Die Systemmedien und die von ihnen geprägte öffentliche Meinung verlieren sich meist in Einzelfakten. Wenn sie zu einem Gesamtbild kommen, dann schwankt das zwischen zyklischem Abschwung und Zweckoptimismus. Die Idee einer systemischen, also grundlegenden Krise wird durchwegs abgewehrt.
Insbesondere im deutschsprachigen Raum wagt man an der Notwendigkeit des „Sparens“, d.h. der Kürzung der staatlichen Ausgaben auf Kosten der Mittel- und Unterschichten, kaum anzuzweifeln. Die Schulden werden durchwegs als Ursache der Krise, nicht aber als einer ihrer zahlreichen Ausdrücke verstanden. Die Intuition der schwäbischen Hausfrau konvergiert mit der neoliberalen Orthodoxie. Gemeinsam zeigen sie auf die europäische Peripherie und wiederbeleben das alte, chauvinistische Stereotyp des arbeitsscheuen und dafür umso verschwendungssüchtigeren Südländers.
In der dominanten anglosächsischen Welt hat der Mainstream indes kein Problem damit, die Vergangenheit der Hetze gegen die staatliche Intervention scheinbar über Bord zu werfen. Die Finanzoligarchie ist sich einig, dass die Staaten sie retten müssen und zwar mit Risikoübernahme und unbegrenztem billigen Geld. Sie zeigen ihrerseits auf die Überschussländer wie Deutschland und China, die zu wenig konsumierten und damit für die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte verantwortlich seien. Sie vergessen dabei dazuzusagen, dass sie die extreme Kreditexpansion zu verantworten haben, die die Exportüberschüsse auf der anderen Seite erst ermöglichten.
In beiden Positionen kommt eine spezifische Interessenslage zum Ausdruck, wobei sich jene des amerikanischen Zentrums letztlich durchzusetzen scheint. Eine umfassende Erklärung, geschweige denn eine Lösung bieten die Herrschenden jedoch nicht an. Hatten sie noch vor kurzem in Casinomanie das Ende jeglicher Krisen proklamiert, so meinen sie nun einen Zyklus aussitzen zu können. Die Hoffnung reduziert sich auf den festen Glauben an die Regenerationsfähigkeit und Überlegenheit des kapitalistischen Systems.
Wir glauben indes, dass es sich um mehr handelt, nämlich um eine strukturelle Krise, die auf Widersprüche gründet, die im mehr als drei Jahrzehnten Neoliberalismus und schon davor angehäuft wurden und nun zum Ausbruch kommen. Die gesetzten Maßnahmen schieben die Krise nur auf, bekämpfen Symptome, vertiefen jedoch die Ursachen weiter, so dass wir weitere Einbrüche für unvermeidlich halten. Die Zeiträume sind jedoch schwer zu prognostizieren.
Die Periode des Neoliberalismus
Der Neoliberalismus setzte in den 1980er Jahren ein und erhielt insbesondere mit der Wende 1989/91 einen weiteren, kräftigen Anstoß. Er war die Antwort der Eliten auf die Krise des Wachstumsmodells der Nachkriegsjahrzehnte. Die 1950er und 60er waren die kräftigste, längste und nachhaltigste Expansionsperiode des globalen Kapitalismus gewesen. Sie waren dadurch charakterisiert, dass die subalternen Klassen mitgezogen wurden und ihren Lebensstandard in einem unerhörten und bisher unbekannten Ausmaß steigern konnten. Das drückte sich in für heutige Verhältnisse hohen Lohnquoten, als einer der Messindikatoren, aus.
In den 1970er Jahren kam dieses Erfolgsmodell in eine heftige Krise, wobei sozioökonomische mit politischen Ursachen verwoben sind aber nicht Gegenstand der Betrachtung sein können. Die Antwort der Eliten bestand im Neoliberalismus, in der Aufkündigung der umfassenden Beteiligung und Integration der Subalternen. Die Galionsfiguren des Kurswechsels waren Margret Thatcher und Ronald Reagan, die die Gewerkschaften als Interessensvertretung der eingebundenen Unter- und Mittelklassen zerschlugen und den historischen Kompromiss, auf den das gesamte System aufbaute, aufkündigte.
