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Moslembrüder gewinnen mit „Ersatzreifen“

Niederlage für die gespaltene revolutionäre Mehrheit


27. Mai 2012
Mohammaed Aburous

Die Wahlen stellen nicht nur aufgrund der Situation, unter der sie stattfinden, nämlich ohne Verfassung und mit einem regierenden Militärrat, sondern auch in ihren Ergebnissen einen Sieg für das alte Regime dar. In Kairo herrscht heute Frustration. Die Bewegung zahlt im Moment den Preis für ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame politische Linie bzw. eine konsensuelle Führung zu bestimmen.


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Noch ist die Auszählung der Stimmen der ersten Präsidentschaftswahlen nach dem Aufstand vom Winter und Frühling 2011 im Gang. Mit einem endgültigen Ergebnis ist nicht vor Donnerstag, 31. Mai zu rechnen. Doch die Auszählungen in den großen Wahlkreisen zeigen einen deutlichen Trend: Mursi, Kandidat der Moslembrüder (MB) liegt mit etwa 26% der Stimmen vorne. Auf ihn folgt erstaunlicherweise der Kandidat des Regimes Schafiq, der in der Lage war, 25% der Stimmen für sich zu gewinnen. An der dritten und vierten Stelle sind der Panarabist Hamdin Sabahi und der MB-Abgänger Abu-Futouh mit 18 – 20%. Die Stichwahlen werden also zwischen den Kandidaten des alten Regimes und jenem der traditionellen MB-Führung stattfinden. Revolutionäre Stimmen haben sich zwischen Sabahi, Abu-Futouh und Boykott aufgespalten. Die Wahlen stellen nicht nur aufgrund der Situation, unter der sie stattfinden, nämlich ohne Verfassung und mit einem regierenden Militärrat, sondern auch in ihren Ergebnissen einen Sieg für das alte Regime dar.

Erste Überraschung: Moslembrüder gewinnen das Rennen mit dem „Ersatzreifen“

Das Verhalten der MB zu den Präsidentschaftswahlen war vom Anfang an widersprüchlich. Anfangs betonten sie, sie würden keinen Kandidaten stellen. Als Abu-Futouh seine Bereitschaft, als Unabhängiger zu kandidieren bekanntgab, wurde er von den MB ausgeschlossen. Indem sie sich auf ihre parlamentarische Mehrheit und die Hoffnung auf Machtbeteiligung mit dem Regime konzentrierten, entfernten sich die MB von der Tahrir-Bewegung. Mehrere politische Manöver, in denen sie näher zum Militärrat standen als zur Protestbewegung, kosteten sie viel an Glaubwürdigkeit und Popularität. Revolutionäre Elemente (vor allem die Tahrir-Jugend) wurden sogar von der Bewegung ausgeschlossen und gingen zu Abu-Futouh über und kurzfristig schien es, also ob dieser sich als der Träger einer neuen, modernen islamischen Bewegung etablieren könnte.

Die Kandidatur des ehemaligen Geheimdienstchefs Omar Suleiman und die anfängliche Ablehnung der Militärs, ein Politikverbotgesetz für Mubarak-Männer zu akzeptieren, lockte die MB zur Präsidentschaftskandidatur. Ihr erster Kandidat, Schahhat, wurde ausgeschlossen, da er vorbestraft war und weil es die Islamisten im Parlament verabsäumt haben, unter Mubarak bestrafte Aktivisten zu rehabilitieren.

