Der Unterschied zwischen dem Output pro Arbeitskraft – man kann auch mit vertrauterem Klang sagen: des BIP pro Kopf – zwischen den USA und den schlecht entwickelten Ländern ist riesig. Er macht z. B. zu Äthiopien das 132fache aus, wenn man in Wechselkursen (Äthiopien 2010: $ 361), und immer noch das 48fache, wenn man zu KKP rechnet (Äthiopien: 1.003; USA: $ 47.700 sowohl für Wechselkurse als auch für KKP, da sie das „switch-Land“ sind). Aber weder die Kapitalausstattung noch der Unterschied in der Bildung – die für die USA notorisch überschätzt wird – „erklärt“ rechnerisch mehr als einen kleinen Teil dieses Unterschieds. Rund 80 % bleibt „unerklärt“.
Nun könnte man die einzelnen Komponenten näher ansehen. Die Kapitalausstattung zeigt riesige Unterschiede. Der Kapitalkoeffizient K/Y wurde z. B. für Äthiopien auf 0,5 geschätzt, für Ägypten auf 0,4, für Österreich dagegen auf 3,0 [fn]McGrattan, Ellen R. / Schmitz, James R. (1008), Explaining Cross-Country Income Differences. Federal Reserve Bank Research Staff Report[/fn] (die österreichische Statistik hat dagegen wenige Jahre später den Kapitalkoeffizienten mit 3,7 berechnet). Diese Schätzung beruht auf globalen Preisen / Werten. Würde man sie (z. B. mit einem I-O-Modell) in nationalen Arbeitswerten schätzen, dann würden für die Dritte Welt mit Sicherheit wesentlich höhere Werte, etwa dasselbe wie für uns, heraus kommen. Das ist theoretisch absolut fundamental, doch können wir die Thematik hier nicht weiter verfolgen.
US-amerikanische Untersuchungen [fn]Hendricks, Lutz (2002), How Important is Human Capital for Development? Evidence from Immigrant Earnings. In: AER 92, 198 – 219[/fn]. kamen zum Schluss, dass die Unterschiede zwischen den Ländern im Output pro Kopf weder durch Technikausstattung noch durch Humankapital noch durch TFP (Total Factor Productivity; Gesamtfaktor-Produktivität) erklärt werden können. Das ist ein überaus wichtiges Ergebnis. Aber diese Untersuchungen erklären den Unterschied durch den Unterschied. TFP ist eine Residualgröße, der nicht erklärbare Rest der Produktivitäts-Unterschiede, das „Solow-Residuum“. Man muss es also interpretieren. Das Konzept wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert erfunden. Rein quantitative Kapital-Akkumulation (Modell Harrod-Domar) kann den stetigen Produktivitäts-Zuwachs nicht erklären. Man hat damals technischen Fortschritt als Deus ex machina heran gezogen.. Heute packt man Alles hinein, von der Infrastruktur bis zu staatlichen Institutionen.
Diese Faktoren dürften alle eine ziemlich hohe Bedeutung haben – aber anders, als in der mainstream-Ökonomie behauptet. Bislang wurde dies aber nur angenommen, nicht bewiesen. Sehen wir uns nun die Argumentation an.
Trotz all dem ist das entscheidende Ergebnis: „Die Einkommen sind bestimmt vom Land, wo die Personen arbeiten, nicht von dem, aus welchen sie [z. B. als Immigranten] kommen. … Physisches und Humankapital können die Unterschiede in den Einkommen zwischen den Ländern zum größten Teil nicht erklären“ [fn]Hendricks, Lutz (2002), How Important is Human Capital for Development? Evidence from Immigrant Earnings. In: AER 92, 198 – 219[/fn].
Das Unvermögen, die Wohlstandsunterschiede zu erklären, hängt von den Grundannahmen der mainstream-Ökonomie ab. Wechselt man von der neoklassischen Ideologie in eine Kostenwert-Auffassung (z. B. in eine Arbeitswerttheorie), dann wird das Bild klarer. Wir dürfen allerdings diese Kosten- oder Arbeitswert-Auffassung nicht zu orthodox marxianisch sehen. Es kommt auf die Lohnbestimmung an. Und die ist keineswegs technisch vorgegeben. Es ist eine essenziell politische Angelegenheit, und zwar in doppelter Weise: einmal hängt sie von der Zugehörigkeit zum politischen System eines Kern- bzw. eines Peripherie-Lands ab; und einmal von der Frage nach den politischen Möglichkeiten der Arbeitenden innerhalb des betreffenden Lands und seines globalen bzw. regionalen Kontexts.
