Die Diskussion mit Yves Wegelin von der Schweizer WOZ verspricht interessant zu werden: Ausgangspunkt war der Umgang mit dem von Israel benutzten Begriff der „Judaisierung“. Doch bei seinem nachvollziehbaren Angriff auf den ethnischen Nationalismus holt er gleich zum Schlag gegen das nationale Selbstbestimmungsrecht aus. Der entscheidende Unterschied von unterdrückten und herrschenden Nationen kommt indes nicht zur Sprache. Viel mehr scheint er seine Hoffnung in die Auflösung der Nationen zu setzen, im Sinne einer linken Version der Globalisierung. Ob da unter dem Strich nicht wieder die Herrschaft des Stärkeren herauskommt?
Judaisierung ein rassistischer Begriff
Vorab wollen wir Wegelin gleich recht geben. Der Begriff der „Judaisierung“ ist rassistisch. Israel fasst damit seine Politik die Palästinenser zu vertreiben und das Land durch sein Staatsvolk – nach zionistischer Definition die Juden der ganzen Welt – zu ersetzen. Das betrifft nicht nur Jerusalem und die intensive Siedlungstätigkeit im Westjordanland, sondern auch israelisches Staatsgebiet. Israelische Staatsbürgerschaft mit arabischem Hintergrund werden ebenso als Gefahr betrachtet, die es demographisch zu bekämpfen gilt.
Der Zionismus nimmt dabei die Juden in kollektive politische Geiselhaft. Israel maßt sich das Recht an, für die jüdischen Religions- und zunehmend Kulturgemeinschaft als ganze zu sprechen. Das zionistische Projekt besteht darin, die Juden von einer Religions- oder Kulturgemeinschaft in eine territoriale Nation zu transformieren und mit Unterstützung des Westens arabisch besiedeltes Land zu kolonisieren.
Der Zionismus ist inspiriert von den übelsten Formen des europäischen nationalen Chauvinismus. Er kombiniert biologistischen Rassismus mit Religions- und Kulturchauvinismus. Was für den europäischen Mainstream angesichts der Massaker des Zweiten Weltkriegs nur mehr schwer verdaulich ist, bleibt in Israel gang und gebe.
Korrekt übersetzt bedeutet „Judaisierung“ einfach zionistische Besiedelung oder israelischer Kolonialismus. Dennoch schießt der Angriff Wegelins auf die Verwendung dieses Begriffs durch den „Globalen Marsch auf Jerusalem“ über sein Ziel hinaus. Ist es der arabischen und islamischen Öffentlichkeit zu verdenken, wenn sie das was Israel Judaisierung nennt auch unter diesem Titel bekämpft? Geht es da nicht eigentlich um etwas anderes, wenn man den mittels einer solchen Operation Unterdrückten die Methode der Unterdrücker unterschiebt, Unterdrückte und Unterdrücker auf eine Stufe stellt?
Klar: man kann gar nicht intensiv genug der israelischen Anmaßung entgegenzutreten, der Staat aller Juden zu sein. Im Gegenteil muss es darum gehen, den Unterschied zwischen Judentum und Zionismus herauszuarbeiten und klarzumachen. Die GMJ-Initiative tat dies auch indem sie Jerusalem als Symbol und Stadt aller drei monotheistischen Weltreligionen, also explizit das Judentum einschließend, betrachtete, während sie den zionistischen Alleinanspruch über Jerusalem und Palästina radikal ablehnte.
Jeder Nationalismus gleich?
Doch um was geht es Wegelin eigentlich, wenn man scheinbar doch der gleichen antirassistischen Grundeinstellung verhaftet ist? Angeklagt wird der historisch in Europa entstandene chauvinistische Nationalismus, der „ethnisch oder gar biologisch homogene Nationen“ postuliert und – wir fügen hinzu – mit dem Ziel die Anderen innen oder außen zu bekämpfen. Das ist abstrakt im Jargon der Postmoderne gesprochen. Politisch konkret ging es darum, gegen die imperialistischen Rivalen zu mobilisieren und den Klassenkampf im Inneren zu ersticken. So weit so gut.
