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„Human-Kapital“: I. Teil

13. Mai 2012
Von A.F.Reiterer

I. Globale Einkommensdifferenzen und ihre Schatten in Österreich


In den Jahren 1761 – 1766 unternahm der Friese Carsten Niebuhr eine groß angelegte Orient-Reise, die ihn bis Indien führte. Sein Hauptinteresse galt dem Nahen Osten. U. a. brachte er eine sorgfältige Dokumentation aus Persepolis mit, die einige Jahrzehnte später die Entzifferung der Keilschrift möglich machte. Niebuhr kam durch den Libanon und lernte dort die unterschiedlichen Bevölkerungen kennen. „Kein reicher Maronit lässt seinen Sohn in Europa erziehen, dies würde einem jungen Mann, so nimmt man an, nur schaden. … Auch würde ein Maronit mit dem, was er in Europa gelernt hat, in seinem Vaterland verhungern müssen“ [fn]Niebuhr, Carsten (1778), Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern. Zweyter Band. Kopenhagen: Moeller.[/fn]. Wie das? Das wertevolle Humankapital des damals zwar noch nicht ganz so hoch entwickelten Europa wäre ein Schaden im Libanon?

Unlängst flammte in Österreich eine kurze Debatte auf, die aber auch gleich wieder verstummte. Immigranten kommen nicht nur als Hilfsarbeiter nach Österreich. Tatsächlich haben nicht wenige auch in ihrem Heimatland eine beachtliche formale Ausbildung erhalten. Aber in Österreich bzw. im Westen überhaupt nutzt ihnen dies meist nicht viel. Die formale Ausbildung der Tschechen, Ungarn und erst recht der Asiaten und Afrikaner hat nicht denselben Wert wie jene der Einheimischen. Diese Abkoppelung der Ausbildung vom Einkommen und auch das plötzliche Interesse daran sind theoretisch wie politisch von höchstem Interesse. Und es ist eine hochkomplexe Diskussion.

Tatsächlich sind die Zahlen interessant. Wir müssen noch auf die Daten der Volkszählung von 2001 zurückgreifen, weil wir (noch) keine späteren in derselben Detailliertheit und Fülle haben. Akademiker, die in Österreich geboren sind, sind zu 81,8 % in den beiden obersten ISCO-„Berufshauptgruppen“ aktiv (15,0 % Führungskräfte und 66,8 % Berufe wissenschaftlicher Art), aber nur zu 1,8 % in den untersten vier (Landwirtschaft, ausgebildete manuelle Arbeiter, Handwerker, Hilfsarbeiter). Kommen Akademiker dagegen aus dem Geburtsland Serbien-Montenegro, dann gehören sie beruflich zu 51,7 % (Führungskräfte 14,8 %; „Wissenschaftler“ 36,9 %) in die obersten Gruppen, aber zu beachtlichen 23,7 %, also 13 Mal häufiger als gebürtige Österreicher, in die untersten. Bei Menschen aus dem Geburtsland Türkei ist es ähnlich; bei solchen aus Polen und Rumänien deutlich abgemildert.

Man zog daraus kurz und bündig den Schluss, dass hier „Humankapital“ in großem Ausmaß vergeudet würde.[fn]Biffl, Gudrun / Pfeffer, Thomas / Skrivanek, Isabella (2012), Anerkennung ausländischer Qualifikationen und informeller Kompetenzen in Österreich. Endbericht. Krems: Donau-Universität.[/fn]

Aber der Begriff „Human-Kapital“ ist ein hochideologisches Konzept. Das könnte man übrigens bei jenem Soziologen nachlesen, der, leicht variiert, das „kulturelle Kapital“ zum Schlagwort gemacht hat, bei Pierre Bourdieu. „Wert“ ist nicht nur – wie im marxistischen Denken – eine technische, sondern nicht zuletzt eine politische Größenbestimmung. Es kommt darauf an, woher man kommt, ob aus Österreich oder Afrika – und damit erhält das geflügelte Wort vom „kulturellen Kapital“ plötzlich einen multikulturellen Beiklang, der nicht beabsichtigt war und tatsächlich multikulturell ist, im Gegensatz zu so viel Missbrauch des Worts.

Es geht vor allem um Akademiker aus den neuen, östlichen EU-Staaten. Es geht also darum, diesen Raum politisch so zu homogenisieren, dass die in der Ausbildung weitergegebenen pseudo-meritokratischen Klassenstrukturen an die Stelle bisheriger nationaler oder auch kultureller Zugehörigkeiten treten. Denn, und jetzt müssen wir nochmals etwas theoretischer werden, die riesigen Einkommensunterschiede pro Kopf sind jenen ein Rätsel, die sich auf die mainstream-Ökonomie abstützen.

