Ein Jahr Aufstand, Feier oder Protest?
So wie der 25. Jänner, hat der Jahrestag des Abgangs Mubaraks wiederum die neue Anordnung der politischen Kräfte in Ägypten gezeigt. Auf der einen Seite feiern die Moslembrüder (MB) und manche liberale Parteien den Tag als Gedenken an den „Sieg der demokratischen Revolution“. Tatsächlich sehen die MB das Werk der Revolution mit den neuen parlamentarischen Wahlen vollendet. Ihr Anliegen als Wahlsieger ist es, eine Form der Machtbeteiligung mit dem noch bestehenden Ancien Regime zu finden. Auf der anderen Seite forderten die Linke und die Basisorganisationen des Tahrir-Aufstands den Sturz des Militärrats und riefen zu einem Generalstreik auf. Die staatliche Kampagne gegen die „linken Verschwörer“ und „Nestbeschmutzer“ deckte sich mit jener der MB. Im Einklang mit den staatlichen ägyptischen Medien bezeichnete die Tageszeitung der MB-Partei (Partei für Freiheit und Gerechtigkeit) die Gegner des Militärrats als Gewalttäter, die eine Bedrohung der Stabilität im Lande darstellen würden. Regime und MB setzen die Forderung nach Abgang des Militärrats mit „Sturz des Staates“ gleich und bezeichnen Streikmaßnahmen als Schädigung der Wirtschaft. Am Freitag erklärten Moscheeprediger es für religionswidrig zu streiken. Zuvor sprach der Koptenpapst gegen Ungehorsam. Die Medienapparate beeilten sich schon am ersten Tag, das Scheitern des Streikes zu erklären.
Nichtsdestotrotz wurde der Streik mehr eingehalten, als Regime und MB gehofft hatten. Mehrere Sektoren schlossen sich dem Streik vollkommen oder teilweise an. Industrie- und landwirtschaftliche Arbeiter, öffentlicher Transport, Hafenarbeiter, Universitäten und Schulen, Krankenhäuser.. Zunehmend kommen Meldungen über die Teilnahme neuer Sektoren. Sicherheitskräfte mussten die Universitäten wie zur Zeit Mubaraks umzingeln, um den Ausbruch von Demonstrationen streikender Studenten zu verhindern. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass die Linke unter den Studenten neuen Boden gewinnt. Die Linke hat erneut gezeigt, dass sie trotz der Übermächtigkeit des Doppelgegners signifikanten Einfluss in mehreren Sektoren der Gesellschaft hat.
Dauerkonfrontation
Seit den blutigen Konfrontationen im vergangenen November ist die politische Lage in Ägypten zugespitzt. Die Fronten haben sich verhärtet. Auf der einen Seite stehen die Kräfte der ersten Stunde des Aufstands, die im Militärrat eine Kontinuität des Mubarak-Regimes sehen und fordern, ihn durch eine zivile Übergangsregierung zu ersetzen. Auf der anderen Seite steht der Militärrat selbst in einem Bündnis mit den MB. Die Islamisten sehen den Sieg der „Revolution“ in der großen Mehrheit im Parlament, die durch das repressive Parteiengesetz und das Fehlen einer organisierten Konkurrenz möglich war. Mit der Hoffnung auf eine Machtbeteiligung unterstützen sie das repressive Vorgehen der Militärs gegen Demonstranten und die Kriminalisierung des sozialen Protestes.
Seit den blutigen Ereignisse im November (siehe Link) finden am Tahrir und vor dem staatlichen TV bei Maspero Dauerkundgebungen gegen das Militärregime statt. Die Lage eskalierte nach dem Massaker am Stadion von Port Said, als hunderte Fans bei einem ungeklärten Krawall starben. Die Opposition beschuldigt Agenten der Zentralpolizei, den Krawall provoziert zu haben (einheitlich Schlagstöcke der Angreifer, Versperrung der Ausgänge, Tatenlosigkeit der Sicherheits- und Rettungsdienste..). Sie dürften sich dabei an den sogenannten Fußball-Ultras (organisierte Fanclubs) gerächt haben, die im Jänner 2011 eine entscheidende Rolle gespielt hatten. Die Opposition fordert eine neue Regierung. Sie fordert auch die Bestrafung jener im Innenministerium, die seit Jänner 2011 für den Tod und die Verletzung von Demonstranten verantwortlich sind.
Im Parlament unterstützten jedoch MB und Salafiten die staatliche Version. Salafiten nahmen sogar das Massaker zum Anlass, gegen Sportveranstaltungen zu toben. Bei den Protesten im Zentrum Kairos, die sich das verhasste Innenministerium zum Ziel machten, kam es wieder zu Ausschreitungen mit Toten und Verletzten. Polizisten schossen mit Schrotpatronen auf Demonstranten und Schläger in zivil griffen die Demonstrationen wiederholt an. Es ist umstritten, ob die Schläger diesmal dem Innenministerium oder den MB entstammen.
Im Kontext der steigenden Repression und der Wiederherstellung der Polizeiherrschaft, die diesmal vom (sonst machtlosen) Parlament unterstützt wird, ist der Aufruf zum Generalstark ein Indikator für die Reichweite der jungen ägyptischen Linke.
Sie stellt auch ein Kräftemessung der demokratischen Opposition dar. Ihre Befolgung trotz der intensiven Kampagne der größeren Medien und der MB deutet auf die Konsolidierung einer neuen Linke in Ägypten. Diese entwickelt sich zwar langsam und steht bloß mit ihrer spezifischen Größe am Tahrir, gewinnt jedoch allmählich an Einfluss.
Der Teilerfolg streckt sich eben dorthin, wo die Linke traditionell tätig ist: organisierte Arbeiterschaft und Studenten. Ein Etappensieg, auf welchem bestimmt aufgebaut werden kann.