Die zunehmende soziale Ungleichheit wurde damit gerechtfertigt, dass sie die Wirtschaft als ganze beflügelte und letztlich den Wohlstand für alle anheben würde. Global hat sich diese Behauptung nie verifizieren lassen, doch in Teilbereichen insbesondere im Zentrum des Weltsystems (wie beispielsweise an der europäischen Peripherie) konnte sie zumindest eine Generation lang als stichhaltig wahrgenommen werden.
Kreditexpansion und Renditeerwartung
Es kam zu einer gewaltigen, bisher noch nie dagewesenen Kreditaufblähung, die sowohl Investitionen als auch Massenkonsum antrieb. Das Sinken der Lohnquote, die zunehmende Ungleichheit auch im Zentrum, wirkte sich daher nicht entsprechend dämpfend auf die Nachfrage aus. Man konsumierte vor allem in den USA auf Pump.
Das ging durch die immer weiter gesteigerten Renditeerwartungen als eine Art self-fulfilling prophecy lang, sehr lange, zu lange gut. Der Zusammenbruch des Comecon gab dieser Tendenz sowohl wirtschaftlich als auch politisch kräftig Nahrung. Ohne das Ende des realen Sozialismus wäre der Neoliberalismus wohl viel früher in eine Sackgasse geraten. Verbindlichkeiten und Ansprüche, die zwei Seiten derselben Sache, steigerten sich auf ein Vielfaches des Sozialprodukts, ohne das dies als gefährliche Blase wahrgenommen worden wäre.
Finanziarisierung
Die umfassenden Deregulierungsmaßnahmen kamen bekanntermaßen vor allem dem Finanzsektor zu gute. Es entstand ein regelrechter Casinokapitalismus, der derartige Ausmaße annahm, dass nicht nur die Oligarchie glaubte ohne Industrie reich werden zu können, sondern auch weite Teile des Mittelstands ohne Arbeit. Produktive Arbeit wurde indes ein Rezept zum sozialen Abstieg.
Immer mehr Kapital strömte in den Finanzsektor und weg aus der Industrie. Die Aufblähung der Kapitalmärkte wurde durch die Privatisierungen und vor allem den Zug zu Pensionsfonds massiv gefördert. Doch die Diskrepanz zwischen den in der Realwirtschaft tatsächlich erzielten Renditen und den im Finanzsektor erwarteten, die letztendlich auf nichts anderes beruhen als auf die Umverteilung der Profite in der Realökonomie, wurde an einem gewissen Punkt zu groß. Die Neigung zu immer größerem Risiko schlug plötzlich in Panik um. Die Spekulanten wurden sich gewahr, dass sie sich mitten in einem gigantischen Pyramidenspiel befanden. Der fall Bernard Madoff ist symptomatisch. Er selbst tat dies in betrügerischer Absicht, doch die Stimmung war derart manisch, dass selbst renommierte Institute ihm zu glauben geneigt waren. Letztlich war der gesamte Finanzkapitalismus ein großes Casino, ein gigantisches Pyramidenspiel.
Platzen der Blase
Das im Neoliberalismus erzielte Wachstum war nicht vergleichbar mit jenem der Wirtschaftswunderzeit. Die Einkommenszuwächse auch der breiten Masse waren massiv und trieben einen Zyklus von steigender Nachfrage und Investitionen an. Das Wachstum lag über den Zinsen, die Kredite blieben im Allgemeinen bedienbar. In den Jahrzehnten des Neoliberalismus stellte sich das grundsätzlich anders dar. Die Zinsen lagen über den Wachstumsraten, die Einkommen der breiten Masse hinkten immer mehr hinter her, die Nachfrage wurde durch Kreditexpansion aufrechterhalten, die durch immer neue Ausdehnung bedient wurden. Doch die realen Profitraten gaben diese Aufwärtsentwicklung nicht ewig her. Die immer höher aufgetürmten Ansprüche erwiesen sich als nicht mehr haltbar.