Der Ersatzkandidat, Mursi, galt als eine schwache Figur, die auch kaum pro-revolutionäre Vorgeschichte hatte. Mursi ist so uncharismatisch, dass er auch als „Ersatzreifen“ bezeichnet wurde. Trotzdem waren die MB in der Lage, mit den traditionellen Methoden (religiöse Mobilisierung, Stimmenkauf) ihre Wähler zu mobilisieren und mit einer schwachen Figur eine gute Mehrheit zu gewinnen. In seinem Twitter-Account schrieb MB-Parlamentschef Katatni: „Selbst wenn wir einen Hund als Kandidaten aufgestellt hätten, hätte er gewonnen.“

Nichtsdestotrotz sind die MB in den großen Städten nicht die dominierende Kraft. Sie verloren im Vergleich zu den Parlamentswahlen etwa die Hälfte der Wählerstimmen zugunsten von Kandidaten, die für einen demokratischen, praktisch säkularen Staat auftreten (Schafiq, Dabahi, Abu-Futouh und Moussa)

Zweite Überraschung: Das Regime ist auch mobilisierungsfähig

Sieht man von der Möglichkeit einer Wahlfälschung ab, so ist der Sieg Schafiqs die zweite Überraschung dieses Wahlgangs. Sie deutet auf die Tatsache hin, dass das Regime ebenfalls mit traditionellen Methoden (Stimmenkauf, Erpressung von Angestellten, Kirche) mit einer fast nicht ernst zu nehmenden politischen Figur wie Schafiq in der Lage war, an zweiter Stelle zu landen und „revolutionäre“ Kandidaten zu überholen. Überraschend ist hier auch, dass der andere Kandidat des Regimes, Amre Moussa, mit 10% weit zurückliegt, da er offensichtlich nicht die Gunst der Militärs genießt.

Ein weiterer Faktor ist die Angst vieler Bevölkerungsgruppen vor einer Machtübernahme der Islamisten. Die koptische Kirche unterstützte Schafiq, was aus dem Wahlverhalten der Christen aus den armen Vierteln und vor allem vom Land abzulesen ist.

Sprecher der Wahlkampagne von Schafiq konnte sich angesichts der Ergebnisse nicht zurückhalten, das „Ende der Revolution“ zu erklären. Die Tatsache, dass Schafiq zur Stichwahl steht, wird große Teile der Opposition hinter dem (wenn auch nicht revolutionären) MB-Kandidaten sammeln.

Dritte Überraschung: der säkulare Hamdin überholt den islamistischen Abu-Futtouh

Eine weitere Überraschung sind die Ergebnisse des säkularen, nasseristischen (panarabistischen) Kandidaten Hamdin Sabahi. Er liegt an dritter Stelle knapp hinter Schafiq und überholte den Islamisten Abu-Futouh um einige Prozentpunkte. Abu-Futouh erhielt vor allem die Stimmen der Salafiten, deren Kandidat Hazem Ismail aus formalen Gründen von den Wahlen ausgeschlossen worden war. Er erhielt auch die Stimmen von großen Teilen des revolutionären Lagers (MB-Jugend, Linke und selbst Nasseristen). Sie hatten in Abu-Futouh einen Konsenskandidaten gesehen, der in der Lage ist, auch pro-islamische Stimmen aus dem Umfeld der MB zu bekommen. Sabahi, der von allen Kandidaten über die geringsten Mittel verfügte, kam jedoch an dritter Stelle. In Alexandria und in mehreren Vierteln Kairos liegt er sogar in Führung.

Diese Fehleinschätzung der Linken kostete Sabahi wertvolle Stimmen, die ihn in die zweite Runde hätten bringen können. Das Bedürfnis großer Teile der Bevölkerung nach einer säkularen Opposition zum Regime wurde unterschätzt.

Vierte Überraschung: Abu-Futouh konnte das MB-Lager nicht spalten

Sabahi hat auch Abu-Futouh um wertvolle Stimmen gebracht. Die Summe der Stimmen beider Kandidaten des revolutionären Lagers hätte einen Kandidaten theoretisch in die Stichwahl gebracht.

Auch wenn Abu-Futouh einen großen Teil der pro-revolutionären Stimmen erhielt, so blieb die Kernwählerschaft der MB unbeeinflusst. Sogar Nasseristen haben ihn gewählt, weil er als der sicherere Kandidat galt, der Stimmen aus dem islamistischen Lager holen würde.

