Revolte in der Ostregion entflammt von neuem
Seit Wochen brodelt es in den Straßen von Qatif, Awamiyya, Hufouf und den anderen Städten des östlichen Teils der Halbinsel, wo die schiitische Regionalmehrheit am meisten unter politischer Repression, wirtschaftlicher Marginalisierung und zusätzlich religiöser Verfolgung leidet. Bei den Repressalien der Sicherheitskräfte gab es hunderte Verletzte. Duzende Personen wurden verhaftet, darunter Studenten, Religionsgelehrte, Künstler, Webseitenbetreiber und nicht zuletzt Kinder. Am heftigsten waren die Proteste im Ort Awamiyya, wo die Polizei ältere Personen verschleppte, um Druck auf die Familien auszuüben, gesuchte Jugendliche auszuliefern. Die Demonstrationen fordern elementare Menschen- und Bürgerrechte und religiöse Freiheiten sowie die Entlassung der politischen Gefangenen. Kürzlich begannen die Gerichtsverfahren gegen 85 Personen, die im Laufe der Proteste im vergangnen Jahr verhaftet wurden. Seit ihrer Verhaftung weilen diese Personen an unbekannten Orten und die Prozesse finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Tausenden von Häftlingen im vergangenen Jahr, die heute noch ohne Gerichtsverfahren gefangen gehalten werden.
Schiiten bilden eine demographische Mehrheit in der erdölreichen Ostregion und 15% der Gesamtbevölkerung. Seit der Eroberung der Region durch die Sauds im Jahr 1913 benimmt sich der Staat gegenüber der schiitischen Bevölkerung wie eine Besatzungsmacht. Die wahabitische Staatsraison sieht keinen Platz für andere Konfessionen vor. Die Schiiten gelten als Ungläubige, die bekehrt oder vertrieben werden müssen. Schiitische Prozessionen, Lehranstalten und Bücher sind offiziell verboten. Schiiten sind in mehreren Bereichen vom Staatsdienst und Bildungssystem ausgeschlossen. Als „Ungläubige“ gelten ihre Aussagen vor Gericht nicht, was sie praktisch rechtlos macht. Häufig finden in der Region Proteste und Aufstände statt, denen das Regime mit Härte begegnet. Solche Protestbewegungen werden immer als Werk von Agenten aus dem Ausland (Iran) dargestellt und das Regime benützt sie als Vorwand für seine übliche antischiitische Hetze. Erst kürzlich forderte der staatliche Imam der Prophetenmoschee in Medina die Vertreibung der Schiiten in den Irak.
Massenproteste im Südwesten
Nichtsdestotrotz weiten sich die Massenproteste auch in den mehrheitlich sunnitischen Gebieten aus, etwa im Gebiet Asir im Südwesten des Landes. Die Stürmung der Mädchenuniversität von Abha am 10. März durch die Sicherheitskräfte verwandelte einen Protest der Studentinnen gegen die Hygienebedingungen an der Universität in eine Protestwelle der gesamten Region gegen die Repression der Saudis. Nach wie vor leben 22% der Bürger unter der Armutsgrenze.
Mauern der Angst fallen
Auch an der Universität von Riad protestierten die Studenten. Nicht nur das Tabu des Demonstrierens ist in allen Teilen des Landes aufgebrochen, sondern auch das des größeren Tabus: das Streiken. In einem für das Land erstmaligen Schritt traten 128 Piloten der staatlichen Saudi Airlines in den Streik gegen die Beschäftigungspolitik und die schlechten Arbeitsbedingungen ein. Die Piloten protestieren in ihrem Kommunique gegen die verbreitete Korruption innerhalb der Fluglinie und verweisen auf die miserable Situation aller Beschäftigten. Sie fordern die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und die Revision der Beschäftigungspolitik der Fluglinie. Laut dem Kommunique reagierte der Dienstgeber bisher auf den Unmut der Piloten und des restlichen Personals mit der Einstellung von billigeren ausländischen Arbeitskräften.
Anti-schiitische Hetze, der Schuss kann nach hinten gehen
Um die Proteste der Schiiten als vom Iran gesteuertes Komplott zu diffamieren, mobilisiert das Regime seine traditionellen Alliierten, die Wahabiten, deren salafitische Ideologie der Staatsideologie gleicht. Jedoch sind diese auf Dauer eine Gefahr auch für das Regime. Zwar schreibt die staatliche Auflage des Salafismus Gehorsam vor, kriminalisiert Proteste und betrachtet Demokratie als Blasphemie, jedoch predigt sie zugleich einen puritanistischen Islam, der mit der luxuriösen Lebensweise der Sauds und mit deren Korruption kaum vereinbar ist. Oft artet der religiöse Fanatismus in jihadistische Tendenzen aus, die dem Staat den Gehorsam aufkündigen. Das Regime kann diese Tendenzen nicht auf die Dauer in andere Länder exportieren, um gegen andere „Ungläubige“, wie etwa die panarabischen bzw. sozialistischen Regime zu kämpfen.
Der Aufstand im Osten des Landes kann im Moment auf konfessioneller Basis isoliert werden, kann jedoch potentiell zu einem Katalysator für den Verfall der hundertjährigen Herrschaft der Sauds werden. Es ist eine Frage der Zeit, dass sich dieser zu einer gemeinsamen Bewegung gegen die Sauds und ihre wahabitischen Verbündeten und für Demokratie, Menschenwürde und nationale Souveränität entwickelt.