Fehlverteilung
Was ist nun die grundlegende Ursache des Kollapses? Es ist die falsche Verteilung des Konsumptions- in Wechselwirkung mit dem Investitionsfonds der Gesellschaft. Auf der einen Seite wird wichtigen Teilen der Weltgesellschaft der Konsum auf dem Niveau der produktiven Möglichkeiten versagt, was wiederum die Investitionen in eine ungünstige Richtung lenkt. Markt und Profit sind schlechte Steuerungsinstrumente (selbst geronnen in politisch-staatliche Artikulation durch die kapitalistische Elite, denn Markt ohne Staat gibt es nicht). Das gilt besonders in einer bereits eingetretenen Krisensituation. In der Panik kann es dann zum totalen Marktversagen und Zusammenbruch kommen, bis weit unter die produktiven Möglichkeiten hinunter. Bisher haben das die energischen wirtschaftspolitischen Rettungsmaßnahmen der Oligarchie verhindert. Es handelt sich jedoch nur um Symptombekämpfung, zu mehr ist die Oligarchie durch ihre ureigenen Interessen nicht in der Lage.
Akut-Rettung
Dreißig Jahre lang hatten die Eliten über (ihren eigenen) Staat gewettert. Gemeint war seine nach dem Krieg angenommene Funktion der Dämpfung der Ungleichheit und des Ausgleichs. In der Situation des akut bevorstehenden Zusammenbruchs verlangt die Oligarchie jedoch wie selbstverständlich die Rettung, das heißt die staatliche Garantie für ihre angehäuften, sich nun als überzogen erweisende Ansprüche – Risikoübernahme durch den Staat. Der Volksmund hat das Prinzip dahinter richtig erfasst: „Privatisierung der Gewinne, Verstaatlichung der Verluste“.
Dabei hat die Oligarchie noch die Chuzpe die Rettungspakete als im Dienste des Gemeinwohls zu verkaufen, so wie sie das mit der Verschärfung der sozialen Ungleichheit schon vorexerziert hatte. „Wenn wir nicht gerettet werden, dann bricht alles zusammen.“
Mit dieser Erpressung wurden grob geschätzt 10% des Sozialprodukts an die Eliten geschenkt, die in der Folge durch die Austeritätsprogramme bei der breiten Masse der Bevölkerung hereingeholt werden.
Doch es handelt sich dabei keineswegs um eine einmalige Aktion. Trotz sehr großer Unterschiede in den verschiedenen Ländern (gerade auch diese Ungleichgewichte sind wiederum Zeichen der Krise), hat sich die Weltwirtschaft vor allem in den Zentren nicht wieder erholt. Die Rettungspakete wurden mittels der Politik des billigen Geldes, der extrem niedrigen Zinssätze zur permanenten Einrichtung. Gleichzeitig wird in vielen Bereichen die Austeritätspolitik fortgesetzt und sogar radikalisiert, was die globale Nachfrage weiter dämpft und die Krise noch verschärft.
Trotzdem bleiben die Schulden und damit die Ansprüche zu hoch. Der Bankrott einiger Sektoren wird so lediglich aufgeschoben. Ein neuer Zyklus kann nicht in Gang gesetzt werden. Spekulation und Fehlallokation verschärfen die Ungleichgewichte und während auf der einen Seite Teile der Weltgesellschaft in eine tiefe Rezension gestoßen werden, befeuert man anderswo den Aufbau neuer Teilblasen – zu einer Gesamtblase wie vor 2007 wird es wohl nicht mehr kommen.
Unbekannte China & Co
Nicht dass China eine Alternative zum Neoliberalismus bieten würde. Es hat diesen Tiger erfolgreich geritten und von der Globalisierung mit einer umfassenden Industrialisierung profitiert und ist selbst Teil seiner geworden. Das war nur möglich in dem man sich dem Diktat der westlichen Oligarchie und seiner Rezepte nicht vollständig unterwarf, sondern staatlich zugunsten der eigenen Volkswirtschaft eingriff.
