Der Kuwait-Krieg
Dr. Ibrahim erklärte, warum das Jahr 1991 eine Wende in der saudischen Gesellschaft darstellt. Protestbewegungen unterschiedlichen Charakters brachen 1991 nach dem Ende des Kuwait-Krieges aus. Der von der erstmaligen Präsenz fremder Truppen (US & Alliierte) in Saudi Arabien hervorgerufene Kulturschock führte einerseits zu religiösen Protesten im traditionell loyalen wahhabitischen Lager, das die Einhaltung der islamischen Lehre seitens des Staates in Frage stellte. Verlust von Autorität und die Wirtschaftskrise der 1990er Jahre brachte auch eine liberale Opposition hervor, die grundlegende Reformen und politische Freiheiten forderte. Es entstand eine Reihe von Kampagnen, die ihre Forderungen in der Form von Petitionen an den damaligen König Fahad richteten. Das Regime verhaftete damals zwar die Initiatoren und zwang sie, Unterlassungserklärungen zu unterschreiben, kündigte jedoch allmähliche Reformen an, die bis heute nicht durchgeführt wurden.
Saudi Arabien und die arabische Revolte
Wie in anderen arabischen Ländern bewegten der tunesische Aufstand und der darauffolgende Sturz von Ben Ali im Jänner 2011 auch in Saudi Arabien die Hoffnungen der Massen auf politischen Wandel. Das saudische Regime, das die Diktatoren Ben Ali und Mubarak bis zum Ende offen unterstützte, musste nach deren Sturz seine Politik revidieren und einer Bewegung im eigenen Land zuvor kommen. Heute führt Saudi Arabien die Konterrevolution in der Region an, die je nach Situation unterschiedliche Formen annimmt:
a. Umarmung und Kanalisierung der Bewegung wie in Tunesien und Ägypten
b. Militärintervention wie in Bahrain und Jemen
c. Konterrevolution
In diesem Sinne stellt Saudi Arabien heute das größte Hindernis für Demokratie in der Region dar. Die bahrainische Demokratiebewegung wurde durch eine direkte saudische Besetzung des Landes niedergeschlagen. In Syrien interveniert Saudi Arabien, um die gewaltlose demokratische Bewegung zu beenden. Die Saudis streben eine Militarisierung des syrischen Konfliktes an, die einer Militärintervention Tür und Tor öffnen soll. In dieser polarisierten Situation wird der dritte Weg (für die Revolte und gegen ausländische Intervention) schwieriger und davon können nur konterrevolutionäre Kräfte profitieren.
Zersplitterte Gesellschaft als Zeichen des Scheiterns des Staates
Bislang drückt sich die politische Opposition in Saudi Arabien entweder konfessionell (Schiiten/Sunniten) oder regional (Osten, Westen, Süden) aus. Das ist auf die Zersplitterung der Gesellschaft im saudischen Reich zurückzuführen, das am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durch gewaltsame Expansion und Annexion von Gebieten durch die saudisch-wahhabitische Allianz entstand. Wenn das wahhabitische Sunnitentum im Zentrum der Halbinsel (Nadschd) geboren ist und dort seinen Rückhalt findet, so ist der Osten (el-Ahsaa) schiitisch dominiert. Auch im westlichen Hidschas und im Süden dominieren andere theologische Schulen des sunnitischen Islams als die wahabitische. Andere schiitische Gruppen gibt es in Medina sowie im Süden des Landes, wo die Konfession mit dem Stamm Yam zusammenfällt. Dass heute noch keine „nationale“ Identität unter den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen entstanden ist, das ist selbst ein Beweis für das Scheitern des saudischen Staates. Indem er seine Auffassung des Islam der gesamten Gesellschaft aufzwingt, werden große Teile der Bevölkerung marginalisiert. Zudem spaltet er mit seinem autokratischen Charakter die Bevölkerung eher als sie zu vereinigen.
Im Jahr 1983 lud das Regime die schiitische Opposition zu einem Dialog ein. Grund für diese Konzession war der Beginn eines Dialogs der Schiiten mit der sunnitischen Opposition. Vor einem derartigen Bündnis hat der Staat meisten Angst.
Heute gibt es unter den Jugendlichen ähnliche Richtungen, welche die traditionellen Schranken überschreiten und auf landesweiter Ebene zusammenarbeiten. Es gibt mehrere oppositionelle Internetseiten, die von solchen „gemischten“ Gruppen initiiert wurden.
Arbeitslosigkeit und Fremdarbeiter
In Saudi Arabien beträgt die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen 40%. Gleichzeitig arbeiten im Land 8,5 (laut Regierung) bzw. 12 Millionen (laut Botschaften) ausländische Arbeitskräfte. Die Rede ist von zwei Millionen Personen aus Indien, zwei Millionen aus Pakistan, 1,5 Millionen aus Bangladesh, 1,5 Millionen aus Sri Lanka, eine Million aus Ägypten, einer halben Million aus Syrien und einer halben Million aus Jemen. Der Staat, als Verwalter der großen Erdölwirtschaft, macht sich mithilfe der hohen Anzahl ausländischer Arbeitskräfte von den unterschiedlichen einheimischen Bevölkerungsgruppen unabhängig und sorgt so für Gehorsam. Aus Angst vor Abschiebung mischen sich Ausländer in die Politik nicht ein. Auch keine der Oppositionsgruppen hat derzeit eine Position zu den ausländischen Beschäftigten in ihrem Programm.