Stutzig wird man das erste Mal, wenn Woodrow Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Nationen angegriffen wird. Kritik ist indes notwendig, denn den USA als aufstrebende Weltmacht ging es tatsächlich darum, den europäischen Rivalen ihre Kolonialreiche abzunehmen und in die eigene Einflusssphäre zu überführen. Doch nicht darum geht es.
Wegelin geht weiter. Er zieht eine allzu gerade Linie hin zu den nationalen Befreiungskämpfen in den Kolonien und sogar der Solidaritätsbewegung im Westen. Klar, es kann und soll nicht geleugnet werden, dass ab und an nationale Befreiungsbewegungen Ideologeme aus dem Arsenal des imperialistischen Nationalismus übernahmen, namentlich der arabische Nationalismus und nicht nur dieser. Doch für Wegelin ist das kein Kritikpunkt, sondern systematisch, der Kern der Sache.
Verräterisch ist dabei der modern gewordene, fast synonyme Gebrauch der Begriffe „ethnisch“ und „national“. „Ethnisch“ ist mittlerweile zu einem sehr problematischen Begriff geworden, den wir möglichst zu vermeiden suchen, denn er ist höchst unbestimmt und führt dennoch eine Konnotation mit sich. Warum waren es die „ethnic Albanians“, die im Kosovo kämpften, obwohl sie eindeutig national inspiriert waren und nationalistische Ziele hatten? Warum spricht man von „ethnischen Säuberungen“ in Palästina und nicht von nationaler Vertreibung, kämpfen doch die Palästinenser um die Anerkennung als Nation? Mit den von Ethnos abgeleiteten Begriffen wird etwas Prä-nationales transportiert, sei es kulturell, biologisch oder sozio-organisatorisch. Letztlich beinhaltet es ein Residuum von Eigenschaften, die der bewussten, willentlichen politischen Bestimmung entzogen bleiben. Wir bevorzugen daher den Begriff „national“, denn um den kann politisch gekämpft werden, von der biologistisch-rasistischen, über die gegenwärtige kultur-chauvinistische Interpretation bis hin zur Willensnation, wie sie Wegelin vorschlägt. Doch seine Nation ist völlig leer, abstrakt. Sie hat keine Sprache oder Kultur oder sonstige Attribute, die sozial determiniert sind aber trotzdem nicht global homogen. Das gehört bei ihm alles auf die Seite des Ethnos und steht im offenen Gegensatz zur reinen Nation als „soziale, politische Konstruktion“.
Abstrakter Gesellschaftsvertrag jenseits der Organisation der kapitalistischen Gesellschaft
In der allgemeinen Form können wir der Idee der staatlichen Organisation als soziale und politische Konstruktion natürlich nur zustimmen, genauso wie der Warnung vor dem Versuch der Homogenisierung. (Im Gegensatz zu Wegelin sehen wir aber das nationale Selbstbestimmungsrecht im globalen Kontext – und das ist der entscheidende – als Instrument zum Schutz vor der Homogenisierung.) Noch mehr sind wir natürlich für den Kampf um soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Doch das bleibt alles höchst abstrakt.
Die Herrschaft der kapitalistischen Eliten kann nur in ihrer konkreten Organisationsform begriffen und entsprechend bekämpft werden. In Palästina und der arabischen Welt in vermittelter Weise nimmt diese die Form des Zionismus und der nationalen Unterdrückung der Araber an. Natürlich sind die arabischen subalternen Klassen auch sozial unterdrückt und der arabische Frühling ist nicht umsonst zu einem guten Teil auch eine soziale Revolte gegen den Neoliberalismus, der die arabischen Eliten mit Israel und dem Westen verbindet, ja sich auf letztere abstützt.
Warum muss man den arabischen Subalternen aufzwingen sich nur sozial befreien zu dürfen, obwohl sie zweifellos auch als Nation unterdrückt sind und sich auch so fühlen? Das zeigt sich nicht nur im Fortbestehen verschiedenster Spielarten des Nationalismus, sondern letztlich auch im Islamismus, der islamische Symbolik als Ersatz für den gescheiteren säkularen Nationalismus anbietet.