Doch die Nachfrageschwäche in den Zentren spürt man auch in China, genauso wie die Auswirkungen der außergewöhnlichen Geldpolitik. Bisher war das chinesische Akkumulationsmodell auf den Export ausgerichtet. Die Frage ist, ob es China gelingen kann seine Abhängigkeit vom Weltmarkt zu reduzieren und den Binnenmarkt zu forcieren? Ist es möglich, dass sich das Reich der Mitte von der Weltwirtschaftskrise zumindest teilweise abkoppelt und damit letztlich auch aufgrund der schieren Größe einen Impuls zur Überwindung der globalen Krise gibt? Oder wird es von der Krise mitgerissen? Diese Fragen sollen hier nicht weiter aufgerollt werden, doch die potentielle Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft als „externer Faktor“ ist klar.
Erpressung zurückweisen
Es muss möglich sein, die dargestellte Erpressung der neoliberalen Oligarchie zurückzuweisen. Nein, wir akzeptieren eure maßlosen Ansprüche nicht. Streichen wir die Schulden, lassen wir die Banken untergehen! Die im Neoliberalismus angehäuften Ansprüche lassen wir verfallen. Was in der Spekulation ergaunert wurde, soll nun mit einem Schlag vernichtet werden. Es ist die berühmte Expropriation der Expropriateure.
Aber halt, was ist mit dem Zusammenbruch, reißt dieser nicht das Volk mit sich? Das ist schließlich der Kern der gegenwärtigen Erpressung durch die Eliten.
Natürlich muss man den Zusammenbruch abwenden, aber dazu müssen der Elite die wirtschaftlichen und politischen Zügel aus der Hand genommen werden, ihr muss das Handwerk gelegt werden. Die Macht muss von Repräsentanten des Volks übernommen werden, die es gegenwärtig (noch) nicht gibt. Diese zu bilden ist die eigentliche Aufgabe und hat sich in der Geschichte als besonders schwierig erwiesen. (Auch das soll anderswo erörtert werden.) Es gibt aber ein paar unmittelbar notwendige Maßnahmen, die einsichtig sind:
Sofortprogramm des Übergangs
Die Zentral- und Notenbanken müssen ihre Unabhängigkeit verlieren, die de facto nichts anderes als die direkte Kontrolle durch die Oligarchie bedeutet.
Die nach Rettung verlangenden Banken sollen zwar rekapitalisiert werden, doch die Kontrolle soll entsprechend in die Hände des Staates und des Volkes (die Kongruenz ist noch herzustellen). Wer zahlt schafft an.
Das ob solcher tiefen Einschnitte in die Substanz seiner Herrschaft in Panik geratene Finanzkapital muss an der Flucht gehindert werden. Es bedarf der Kapitalverkehrskontrollen. Jene Kapitaleigner, die die Herrschaft des Volkes behindern oder sabotieren, sind zu enteignen. Die nationale Souveränität über die Wirtschaft muss wieder hergestellt werden.
Die neue Volksherrschaft muss ein öffentliches Investitionsprogramm vorlegen, das auch das verbliebene private Großkapital lenkt. Damit können die Fehlallokation durch Markt und Oligarchie entsprechend den politisch artikulierten Bedürfnissen der Mehrheit korrigiert werden. Das schließt natürlich auch kulturelle, ökologische und emanzipatorische Möglichkeiten ein. Zudem muss an den globalen sozialen Ausgleich gedacht werden.
Der Masse der Bevölkerung muss tendenziell ein Konsumanteil entsprechend der produktiven Kapazität der Gesellschaft zuerkannt werden. Anders gesagt, die extreme soziale Differenzierung muss schrittweise zurückgeführt werden.
Das sind unmittelbare, erste Schritte aus der Krise. Dabei bleiben natürlich zahlreiche Fragen offen, vor allem nach einer ausformulierten gesellschaftlichen Alternative. Diese ist jedoch nicht am Reißbrett zu entwerfen, sondern muss Produkt eines revolutionären Prozesses sein, der kaum angehoben hat. Entscheidend wird dabei jedoch auch die Verarbeitung der Lehren der gescheiterten postkapitalistischen Versuche der Vergangenheit sein.
18. März 2012