Keine Separatismusgefahr
Trotz regionaler Spannungen kann Separatismus ausgeschlossen werden. Auch wenn es durchaus separatistische Tendenzen gibt, bilden sie in keiner oppositionellen Gruppe eine Mehrheit. Der gemeinsame islamische historische Hintergrund sowie der vom ehemaligen ägyptischen Präsidenten Nasser geprägte pan-arabische Geist schützen vor solchen Tendenzen. Vielmehr besteht die Gefahr eines Zusammenbrechens des gesamten Staates im Falle einer Revolution. Denn der Staat beruht auf einer Familienherrschaft und ist sogar nach dieser Familie benannt. Stürzt diese Familie, fällt auch ihr Staat zusammen. Das Fehlen einer landesweit agierenden Opposition macht diese Gefahr umso größer. Dadurch wird das Szenario einer Volksrevolte eher unwahrscheinlich. Realpolitisch möglich ist jedoch, dass sich um die Reformforderungen, die von allen Seiten als Konsens betrachtet werden, eine Bewegung bildet. Dieser reformorientierte Konsens könnte in der Lage sein, das zu erreichen, was eine Revolte erreichen würde. die seit Jahrzehnten versprochenen graduellen Reformen müssen weitere Jahrzehnte auf das Ende des „Krieges gegen Terror“ warten. In seiner Reformunwilligkeit macht das Regime fast jede reformistische Forderung zu einer revolutionären Position.
Ein positiver Ausgang wäre eine landesweite Bewegung, die gleich bei ihrem Entstehen einen neuen Sozialpakt schaffen würde, in dem die Macht und die Ressourcen gerecht verteilt werden. Nur so könnten sich die Menschen dem Staat zugehörig fühlen.
Neue Protestformen
Die unterschiedlichen Regionen in Saudi Arabien haben verschieden Formen des Protests entwickelt. Das Verbot von Demonstrationen, Versammlungen, Streiks, Parteien und allen Organisationsformen zwingen die Bevölkerung dazu, auf andere Ausdruckweisen auszuweichen. Das Internet bietet heutzutage eine neue Möglichkeit, Protestkampagnen zu initiieren. So waren in den letzten Monaten zwei Internetkampagnen in der Lage, alle regionalen und konfessionellen Rahmen zu sprengen und das Regime zu einem Rückzieher zu zwingen.
Die erste Kampagne richtete sich gegen die Umbenennung zweier Tore der heiligen Moschee in Mekka nach Personen der Königsfamilie. Das Regime nahm tatsächlich diesen Beschluss zurück.
Eine weitere Kampagne hatte den Namen „Bahbouha“ [arab. Wohlstand, Überfluss], die einen sarkastischen Charakter hatte. Sie entstand als eine Reaktion auf die Aussagen des saudischen Verteidigungsminister Prinz Salman, der in einem Interview mit der kuwaitischen Zeitschrift Al-Siyasa [Die Politik] behauptete, dass das Volk im Überfluss lebe. Diese Aussage wurde im erdölreichen Land, in dem jedoch drei Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, als eine Provokation aufgenommen. Tausende sarkastische Kommentare verhöhnten in einer ungewöhnten Weise den Prinzen und die regierende saudische Familie, sodass Prinz Salman dementieren musste, so ein Interview gegeben zu haben.
Revolutionsherd Ostregion
In Saudi-Arabien entflammten die Proteste im März 2011. Sie begannen in der vorwiegend schiitischen Ostregion, gingen über das Konfessionelle hinaus und schlossen mehrere Regionen im Land ein. In der Ostregion sind historisch mehr Erfahrungen in politischem Protest und dessen Organisation vorhanden. Dies verdankt die Region der Erdölindustrie, die einerseits einen frühzeitigen Kotakt mit der Moderne und andererseits das Entstehen einer organisierten Arbeiterschaft mit sich brachte. Die religiöse Diskriminierung gegen die Einwohner der Ostregion, deren Bekämpfung als Schiiten ein Teil des Staatsraison der Wahabiten bildet, machte die Region seit ihrer Annexion 1912 zu einem Widerstandsherd.
Im Osten fordern die Menschen das Ende religiöser Diskriminierung, Freilassung der politischen Gefangen (13000 landesweit) und die Entlassung des korrupten Gouverneurs Prinz Mohammad ben Naif. Das Regime betont die regionalen konfessionellen Forderungen und verschweigt die politischen.
Die seit März 2011 anhaltenden Proteste in der Ostregion machen die längste Protestwelle im Königreich seit seiner offiziellen Gründung im Jahr 1932 aus. Allmählich gewinnt diese Protestbewegung an Sympathie in anderen Regionen. Auch im südlichen Abha und sogar in der Hauptstadt Riad protestieren heute die Studenten. Manche behaupten, die anderen Regionen halten sich zurück, weil der Staat jede Bewegung mit den Protesten der Schiiten in Verbindung bringt, um diese gewaltsam unterdrücken zu können.
Der Ausgang dieser vielfältigen Bewegungen in Saudi Arabien ist offen, jedoch bewegt sich im Moment das gesamte Land auf eine grundlegende Veränderung des politischen Handelns und des Denkens der Menschen zu.