Basis gegen Basis
„Freitag der Rechenschaft“ hieß die Mobilisierung der oppositionellen Kräfte in Ägypten zu einer Protestkundgebung am Tahrir-Platz anlässlich der ersten hundert Tage Amtszeit von Präsident Mursi. Die oppositionellen Kräfte, die den Kern der Tahrir-Bewegung bilden, protestierten auch gegen die Verfassungskommission, die nach ihrer Auffassung das alte Repressionsregime reproduziert und ihm lediglich einen religiösen Anstrich gibt.
Die Führung der Partei Hurriyya & Adala, der politischen Partei der Moslembrüder (MB), rief kurz danach zu einer Kundgebung am Tahrir-Platz auf, welche von der MB-Regierung die Absetzung des Staatsanwalts fordert. Dieser hatte alle Anklagen im Zusammenhang mit dem Aufstand von Jänner 2011 zurückgezogen. Unter dem Deckmantel, Inhaftierte freizulassen, wurden die Verantwortliche für die Morde an Protestierende freigelassen. Der bekanntgegebene Beschluss Mursis, den Staatsanwalt abzusetzen (und zugleich zum Botschafter im Vatikan zu ernennen!) verstößt gegen die Verfassung, nach welcher die Absetzung des Staatsanwalts nicht unter die Kompetenz des Präsidenten fällt. Die MB-Mobilisierung hatte das Ziel, den Beschluss des Präsidenten zu unterstützen. Nach ihr sollte der Tag „Freitag der Abrechnung“ (mit den Mördern an Demonstranten im Jänner 2011) heißen. Sie wurde von einer Kampagne gegen die Opposition und ihre Freitagskundgebung begleitet.
Dass die MB einen Pseudoprotest gegen die eigene Regierung zeit- und ortsgleich mit einer Anti-Mursi-Kundgebung planen, deutet weniger auf die Ignoranz der MB-Führungsregie als auf den Willen, die Proteste zu unterdrücken. Die Konfrontation war vorprogrammiert. Unter vollkommener Abwesenheit der Sicherheitskräfte griffen MB-Anhänger die Demonstranten an und zerstörten die Bühnen, die am Tahrir aufgestellt waren. Sie versuchten die ankommenden Demonstrationszüge daran zu hindern, den Tahrir zu betreten. Die Straßen um den Platz waren erneut Schauplatz von Konfrontationen, diesmal zwischen Oppositionellen und zivilen Milizen der MB. In Alexandria und anderen Orten Ägyptens gab es ähnliche Auseinandersetzungen. Die Mobilisierung von Oppositionskräften wurde dadurch nur stärker. A, Ende des Tages waren sie in Überzahl und zwangen die MB zum Rückzug. Ergebnis eines langen Tags der Zusammenstöße waren hunderte Verletzte, davon mehrere in kritischem Zustand.
Zu Beginn der Auseinandersetzungen dementierten die MB die Beteiligung ihrer Mitglieder. In einem Statement, das an die Aussagen des Mubarak-Regimes im Jänner 2011 erinnerte, hieß es, die Angreifer seien einfache Bürger, die ihren geliebten Präsidenten verteidigten. Photos und Aufnahmen vom Tahrir-Platz zeigten jedoch Personen, die Symbole der MB und ihrer Partei trugen. Während ein Sprecher der MB deren Präsenz am Tahrir dementierte, rief über Twitter Isam el-Eryan, ein hochrangiger MB-Politiker seine Anhänger dazu auf, sich an der Museums-Ecke des Tahrir zu versammeln, was auch geschah. Am Abend beklagte sich El-Eryan über die Verbrennung eines Autobusses am Tahrir, der für den Transport von MB-Anhänger verwendet wurde. Dadurch gab er zu, dass die Schläger MB-Ahänger waren. Sie waren sogar mit Autobussen zum Ort des Geschehens verfrachtet worden.
Machtkampf unter MB?
Interessanterweise dementierte ein Sprecher des Präsidentenamts am Abend die Existenz eines Beschlusses von Mursi, den Staatsanwalt abzusetzen. Er bezeichnete das Thema als ein voreiliges mediales Auftreten von manchen Beratern des Präsidenten. Die Mobilisierung von El-Eryan gegen den Staatsanwalt, gerade am Tag der Oppositionsdemos, ist daher absurd.
El-Eryan zählte ursprünglich zum moderaten Flügel der MB, der sich in den Zeiten des ehem. Morsched [arab. für Wegweisers, Anführer der MB] Omar Telemsani gebildet hat. Unter Mubarak war Eryan auch der Kontaktmann der MB zu den anderen Teilen der ägyptischen Opposition und verfügte über gute Beziehungen zur Linke. Nach dem Austritt von Abu-Futouh verließ ein wesentlicher Teil dieses Flügels die MB. El-Eryan, der sich unter der Dominanz der eher sektiererischen Qutob*-Anhänger marginalisiert fühlt, versucht offensichtlich durch aggressive Handlungen seinen Einfluss innerhalb der MB auszubauen.
100 Tage Mursi
Die Bilanz der hundert ersten Tage Amtszeit von Mursi war erwartungsgemäß nicht besser als die von einem halben Jahr MB-Mehrheit im Parlament. Bis auf die Entfernung des Militärrats, offensichtlich aufgrund einer Abmachung mit dem Apparat und den USA, kann Mursi keine Reformansätze vorweisen. Auch wenn die Regierung die offizielle Armutsgrenzen auf etwa 256 Pfund (35 Euro)/Monat gesenkt hat, bleiben 22,5% der Bevölkerung unter dieser Grenze. Die Wirtschaftspolitik Mubarak wird fast unverändert fortgesetzt. Auch in der Außenpolitik weist Mursi, mit der Ausnahme der vor Kurzem verlorenen Konfrontation um den antimoslemischen Film, keine großen Veränderungen auf.