Die behauptet ja, die Arbeitenden würden nach ihrem „Grenzprodukt“ bezahlt, danach, was der zuletzt hinzukommende Arbeiter in einem Betrieb mit gegebener Kapitalausstattung und in einer Volkswirtschaft mit einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion erzeugt: Man nimmt an, dass Arbeit und Kapital nicht komplementär sind, also in technisch und wertmäßig festen Verhältnissen zueinander stehen, sondern durch einander ersetzbar sind: 2 Einheiten Kapital ersetzen also z. B. einen Arbeiter. Dabei gibt es abnehmende Erträge: Jede neu hinzu kommende Arbeitskraft erzeugt technisch weniger. Diese Grenzproduktivitäts-Theorie des Lohns ist in der Regel empirisch ganz unzutreffend – aber nicht immer. Man denke an Branchen mit starken Renten-Elementen, etwa die Energie-Erzeugung. Die Preise sind hoch, die Gewinne dementsprechend auch. Daher leistet es sich die Elite, die Arbeitenden gut zu bezahlen, damit sie privilegiert und zufrieden sind. Das kommt auch in anderen Branchen vor. Der Chef bei Volkswagen erhält 17 Mill. Euro; doch fällt für die Arbeiter immerhin auch ein wenig ab. Es ist eine ausgeprägte sektorale Arbeiter-Aristokratie.

Das Argument ist zirkulär: Die Verkaufspreise (der „Output“) hängen im Wesentlichen vom Faktoreinsatz, d. h. den Faktorkosten, ab. Und die werden wiederum durch das „Grenzprodukt“, d. h. die Preise erklärt. Der physische Output, also z. B. Tonnen Eisen, kommt gar nicht vor. Nur am physischen Output ließe sich aber technische Produktivitätsveränderung unzweifelhaft erkennen. Alles Andere muss erst einmal belegt werden. Insbesondere stellen „Erziehung“ und „Bildung“, im Wesentlichen den Klassenaspekt der Produktionsverhältnisse dar. Die wenigsten Bildungs-Elemente sind in der Produktion von Nutzen (daher „pseudo-meritokratisch“). Akademische Bildung wird von der geschichteten Gesellschaft der Gegenwart höher bewertet. Dass sie physisch produktiver ist, müsste erst einmal bewiesen werden. Das ist in einer hoch vernetzten und total komplementären Gesellschaft bzw. Wirtschaft praktisch und theoretisch unmöglich. Humankapital ist also die sprachlich-technokratische Verkleidung eines Klassen-Verhältnisses. Es ist der Ausdruck eines herrschaftlichen Verhältnisses in einer global hierarchisch geordneten Welt. Herkunft zählt, nicht weil sie technisch bedeutsam ist, sondern weil sie den kleinen Unterschied ermöglicht. Und Herkunft muss man sehr „intersektional“ denken, um in den postmodernen Jargon zu verfallen: Verweiblicht ein Beruf, dann sinkt das Einkommen daraus, auch wenn sich technisch nichts ändert. Das ist strukturell dasselbe wie die Abwanderung vieler Produktionen in die Dritte Welt:

„Humankapital“ ist ein kulturabhängiger Komplex von schichtspezifischen Verhaltens- und Denkweisen. Kulturspezifisch waren denn auch bis vor historisch kurzer Zeit die unterschiedlichen Produktionsweisen [fn]Sahlins, Marshal (1981), Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt / M.: Suhrkamp.[/fn]. „Spuren“ davon, nämlich wesentliche Produktivitätsunterschiede zwischen verschiedenen Regionen, haben sich bis in die Gegenwart erhalten. Das Humankapital der Tradition war wesentlich auf die sozialen Beziehungen ausgerichtet. Das gilt natürlich auch für die westlich europäische Welt heute. Eine quasi asoziale Technik ist ein Konzept, welches nur aus der absoluten sozial-politischen Dominanz der okzidentalen Kultur entstehen konnte. Das heißt nicht, dass unsere Technik keine Rolle spielt. Wohl aber heißt es, dass die Bewertung sowohl der Produktion als auch der zu ihr hinführenden Technik nicht zuletzt auch eine Frage der Bewertung ist, der westlichen Hegemonie. Das aber gilt es bei jeder Analyse mitzubedenken, und wir werden die Folgerungen in einem weiteren Beitrag ausführen.

Die plötzliche Sorge um die Integration von Zuwanderern aus einigen Ländern und die Vergeudung deren „Human-Kapitals“ ist im Wesentlichen ein Versuch, die pseudo-meritokratische Struktur unserer Klassengesellschaft zu stärken und die irgendwie altmodische erkennbare Diskriminierung auf Grund von Herkunft einzugrenzen auf Fälle, die man leichter rechtfertigen kann.

[In einem zweiten Beitrag werden wir die Schlussfolgerungen für die Verteilungsstruktur in unserer Welt ziehen.].

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