Das Südost-Institut, damals noch München, lud die Teilnehmer einer kleinen Arbeitstagung zu einem Mittags-Imbiss in einem griechischen Lokal um die Ecke ein. Die Wirtin, nicht an solchen Auftrieb gewöhnt und ein bisschen neugierig, fragte uns, was wir machten. Auf die Antwort: Südosteuropäische Geschichte und Politik, auch Griechenland, meinte sie: „Aber bitte nicht so wie Fallmerayer!“
Erstaunlich, dass eine Wirtin mit dem Namen Fallmerayer was anfangen kann. Wer war dieser Mann, dass ihn manche Griechen noch heute nicht nur kennen, sondern verabscheuen?
Gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts publizierte ein bis dato unbekannter Sprachwissenschaftler und Reisebegleiter eines russisch-adeligen Kavaliers durch den Vorderen Orient eine Reihe von Büchern und Texten. Sie machten ihn schlagartig berühmt. Johann Jakob Fallmerayer (1790 – 1861) war ein Südtiroler. Als Kind von Kleinbauern sollte er Geistlicher werden. Aber er interessierte sich mehr für Politik und Geschichte. Der griechische Aufstand hatte ihn dazu gebracht, sich mit den Ideen der Philhellenen auseinander zu setzen. Dabei kam er zu einer ganz anderen Sicht als sie üblich war: Fallmerayer provozierte ganz bewusst die philhellenische deutsche und westeuropäische Öffentlichkeit seiner Zeit. Sie hatte eben tatkräftig, finanziell und durch Druck auf ihre jeweiligen Regierungen, die Gründung eines neugriechischen Staats und in der Folge der griechischen Nation betrieben. Die heutigen Griechen, so sagte Fallmerayer, sind keineswegs die Abkömmlinge der so verehrten antiken Griechen. Hellas war bereits im 6. Jahrhundert vollkommen slawisch, romanisch und albanisch besiedelt. Die spätere Wieder-Annahme der griechischen Sprache in der Form der Dimotiki, der gesprochenen Volkssprache, war eine Re-Assimilation von einigen wenigen Städten aus. Und überhaupt haben die Armatolen und Kleften, die Banditen und Diebe des neugriechischen Staats, mit den edlen Eigenschaften der Antike nicht das Geringste zu tun. Gegen „den Hellenenglauben jener Deutschen …, welche die Gemütsbewegung der Jahre 1821 – 27 geteilt und empfunden haben“, ruft Fallmerayer (1845, 379 und 277) die eigene Erfahrung zum Zeugen: „Hätten wir denn umsonst der Reihe nach alle Provinzen des byzantinischen Reiches durchwandert und besucht?“ Zugespitzt: Die griechische Nation ist ein hellenisierendes westeuropäisches Missverständnis. Die Intellektuellen der Aufklärung haben – aus heutiger Sicht richtig – das westeuropäische Konzept auf den Balkan exportiert. Die Entwicklung dieser Nation war ein reiner Zufall aus der Kombination von westeuropäischen Stimmungen, osmanischem Modernisierungsversagen und politischen Strukturtendenzen im Bereich des größeren Europa. Ähnliches ließe sich natürlich von den meisten Nationen sagen.
Fallmerayers Thesen machten Sensation. Wirklich durchsetzen konnten sie sich nicht, obwohl er einige sorgfältig gearbeitete historische Werke verfasste. Doch er meinte es nicht nur als Provokation, er meinte, was er sagte. Und er wünschte damit den Griechen kein Kompliment zu machen. Er lässt keinen Zweifel daran: Für die Slawen hatte er nichts übrig.
Fallmerayer brachte eine Reihe valider Argumente gegen diese Kontinuitätsthese seit der Antike vor, doch er tat dies aus der Denkweise des damaligen frühen Ethno-Nationalismus. Er lässt die Griechen von den „Slawen“ abstammen. Und das ist in seiner Sicht ganz und gar nicht schmeichelhaft. Er wird schließlich in eine reine Geschichtsmystik abgleiten, die nicht zufällig 1943 von den Nazis während des Weltkriegs ihren Soldaten an die Front nachgesandt wurden.
