„Innere Abwertung“ ist ein unerlässlicher Prozess in einem Währungsgebiet mit hohen Produktivitäts- und Wohlstands-Unterschieden.
Aber die „Innere Abwertung“ hat in der Euro-Zone nach 1999 nicht funktioniert. Schließlich drängte eine Mehrheit der Griechen, Spanier, Portugiesen und Italiener gerade deswegen in den Euro, im Gegensatz zu vielen Deutschen und Österreichern, weil sie mit ihrem eigenen Zustand und der Regierung und folglich der jeweiligen Landeswährung unzufrieden waren. Sie wollten ihre Lage bessern, nicht verschlimmern – und das schien vorerst auch zu funktionieren: Die Zinsen sanken dramatisch, die Inflationsraten auch, und die Reallöhne verbesserten sich ein wenig. Von „Innerer Abwertung“ war keine Rede. Die Südländer wollten auch nicht abwandern. Im Gegenteil: Nicht wenige kamen zurück aus dem Arbeitsexil des Nordens oder der USA.
Und dann gab es den großen Knall – in den USA vorerst. Das Echo erreichte bald auch Europa: Irland, die BRD, kaum Österreich. Die Bankenkrise 2008/2009 wurde zum Auslöser der Euro-Krise. Die Banken waren misstrauisch geworden, gegeneinander, aber auch gegen die Staaten. Sie überprüften nicht nur kurzfristige Spekulationen, sondern auch längerfristige Engagements, z. B. Staatsschulden. Und nun waren Griechenland, Portugal, Spanien und vielleicht auch Italien und Andere fällig. IWF, EZB und EU, dort vor allem die BRD, forderten nun die „Innere Abwertung“ ein: massive Lohn- und Pensionskürzungen, Entlassungen, etc. Die Verarmung setzte ein.
Aber offenbar ging die Brutalität zu weit. Eine Spirale nach unten kam in Gang. Die Wirtschaften im Süden brachen nahezu zusammen. Das hätte die Elite noch hingenommen. Aber die Verarmung führte in Griechenland zu einer Situation, wie es sie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gab: Es grenzt an eine revolutionäre Krise.
Die EU reagierte mit dem Spielchen „bad guy“ und „good guy“. Das Gesicht des bad guy trägt Merkel. Der good guy ist noch nicht ganz fix – François Hollande bewirbt sich intensiv um die Rolle. Dieses Spiel stellte nun die Inszenierung des letzten EU-Gipfels dar. Aber es ging um Einiges mehr. Die europäische politische Klasse fürchtet noch ihre Bevölkerungen. War dies also ein Strategie-Wechsel? Wie man’s nimmt.
Das Ziel bleibt das Gleiche, und die Mittel im Wesentlichen auch. Aber in einem Punkt änderte sich nicht nur die Taktik. Die markigen Merkel-Sprüche der vergangenen Tage – sinngemäß: „nur über meine Leiche“ – waren zwar sowieso für das heimische Publikum bestimmt. Aber in Einem dürfte sie doch etwas begriffen haben: In Hinkunft wird nicht mehr die deutsche Regierung selbst das Programm durchziehen können. Die EU-Bürokratie, insbesondere die EZB, wird noch stärker.
Aber durchgezogen und sogar verschärft wird das Programm. Der Stab geht somit an die EZB. Das ist unter all den undemokratischen EU-Institutionen die am wenigsten demokratische. Die Stahlhelme in der BRD können sich also zurück lehnen und sich in die unauffälligere zweite Reihe zurück ziehen. An der Reihe sind Mario Draghi und Herman van Rompuy – aber in Kollusion mit den Marionettenregierungen des Südens. Denn der Handel heißt: eine geringfügige kurzfristige Erleichterung gegen langfristige völlige Abhängigkeit. Und die für Manche so stoßenden Bedingungen braucht man nicht mehr gesondert erwähnen. Dafür sorgen schon Rajoy und Monti e tutti quanti selbst. Das war ja auch bisher schon das Geschäft. Sehen wir es uns an!
1992 machte der langfristige Zinssatz (Staatsanleihen) in Spanien 11,7 %, in Portugal 13,8 % und in Griechenland 24 % aus. Das war damals offenbar „tragbar“. Heute macht der Zinssatz 5,5 % in Spanien, 10,2 % in Portugal und gewichtige 19 % in Hellas aus (2011 – mittlerweile etwas höher). Die im Vergleich zu vor zwei Jahrzehnten niedrigeren Zinssätze sind aber jetzt „untragbar“. Man könnte argumentieren, dass damals die Inflation deutlich höher war. Aber zum Einen war der um die Inflation bereinigte Zinssatz in Spanien und Portugal auch nicht höher – anders in Griechenland! Zum anderen besteht der Großteil der Staatsschulden aus Auslands-Schulden, und da spielte die heimische Inflation keine erleichternde Rolle, die schleichende Abwertung von damals aber eine erschwerende.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Natürlich freut man sich über niedrige Zinsen. Aber die große Frage ist: Was ist der Preis dafür? Der Preis, das waren zuerst die Implosionen von 2009 an; und jetzt heißt der Preis Abschaffung der Demokratie und das Protektorat Berlins/Brüssels.