Natürlich besteht zwischen nationaler Selbstbestimmung und umfassender Emanzipation kein automatisches, notwendiges Verhältnis. Das hat die Geschichte eindringlich gezeigt. Doch umgekehrt ist es sehr wohl so. Ohne die nationale Fremdherrschaft durch Zionismus und Westen abgeschüttelt zu haben (die das Rückgrad des regionalen Herrschaftssystem des Kapitalismus bilden), kann es keine soziale Befreiung und kulturelle Emanzipation geben.
Nationale Befreiung ist indes kein isoliertes Ziel, das alleine erreicht werden könnte, sondern komplizierter und teilweise auch widersprüchlicher, aber notwendiger Teil eines größeren Emanzipationsprojekts. In diesem Kampf geht es darum die Nation als demokratisch zu formieren, gegen die repressive Homogenisierung und für die soziale Gleichheit.
Das gilt natürlich nicht nur für Palästina, sondern beispielhaft auch für die Tamilen, die Kurden oder auch die Basken. Natürlich sind gemeinsame Lösungen die besten, aber diese sind nur wirklich frei und beständig, wenn sie auf dem nationalen Selbstbestimmungsrecht beruhen. Anders gesagt, die nationale Selbstbestimmung wird erst dann obsolet und überwunden, wenn sie erfüllt ist. Wenn die türkische, singalesische oder spanische Elite von Gemeinsamkeit spricht, dann müssen die Alarmglocken läuten.
Ein oder zwei Staaten – Hauptsache gleiche Rechte?
Erst in diesem Kontext wird die Lockerheit begreiflich mit der ein gemeinsamer demokratischer Staat gleichwertig neben die Zweistaatenlösung gestellt wird – unter der höchst abstrakten Voraussetzung der gleichen Rechte für alle. So ein Kunstgriff ist nur aus den lichten Höhen derjenigen Aufgeklärten möglich, die für sich den Nationalismus als überwunden wähnen. Historisch konkret könnte der Gegensatz zwischen den beiden Konzeptionen indes nicht größer sein.
Gleiche Rechte erfordert das Ende des Zionismus und seines Staates Israel. Das ist das Projekt des palästinensischen Befreiungskampfes gegossen in die Nationalcharta, die der ehemaligen Kolonialbevölkerung die gleichen Rechte anbietet.
Das Weiterbestehen Israels bedeutet im Gegensatz dazu die Anerkennung der zionistischen Landnahme und des Kolonialstaates. Anders als in Südafrika kann die Elite in Israel ohne den Kolonialstaat nicht weiterexistieren, während sich die südafrikanischen und internationalen Elite am Kap der Guten Hoffnung heute pudelwohl fühlt und die schönsten Profite einstreift. Die Zionisten können keine gleichen Rechte zugestehen, ohne sich dabei selbst aufzulösen. Sie kann also nur gestürzt werden – durch den auch nationalen Befreiungskampf der Palästinenser im Bündnis mit jenem Teil der Israelis, die aufhören wollen Israelis zu sein. Denn Israel ist ein Apartheid-Staat oder ist nicht.
Erst auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts für die arabischen Palästinenser können diese über eventuelle binationale Varianten nachdenken. Denn der Zionismus hat im Laufe eines Jahrhundert eine israelische Nation geschaffen, die zwar ohne ihren Kolonialstaat starke Veränderungen erfahren wird, aber sich dennoch nicht wieder in eine religiöse Gemeinschaft der Herkunftsnationen auflösen wird. Diese komplizierte Problematik ist in der allgemeinen Formel vom gemeinsamen demokratischen Staat lösbar, aber deswegen dennoch noch nicht gelöst.