Beginnen wir mit Letzterem. Sind die Arbeitenden in der Lage, ihren Wert, ihren Lohn in einem bestimmten Umfang durchzusetzen, dann wirkt dies auf die Bewertung des Produkts zurück. Das kann ein materielle Produkt sein, oder ein Dienst. „Gehobene Dienste“ sind solche, die in der Regel von gut bezahlten Akademikern geleistet werden und daher teuer sind. Das ist ein Klassenaspekt. Die meisten dieser Dienste könnten auch von formal weniger gebildeten Menschen angeboten werde. Aber das ist oft nicht erlaubt. Die Verkäuferinnen in Apotheken müssen nun einmal akademisch gebildet sein. Und vergessen wir nicht: Die VGR nimmt die öffentlichen Dienste, und diese Dienste machen mittlerweile ein Drittel des BIP aus, mit den Faktorkosten in die Entstehungsrechnung.
Gehen wir zu einem beliebigen materiellen Produkt der Ersten Welt. Dies wird nach einer Kostenrechnung nicht zuletzt nach den Marktaussichten im Inland verkauft; aber es geht auch in den Export. Und hier sind wir schon beim zweiten politischen Faktor. Hier wiederum ist es auch eine Frage der Hegemonie, welchen Preis man auf dem Weltmarkt durchsetzen kann. „Inca Cola“ in Peru schmeckt wie „Red Bull“. Aber es ist seit Jahrzehnten eine belächelte lokale Marke. Red Bull dagegen, in irgend einer obskuren Quetsche in Österreich erzeugt, jedoch aus einem Land des hoch entwickelten Kerns, wurde mit viel Geschick und Aufwand auf dem Weltmarkt gepusht und dort angenommen. Nun ist es plötzlich ein Hochwert-Produkt und hat dem Herrn Mateschitz ein riesiges Vermögen verschafft. Ähnlich hatte die Praktika aus der seinerzeitigen DDR trotz ihrer hervorragenden Optik gegen die modische Canon oder sogar die Yashika im Westen keine Chance; und editorisch und drucktechnisch (leider nicht im Papier) mustergültigen DDR-Ausgaben literarischer Klassiker wurden in Österreich um ein Bruchteil des Preises der hiesigen Ausgaben verkauft. Die Beispiele sind aufschlussreich: Es geht häufig keineswegs um irgendwelche Hightech-Produkte. Es geht vielmehr darum, dass die Herkunft aus einem Land des Kerns, welches an der Definition von Hegemonie mitwirkt, dem Produkt Prestige und Erfolg verschafft, wie es einem Produkt der Dritten Welt kaum einmal gelingt. Der „Wert“ der Produkte aus der Dritten Welt und damit das Einkommen in diesen Ländern hängen in quantitativ hohem Maß von der politischen Stellung des Lands und von der kulturellen Hegemonie des Westens ab.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die weitere Analyse ist theoretisch und empirisch hochkomplex, und alle Zusammenhänge sind damit keineswegs schon klar. Wohl aber heißt es: Die technokratische Rechtfertigung westlicher Dominanz ist eine Ideologie.
Die globale Klassenstruktur ist nur in bescheidenem Ausmaß in dem Sinn (pseudo-) meritokratisch, wie es unser eigenes westliches System zu sein vorgibt. Sie baut auf ganz anderen, weitaus diffuseren Kriterien auf und ist im Wesentlichen kulturalistisch. Hier fand die Globalisierung des westlichen Modells bis jetzt eine ziemlich scharfe Grenze, wenn man sie als Replik des westlichen Modells auf Weltebene verstehen will. Die globale Klassenstruktur ist wesentlich von regionalen Zugehörigkeiten abhängig. Die wiederum spiegeln kulturelle Dimensionen wieder. Der „Entwicklungsstand“ ist u. a. auch eine solche kulturelle Dimension. Man sie wieder in mehrere Faktoren zerlegen: das Sozialsystem; die politische Struktur; die Erwerbsmentalität, usf. Inwieweit die materielle Infrastruktur (Kommunikation; Verkehr; Bildungseinrichtungen; usf.) auch dazu zählt, ist von der Fragestellung abhängig.
12. Mai 2012