Wir brauchen hier auf Fallmerayer, seine Thesen und seinen verborgenen Rassismus nicht näher einzugehen. Er war konservativer Ideologe mit katholischen Wurzeln und vertrat einen lupenreinen westeuropäischen Suprematismus.
Aber viele Griechen tragen ihm seine Behauptungen von ihrer slawischen Herkunft bis heute nach. Und hier beginnt es für uns interessant zu werden.
Der EU-Anschluss der südeuropäischen und noch viel stärker der osteuropäischen Gesellschaften war in den Bevölkerungen dort überaus populär. Und noch heute verbirgt die radikale Linke – womit nicht Syriza insgesamt gemeint ist, sondern nur einige Strömungen in ihr – ihre EU-kritische Haltung, weil sie meint, damit würde sie Abwehr und Unwillen in der Bevölkerung hervorrufen. Um was geht es eigentlich?
Es geht um zwei Fragen:
Zum Einen will ein Großteil der Griechen „zu Europa“, zum hoch entwickelten Kern der Welt gehören, nicht zur Peripherie. Das ist durchaus eine Frage der Identität. Sie wollen nicht Menschen zweiter Klasse sein, von oben herab abfällig angesehen. Dass dies so oder so passiert, dass in Österreich z. B. die „faulen Griechen“ geradezu zum Gegenbild dessen wurde, was ein aufrechter Hiesiger sein will, das wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen. Sie haben offenbar diese halb-rassistische, halb-kulturalistische Auffassung selbst übernommen. Der größte Erfolg für die Herrschenden ist es, wenn die Beherrschten die hegemoniale Sichtweise so total übernehmen, dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, ein nicht so sehr subalternes als vielmehr subversives Gegen-Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Um nicht selbst kulturalistisch zu werden, muss man natürlich dazu sagen. Das ist nicht die ganze Geschichte. Immerhin hat fast das ganze erste Jahrzehnt des Euro dem Land Geld aus Westeuropa und vor allem eine scheinbar gar nicht so üble Entwicklung gebracht. Dass dies eine riesige Blase war, wollen viele nicht zur Kenntnis nehmen. In diesem Sinn haben auf ihre zynische Weise die Konservativen Recht: „Die Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt!“ Der Euro-Kurs war nicht auf griechische Verhältnisse und die griechische Produktivität abgestimmt. Österreich und Deutschland könnten mit einem viel höheren Kurs im Außenhandel auch noch leben, und es wäre längerfristig sogar von Vorteil – aber das ist eine andere Sache. Die griechische Wirtschaft aber bräuchte einen sehr viel niedrigeren Kurs.
Aber politisch geht es zuerst einmal um die Identität.
Und das gilt nicht nur für Griechenland. Das gilt für Spanien, Portugal und auch für Italien, obwohl dies dort viel komplizierter ist. Und natürlich erst recht gilt es für die Oststaaten. Es gilt vorwiegend (aber nicht nur) für solche Staaten und Gesellschaften, wo die Bevölkerung schon früh vom politischen System schwer enttäuscht wurde und eine Ausflucht suchte. Es war also nicht zuletzt Symptom für eine Krise konkreter nationaler Gesellschaften. Ich erinnere mich, wie vor gut einem Jahrzehnt mir ein Südtiroler. der sich selbst vermutlich als „links“ deklariert hätte, auf mein entsetztes Gesicht bezüglich seiner NATO-Tendenzen ganz naiv sagte: Aber auch ein besserer Staat ˗ und er meinte die EU ˗ braucht nun einmal eine eigene Armee.
Solange die Linke nicht bereit ist, diese Wahrheiten in aller Offenheit anzusprechen, solange kein neues oppositionelles Selbstbewusstsein in diesen Ländern massenhaft Platz greift, ist eine Mobilisierung gegen den Euro und gegen die EU insgesamt ein frommer Wunsch.
14. September 2012