiriert. (Das darf keinesfalls mit einer organisch linken Führung verwechselt werden, die es sicher nicht gab.) Die Islamisten sprangen erst in der Folge auf, da ihre Massenbasis sich spontan beteiligt hatte. Es handelt sich also definitiv um keinen islamischen Aufstand, sondern eine demokratische Revolte, auch wenn sich deren große Mehrheit als islamisch versteht.
Es wäre indes töricht zu glauben, dass die Islamisten ob dieser untergeordneten Rolle geschwächt wäre oder gar verschwinden würden. Es ist mehr als offensichtlich, dass ihnen in jeder zukünftigen Systemvariante eine entscheidende Rolle zukommen wird. Die Frage ist vielmehr, welchen Platz sie darin einnehmen werden.
Die demokratische Massenbewegung zeigt jedoch, dass die Islamisten trotz ihrer tiefen Verankerung im Volk einschließlich der untersten Schichten, die dreifache Forderung der Revolte nicht adäquat repräsentieren konnte. Das sozialrevolutionäre Milieu war da zumindest für eine kurze Periode die treibende Kraft dieser Forderungen und konnte sich damit bedeutende Anerkennung verschaffen.
Nach der Erschütterung des alten politischen Systems interessieren sich nicht nur die Unterschichten für die Islamisten. Die Muslimbrüder (MB) werden seit langem von Professoren. Ärzten, Ingeneuren und Rechtsanwälten geführt und von deren sozialen Interessen bestimmt. Auch die sozialen Eliten werden sich wohl oder übel mit Teilen der Islamisten arrangieren müssen. Da sie nun eine zentrale politische Rolle im System spielen, und auch der Westen sich ihrer zu bedienen versucht, ist ein Differenzierungsprozess unvermeidlich.
Demokratischere Verhältnisse bedeuten also für die Islamisten einen praktischen Test. „Islam ist die Lösung“ wird nicht mehr genug sein. Konkrete politische und sozioökonomische Antworten sind gefragt.
Die Voraussage mancher linker Säkularisten, nach der die Islamisten einfach das alte System reproduzieren würden, erscheint unhaltbar. Zu sehr erwarten sich die Massen einschneidende Veränderungen, die sie nicht einfach verraten können. Denn sie bedürfen dieser Unterstützung von unten, im Unterschied zu den alten Eliten.
Gemeinsam mit den Despoten behaupten einige geopolitische Antiimperialisten, dass die reaktionären Salafiten gestärkt würden oder sogar die Oberhand gewinnen könnten. Auf diese Weise solle durch die Hintertür über Saudiarabien (die Hintermänner der Salafiten) der amerikanische Einfluss zurückgebracht werden. In einer etwas subtileren Argumentation wird die Rolle mehr den Muslimbrüdern über die Verbindung Katar-Ankara zugedacht.
Es sollte indes nicht vergessen werden, dass der konservative Salafismus die ägyptische Revolution rundweg ablehnte. Nur die Salafiten blieben Mubarak (den sie an sich ablehnten, jedoch gegen die Revolution unterstützten) bis zum bitteren Ende treu. Wie ihre saudischen Financiers lehnen sie den demokratischen Aufstand in der ganzen Region ab. Selbst in Syrien, wo sie gegen Asad stehen, schwimmen sie gegen den demokratischen Strom.
Jedoch werden die Salafiten unter mehr demokratischen Verhältnissen einen gewissen Anteil am politischen System haben, insbesondere in Ägypten. Endlich können die Massen Erfahrungen mit ihnen sammeln – auch darin liegt die Bedeutung der Demokratie. Zudem sind auch die konservativsten Muslime, zumal sehr arm, nicht gänzlich immun gegenüber den Massenstimmungen. Obwohl sie Wahlen eigentlich ablehnen, wurden die Salafiten paradoxer Weise zu einer ihrer wichtigsten Fürsprecher. Die Al Nour-Partei, die stärkste einzelne salafitische Kraft in Ägypten, beteiligte sich sogar an der Tahrir-II-Bewegung, der die liberaleren MB fern blieben. Das mag vorwiegend wahltaktischem Kalkül geschuldet sein, ganz wirkungslos bleibt es auf ihre sehr arme und ungebildete Basis dennoch nicht.
Was die Achse MB-Katar-Türkei betrifft, so kommt dieser bestimmt eine entscheidende Rolle in der Neugestaltung der Herrschaft in der Region zu. Aber dabei kann es sich nicht um die simple Wiederherstellung des alten Systems handeln. Angestrebt wird eine Architektur, die in Richtung multipolarer Weltordnung strebt.
Amerikanische Umarmung
Die USA und insbesondere Obama haben verstanden, dass sie den permanenten und präventiven Krieg der Bushmänner nicht mehr fortsetzen können. Die Kriege im Irak und in Afghanistan gingen zumindest teilweise verloren. Die globalen Subalternen lernten daraus, dass Widerstand möglich ist und sich auszahlt. Dazu kam noch die globale Wirtschaftskrise.
Mit seiner Kairoer Rede 2009 änderte Obama den Ton. Doch die Explosion konnte nicht mehr verhindert werden. Die entscheidenden Säulen stürzen ein und mit ihnen die gesamte regionale Ordnung.
Bis zur letzten Minute versuchte man zu retten, was zu retten war. Doch Washington war darauf vorbereitet die Gangart zu ändern. Die säkularen Despotien können nicht gehalten werden. Ausnahme von der Regel ist der Golf, wo die Tyrannen nicht einmal säkular sind. Aber das wird ihnen früher oder später massive Probleme bescheren.