Als unverbesserlicher Optimist allerdings finde ich in einer politischen Dialektik noch ein Körnchen Hoffnung. Warum ist denn heute der im historischen Vergleich nicht so überaus hohe Zinssatz „unerträglich“? Weil er die Regierungen verhindern würde, die Politik der Bestechungen weiter zu führen. Die nationalen Regierungen und die EG/EU hatten höheren Wohlstand versprochen, und die Bevölkerungen nahmen sie beim Wort. Ein zu drastisches Herabkürzen des Niveaus für die Mehrheit der Bevölkerung wie in der Peripherie, in Griechenland und ansatzweise auch in Spanien, ließe den letzten Rest an Legitimität flöten gehen. Aber die politische Klasse steht noch immer in Konkurrenz untereinander um die offenbar doch attraktiven Posten. Diese Art von Demokratie will man möglichst nicht aufgeben. Demokratie als Entscheidung über eigene Anliegen geht zwar verloren. Und doch wollen sie die Bevölkerung nicht über ein gewisses Maß belasten – wenn es sich vermeiden lässt…
Gehen wir nochmals zum Europäischen Rat der vergangenen Woche zurück!
Wer Verschwörungs-Theorien liebt, könnte sich bestätigt fühlen. Man könnte fast meinen, die europäische Elite hat die Euro-Krise selbst herbei geführt. Endlich kann sie ihr Imperium ausbauen. Wir wissen allerdings, dass diese Krise den Herrschaften höchst ungelegen kam. Das Ergebnis läuft aber auf dasselbe hinaus. Die Krise wird genutzt, um einen mächtigen Schritt auf den postdemokratisch-zentralen Staat zuzutun. Dieses Ziel aber wurde nie verheimlicht. Es ist seit einem Vierteljahrhundert in allen Dokumenten nachzulesen – leider tun dies nur wenige! Verwundern kann es nicht. Ist doch der Stil so, dass dagegen die Papiere des ZKs der KPdSU transparent erscheinen.
Verloren ging in der Hysterie z. B., dass der nächste Staat praktisch aufgenommen wurde. Montenegro ist einer der übelsten Korruptions- und Mafiastaaten der Region, einer jener, weshalb der Begriff Balkan zum Schimpfwort wurde. Makedonien und Albanien warten auch schon um die Ecke.
Vor einiger Zeit dachte ich noch, mit diesem Prozess würde sich die EU ihr eigenes Grab schaufeln. Das war ein Fehlurteil. Ein bisschen rührt es davon her, dass wir alle der pausenlosen EU-Propaganda unterliegen und bisweilen die deklamatorischen Ziele fast ernst nehmen. Faktisch stärkt die ständige Aufnahme solcher Staaten die zentrale Bürokratie.
Und der „Wachstumspakt“? Es geht wie üblich um neue Phrasen: Diesmal heißen sie „smartes“ Wachstum (ein halbes Dutzend Mal im kurzen Text), „gesunde“ Finanzen (ein alter Hut) und jene „grüne Ökonomie“, welche die indigenen NGOs gerade in Rio als Hauptmittel der Zerstörung ihres Lebensraums angeprangert haben. Die Pensionskürzungen sind natürlich auch wieder dabei („ensuring the sustainability of the pension system“). Daneben gibt es eine Fülle von Einzelvorhaben, die zum Großteil in den einzelnen Mitgliedsstaaten schon versagt haben: die Anstellung von Jugendlichen oder Arbeitslosen auf Kosten der Arbeitsämter; der Abbau von Regulierungen, d. h. Kontrolle; die Förderung von Kleinstunternehmen, der berüchtigten „Ich-AGs“; usw. Alles dient zwei Zwecken: der diskreten Subventionierung der Unternehmen und dem Machtgewinn der zentralen Bürokratie.
Dieser „Gipfel“ versucht ein weiteres Mal, die Euro-Krise mittel mehr vom Bisherigen zu bewältigen: mehr Zentralisierung, mehr Demokratie-Abbau, mehr Banken-Subventionen. Wenn die Bevölkerung weiter zusieht, hat die Elite auch Erfolg: Sie wird zwar nicht die wirtschaftliche Krise bewältigen, wohl aber die politische.
2. Juli 2012