MB-Kampf gegen „die Straße“
Die erste Maßnahme der neuen Regierung, die spürbare Folgen haben wird, ist das neue Ladenschlussgesetz. Unter dem Vorwand, Strom zu sparen, will Primärminister Hischam Qandil das traditionelle Nachtleben Kairos ein für allemal beenden. Ab zehn Uhr sollen Läden, Kiosks und Kaffeehäuer zusperren. Die Stadt, die bis in die frühen Morgenstunden lebt, wird früh ins Bett geschickt. Betroffen sind dabei tausende Kleinbetriebe und die Arbeitskräfte, die dort schichtweise arbeiten. Kaffeehäuser, traditionelle Sammelpunkte von politischen Aktivisten (nicht für MB), werden von der Kairoer Gemeinde seit dem Abgang Mubaraks bekämpft und unter jedem erdenklichen Vorwand zugesperrt. Nun will Qandil mit diesem Beschluss diese Versammlungsorte endgültig auflösen. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit spontaner Demonstrationen verringert und Zufluchtsorte für Demonstranten eliminiert. Was die Armee mit der Nachtausgangssperre nicht erreichen konnte, wollen die MB mit „Stromsparmaßnahmen“ erreichen.
Um den Klassencharakter dieses Beschlusses zu begreifen, muss berücksichtigt werden, dass von diesem Beschluss große Kaufhäuser ausgenommen sind. Auch Kaffeehäuser mit touristischer Zulassung werden ausgenommen. Die Kosten einer derartigen Zulassung treiben die Preise dieser Lokale in eine Höhe, die für die typische Klientel des Kairoer Zentrums nicht leistbar ist.
Die Umsetzung dieses Beschlusses wird wahrscheinlich zu großen Konflikten mit der Obrigkeit führen. Es stellt sich hier auch die Frage, ob die MB dies alleine mit den polizeilichen Organen durchsetzen können, oder erneut auf die zivilen Milizen der MB zurückgreifen.
Neue Diktatur?
Dafür scheint momentan das Hauptanliegen der MB, ihre Macht im Staatsapparat zu verfestigen. Bei der Verteidigung Mursis als „Symbol der Nation“ und „geliebten Präsidenten“ greifen die MB einen Diskurs auf, der an die Zeiten von Mubarak erinnert. Auf mehreren Ebenen werden alle Gegner Mursis den Anhängern Mubaraks gleich gemacht. Linke und liberale Führungsfiguren wie Hamdin Sabahi oder El-Baradei sind die Zielscheibe einer Diffamierungskampagne, die offensichtlich das Ziel hat, sie als potentiell gefährliche Gegenkandidaten zu eliminieren.
Neben den Hauptmedien der MB sorgen „elektronische Komitees“ im Internet für diese Stimmung. Basisorganisationen der MB bilden Milizen, die im Fall von Protesten bzw. Streiks zu gewaltsame „Gegendemonstranten“ werden. Neuerdings werden auch Paragraphen gegen „Religionsbeleidigung“ verwendet, um kritische Schriftsteller und Aktivisten vor Gericht zu stellen. In ihrem Diskurs greifen die MB die Oppositionskräfte an und stellen sie in dieselbe Ecke wie die Mubarak-Anhänger.
Der Versuch der MB, sowohl die Regierung als auch die Opposition in ihre Macht zu bringen, nimmt faschistoide Tendenzen an. Zur Mobilisierung wird eine überhistorische islamische Identität verwendet. Eine Opferhaltung, die sich aus ferner und naher Geschichte ernährt, wird zur Rechtfertigung eines Revanchismus verwendet. Dieser richtet sich gegen alle Gegner der MB. Dazu kommen Führerkult und der Diskurs von „Ruhe und Ordnung“, die sich hinter einem undefinierten, an Demagogie grenzenden „Renaissance“-Projekt verbergen. Der Diskurs des „Produktionsrad“ richtet sich gegen streikende Arbeitskräfte (im Moment streiken in Ägypten die Ärzte für Reformen im öffentlichen Sektor sowie Hafenarbeiter gegen Privatisierungen) Auf der Basisebene bedient sich die Mobilisierung neuen Feindbildern, die häufig in einem Atemzug kommen: Schiiten, Liberalen und Freimaurern.
Der Doppeldiskurs der MB erreichte einen Höhepunkt, als am 18. Oktober Mursi einen neuen Botschafter nach Tel Aviv schickte. In seinem Protokollbrief an den israelischen Präsidenten Shimon Peres begrüßte er diesen als „großen Mann“ und „lieben Freund“, und wünschte ihm und „sein Land“ ein Leben im Wohlstand. Am Selben Tag noch rief Mohammad Badi’a, der Mursched (Anführer; Arab. Für Wegweiser der MB) die Jugend zum Jihad in Palästina! MB-Anhänger rechtfertigten den Brief von Mursi als „Routine-Korrespondenzen“.
Offensichtlich handelt es bei der Jihad-Erklärung des Morscheds ebenfalls um Routine.
Eine tolerantere Analyse würde das holprige Verhalten der MB mit deren mangelnder Regierungserfahrung erklären, die zu Überreaktionen und Paranoia gegenüber der Opposition führt.
Es besteht aber die nicht unberechtigte Befürchtung, dass die MB, bei ihrem Versuch den Staatsapparat in ihrer Macht zu bringen und diese Macht zu festigen, auf dem besten Weg zu einer neuen, effizienteren Diktatur sind.