Es ist in diesem Sinn nur rational, wenn Washington dem Versuch der Militärs am Nil das alte System möglichst wiederherzustellen, skeptisch gegenüber steht. Wenn nicht einmal Mubarak sich halten konnte, wie sollen es dann seine viel schwächeren Epigonen können, die noch dazu mit einer tiefen Wirtschaftskrise zu kämpfen haben?
Die Idee drängt sich auf: Die Muslimbrüder (MB), die am besten organisierte politische Kraft mit großem Einfluss unter den Massen, die jedoch unter fester Kontrolle von Mittel- und Oberklasse sind, müssen umarmt und integriert werden. Trotz massiver Konflikte in der Vergangenheit (auch über Hamas, Gaza, den Iran und Israel) gibt es schlicht keine andere vernünftige Alternative für den Westen.
Doch werden die MB bereit und fähig dazu sein, offen proimperialistische Regime wie in der Vergangenheit zu errichten? Das ist unwahrscheinlich. Nicht nur, dass die MB das mit ihrer Basis nur schwer können, sie wollen es auch gar nicht. Modell ist vielmehr die Türkei unter der AKP (siehe weiter unten). Zudem wird auch Israel immer dazwischen stehen. Und dann ist da noch die sozioökonomische Katastrophe, die die westliche Herrschaft massiv untergräbt.
Washington wird daher auf mehreren Kirtagen tanzen müssen. Da sind noch immer die oft säkularen alten Verbündeten. Auch die Konkurrenz zwischen den islamistischen Gruppen kann genutzt werden.
Welche Konstellation auch immer zur Anwendung kommt, die Volksmassen sind zu einem politischen Faktor geworden, und können nicht mehr so einfach von der Bühne vertrieben werden. Ihre Interessen müssen mehr berücksichtigt werden als zuvor. Damit vergrößert sich auch der Spielraum der sozialrevolutionären und antiimperialistischen Kräfte qualitativ.
Was für die islamischen Kräfte gilt, stimmt für die demokratische Volksbewegung allemal. Anders als in Osteuropa wird es dem Westen nicht möglich sein diese unter seine Fittiche zu nehmen. Die Bedingungen dazu sind nicht geben. Ein Marshall-Plan für die arabische Welt (zu dem nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert Zeit gewesen wäre) ist politisch (Israel) und wirtschaftlich (Krise) ausgeschlossen. Und selbst mit einem solchen könnte aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte eine Umarmung schief gehen.
Den arabischen Frühling als Machination des CIA oder Kopie der samtenen Revolutionen für einen Neuen Mittleren Osten nach Washingtons Gnaden zu lesen, kommt einer paranoiden Überhöhung der als unbesiegbar verklärten Macht des kapitalistischen Imperialismus gleich. Gleichzeitig wird den Massen die Fähigkeit abgesprochen in die Geschichte einzugreifen.
Der Fall Libyen
Griff die Nato ein um einen antiimperialistischen Führer zu stürzen und sich des Ölreichtums des Landes zu bemächtigen? Warum waren die Geschäfte dann so wie geschmiert gelaufen und Gaddafi ein willkommener Gast in Paris, Rom und den anderen Hauptstädten der „Menschenrechte“ gewesen?
Wir bieten eine andere Interpretation: Gaddafi war das billigste Opfer, um die westliche Unterstützung, ja Erschaffung der arabischen Despoten vergessen zu machen. Gaddafi war in seinem Land politisch isoliert. Er konnte sich nur mehr auf seinen Familienclan stützen. Die Opposition verfügte über keine Wurzeln und Traditionen und wurde als ungefährlich angesehen (was sich später selbst für Libyen als unrichtig erwies). Die Nato intervenierte um die politische Kontrolle über die arabische demokratische Bewegung an ihrem schwächsten Punkt zu übernehmen. Dort gab es nur zwei inakzeptable Alternativen für die demokratische Revolte: entweder schonungslos unterdrückt zu werden oder der Nato als Bodentruppen zu dienen.
Die MB und andere islamistische Strömungen tappen in diese Falle. Für das erste war es ein politischer Sieg für den Imperialismus – aber es steht zu hoffen, dass er nur kurzfristige Wirkung hat. Ohne massive militärische Präsenz, die unwahrscheinlich ist, wird sich der Aufbau eines Marionettenregimes als schwierig gestalten. Selbst unter den von einem imperialistischen Sieg geschaffenen Bedingungen, werden die Interessen der Volksmassen mehr als zuvor berücksichtigt werden müssen. Wenn der Aufbau eines vereinigten Staates überhaupt möglich ist, so wird er weniger repressiv sein müssen. Trotz der politischen Rückständigkeit des Landes sowohl aufgrund historischer Faktoren als auch wegen der Ölrente, wird sich eine antiimperialistische Opposition formieren können. Klar muss indes auch sein, dass das Land immer in der Nachhut der Revolution bleiben wird.
2. Januar 2012
Einleitung: Syrien, die Türkei und die arabische Revolte
Teil I: Geopolitiker versus Revolutionäre
Teil II: Wo steht die arabische demokratische Revolte?
Das arabische ancien regime
Die arabischen Volksmassen auf der Bühne
Eine neue Rolle für die Islamisten?
Amerikanische Umarmung
Der Fall Libyen
Teil III: Syrien – wer ist da antiimperialistisch?
Erste Phase: friedlich und antiinterventionistisch
Westliches Zögern
Die Türkei als zentraler Spieler und Modell
Das Asad-Regime
Zweite Phase: Abgleiten in den Bürgerkrieg
Die Opposition und der Syrische Nationalrat (SNC)
Szenarien nach Asad