Mit etwa 40% der Wählerstimmen gelten jedoch Sabahi und Abu-Futouh als die Anführer des revolutionären Lagers. Mit einer offiziellen Politik, die traditionell das Regime und die MB als zwei Polen sieht, ist die Angst der Wähler vor dem Verlust ihrer Stimmen dominierend. Es werden daher die „sichereren“ Kandidaten gewählt. Viele Christen und Säkulare wählten Schafiq aus Angst vor den Islamisten. Viele Revolutionär/inn/en wählten Abu-Futouh als der vermeintlich sicherere Kandidat. Kandidaten links von Sabahi bzw. moderate Islamisten schnitten bei diesen Wahlen sehr schlecht ab.

Signifikanter Wahlboykott

Die Wahlbeteiligung liegt tief unter jener der Parlamentswahlen im vergangenen Herbst. Ein wichtiger Teil der Aktivist/inn/en boykottierte die Wahlen, weil diese ohne Verfassung und unter einem Militärregime stattfanden. Dazu kommt auch eine zunehmende Passivität in der Bevölkerung, da die Machtlosigkeit des Parlaments dunkle Schatten über die Perspektive eines Machtwechsels mit Hilfe von Wahlen wirft. Obwohl er signifikante Ausmaße annahm, konnte der Wahlboykott angesichts dieser Ergebnisse seine politische Botschaft nicht vermitteln.

In Kairo herrscht heute Frustration. Die Bewegung zahlt im Moment den Preis für ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame politische Linie bzw. eine konsensuelle Führung zu bestimmen.

Die bitteren Optionen

Die zweite Wahlrunde findet im Juni zwischen MB und Regime statt. Diese Polarisierung ist eher schädlich, da viele den Wahlgang als eine Wahl zwischen dem alten Regime und seiner Reproduktion betrachten. Viele Säkulare (und vor allem Christen) werden zuhause bleiben bzw. Schafiq wählen.

Sowohl für das Regime als auch für die MB ist diese Konstellation hingegen angenehm. Beide müssen nicht gegen revolutionäre Kräfte antreten. Verliert das Regime gegen Mursi, so wird es mehrere Wege finden, die Machtübergabe unendlich zu verzögern. Gewinnt das Regime, so wird die gesamte Demokratiebewegung in Frage gestellt.

Für die MB ist der Antritt gegen einen Kandidaten des Regimes eine Chance, ein breiteres Spektrum hinter sich zu mobilisieren und die Führung der Opposition zu übernehmen. Es finden schon heute Gespräche statt, nach denen Sabahi und Abu-Futouh als Mursis Vize-Präsidenten ernannt werden sollen.

Am Ende des heutigen Tages ist der Gewinner (neben dem rechten Flügel der MB) das Regime. Alleine die Tatsache, dass diese Wahlen unter seinen Bedingungen und mit Beteiligung der meisten politischen Kräfte stattfanden, ist ein politischer Sieg für das Militär. Das Ergebnis selbst verleiht dem Regime eine Legitimität, die es früher nur durch massiven Wahlbetrug erlangen konnte.

Radikalisierung

Für die revolutionären Kräfte in Ägypten bedeutet dieser Tag eine wichtige Wende. Ihre Kandidaten gewannen im ersten Durchgang etwa 40% der Wählerstimmen. Mit Sabahi und Abu-Futouh haben sie auch zwei Führer gefunden, die weitgehend auf Zustimmung der Bewegung stoßen. Scheitert der politische Prozess, so ist eine Radikalisierung der politischen Kräfte in Sicht. Die ersten Proteste gegen Wahlbetrug sind schon im Gange. Spätestens bei den kommenden Erhöhungen der Benzinpreise um 100% Ende Juni ist mit einer Welle sozialer Proteste zu rechnen. Diese werden für jeden Präsidenten Ägyptens, wie immer er auch heißen mag, die größte Herausforderung darstellen.

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