Dem Globalismus nicht auf den Leim gehen
Vor gut einem Jahrzehnt hatte Toni Negri in unsäglicher Weise das Ende des zentralisierten Imperialismus, damit der Nationen und folglich auch des Befreiungskampfes proklamiert. Den amerikanischen Angriff auf den Irak und den globalen Terrorkrieg Bushs lief ihm dann als „Backlash“ beiläufig über den Weg. Es entsprach der Stimmung der 90er Jahre, die Globalisierung von unten zu erträumen und den national organisierten Kampf gegen das kapitalistische Imperium abzulehnen, das es unter Clinton nicht mehr zu geben schien. Heute, nach mehr als zehn Jahren des westlichen Kreuzzuges gegen den Widerstand der Subalternen scheint die glatte Ablehnung jeder nationalen Befreiung als noch befremdlicher.
Aktuell kommt da noch die Krise des neoliberalen Europas hinzu. Niemanden kritisch Denkenden war es entgangen, dass die EU als Institution der neoliberalen Eliten diente. Dennoch nahm man ihr das Friedensprojekt gegen den historischen Nationalismus ab. Daher nicht raus aus der EU, sondern für das soziale Europa – so lautete die Formel der Mainstream-Linken. Die Ablehnung der EU wurde als rechter Rückfall verteufelt.
Doch heute kann man, wenn man will, klarer sehen. Die soziale Pumpe EU für die Umverteilung von unten nach oben kennt als Rezept nur eines: die weitere Beschleunigung dieser Pumpe. Das Großkapital lässt sich mittels der gemeinsamen EU-Institutionen retten, während die Massen vor allem an der Peripherie gnadenlos in die Armut getrieben werden. Wenn sie rebellieren und die nationalen Eliten zum Schein oder auch wirklich um Gnade winseln, dann wird der Fiktion der nationalen Souveränität endgültig der Schleier heruntergerissen.
Wie können die Subalternen sich diesem brachialen Kurs der kapitalistischen Oligarchie widersetzen? In dem sie zuerst die deutschen Unter- und Mittelschichten davon überzeugen, dass sie keine faulen Säcke sind, die sich auf ihre Kosten in der sozialen Hängematte liegend die Bäuche vollgeschlagen haben? Oder indem sie die nationale Souveränität gegen ihre nationale Oligarchie erkämpfen, das Gebäude der EU zum Einsturz bringen, die europäischen Eliten schwächen und so den deutschen Subalternen als politisches Vorbild dienen?
Zudem würde man diesen Kampf tatsächlich rechten bis neofaschistischen Gruppen wie der „Goldenen Morgenröte“, irgendwelchen Franco-Freunden oder Abkömmlingen der italienischen Neofaschisten überlassen. Die Suche nach (nationaler) Identität nach dem Zerfall von 89/91 kann oft reaktionär sein, ist es aber nicht notwendig:
Der Kampf um die nationale Selbstbestimmung und Souveränität wird auch bestimmt von der Art des Gegners (daher die entscheidende Unterscheidung von unterdrückter und unterdrückender Nation). Wenn dieser die globale kapitalistische Oligarchie ist, dann gibt es Chancen die Nation mit einem fortschrittlichen Inhalt zu füllen, denn letztlich kann nur so der Kampf für die soziale Befreiung gewonnen werden. Das schließt den Kampf gegen die Homogenisierung mit ein. Basken, Sarden und Sizilianer etc. würden sich in diesem Kampf gestimmt mehr engagieren, wenn man ihnen das territoriale Selbstbestimmungsrecht gewährte. Und Millionen von Arabern, Türken und Osteuropäern in Westeuropa kann man kulturelle Autonomierechte einräumen genauso wie endlich die Religionsfreiheit auch für Moslems in Europa wiederhergestellt werden muss.
Wien, Anfang Mai 2012
Historie der Debatte:
Aufruf zum Globalen Marsch nach Jerusalem (GMJ)
www.jerusalem-marsch.de/aufrufe.html
Erste Kritik Yves Wegelins, WOZ
www.woz.ch/-28c8
Repliken
www.antiimperialista.org/de/node/7292
Zweite Kritik Yves Wegelins, WOZ
www.woz.ch/1216/ethnischer-nationalismus/ueber-die-judaisierung-ostjerusalems