Die übergroße Mehrheit der Ägypter hinter sich wähnend, ging der Präsident davon aus, dass der Tahrir marginal bleiben würde. Denn aus dem Verfassungsprozess hatten die Islamisten die demokratischen Revolutionäre noch im Block mit den Militärs ausgeschlossen. In maßloser und unbedachter Selbstüberschätzung glaubte man, jegliche Opposition als Säkularismus dem alten Regime zuordnen und isolieren zu können.
Tatsächlich erhob sich der Tahrir abermals und scharrte eine breite Koalition aller jener Kräfte hinter sich, der einzig die Ablehnung der Islamisten gemeinsam ist. Grob gesprochen handelt es sich um die Hälfte der Bevölkerung – eine schwache Hälfte, denn ihr fehlt es im Gegensatz zu den Islamisten an politischer Artikulation und Organisation. Die politische Grundlage dieses Zweckbündnisses zwischen Linken, Liberalen und dem säkularen Teil der alten Eliten (dabei soll nicht übersehen werden, dass ein anderer Teil der Eliten mit den MB geht) ist ausgesprochen dürftig. Allzu leicht kann der Umarmungsversuch der Elitenliberalen gegen den Tahrir gewendet werden.
Indes war Mursi von der Macht des Aufbäumens gegen die Konsolidierung der Herrschaft der Muslimbrüder sichtlich überrascht. Er musste das autoritäre Dekret zurücknehmen, dass seine Verfassung panzern sollte. Das Referendum konnten die Muslimbrüder mit Ach und Weh durchsetzen, allerdings zu einem sehr hohen Preis. Trotz des Einsatzes des wohlorganisierten Apparats der Muslimbrüder sowie der salafitischen Flankendeckung blieb die Wahlbeteiligung mit rund einem Drittel miserabel gering und auch der Abstand von 10 Prozentpunkten zwischen Ja und Nein falsifiziert die islamistische Behauptung, den Volkswillen zu vertreten. Im politischen Nervenzentrum Kairo sowie in der Provinz Gharbiyya, die mit Mahalla das Herz der Textilindustrie beherbergt, deren Beschäftigte in jahrelangen Kämpfen den Umsturz mit vorbereitetet hatten, mussten die Islamisten sogar Niederlagen hinnehmen. Zudem kommen zahllose Vorwürfe von Unregelmäßigkeiten begangen durch ihre Organisationsmaschine.
Von einem überwältigenden Sieg der Islamisten kann also keine Rede sein. Der Kampf geht mit unverminderter Heftigkeit weiter, denn die Opposition wurde nicht geschlagen. Die MB haben ein blaues Auge abbekommen. Aus dem heraufbeschworenen KO-Sieg ist formal ein knapper Erfolg nach Punkten geworden, der sich leicht in einen Pyrrhus-Sieg verwandeln könnte.
Nach dem groben Fehler der MB liegt der Ball nun beim Tahrir, von dessen politischer Intelligenz der Ausgang dieser Runde abhängt.
Synthetisiert gibt es zwei Szenarien: Einerseits den säkularistischen Frontalangriff zum Sturzes Mursis und andererseits ein vorläufiges Hinnehmen einer islamischen Regierung in systematischer Opposition für grundlegende demokratische und soziale Reformen.
Die erste Variante sieht die Hauptgefahr von den Islamisten ausgehen. Es gibt eine große Bandbreite von Interpretationen von ultralinks bis hin zu liberal-säkular. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie Mursi unmittelbar stürzen wollen und die Islamisten als Usurpatoren ansehen. Sie tendieren dazu, deren Einfluss und Verankerung im Volk zu verkleinern. Sie polarisieren damit den Konflikt — gewollt oder ungewollt — entlang der Hauptfrontlinie islamisch-säkular. Sie liefern damit ihren Feinden die wichtigste Munition, nämlich dass es um die Verteidigung des Islams ginge. Sie drängen so das islamistische Lager zusammen, statt es zu differenzieren.
Hier setzt die zweite Variante an. Sie geht davon aus, dass der Islamismus und insbesondere die Moslembrüder über Jahrzehnte tiefe Wurzeln im Volk geschlagen haben (egal ob es sich nun um eine Mehrheit oder eine starke, organisierte Minderheit handelt). Doch wichtige Teile ihrer Basis sind nicht immun gegenüber den Forderungen der Revolutionäre oder unterstützen sie sogar, auch wenn sie nicht so weit gehen wollen und am Islam als Symbol festhalten. Zentral ist die Idee, dass die Massen die praktische Erfahrung einer islam(ist)ischen Regierung machen müssen, um urteilen zu können. Das bedeutet keineswegs sich einer solchen Regierung zu ergeben oder diese passiv zu erdulden. Vielmehr geht es darum, die demokratischen, sozialen und antiimperialistischen Forderungen der Mehrheit an die islamische Macht heranzutragen, zu insistieren, zu kritisieren, zu erzwingen und so einen Reifungsprozess in Gang zu bringen – bewusst unter Aussparung der Machtfrage. Das heißt für einige Zeit die Oppositionsrolle hinzunehmen (wodurch man sich gleichzeitig ungewollte Bündnispartner vom alten Regime vom Leib schafft, auf die man andernfalls nicht verzichten könnte). Denn um die Machtfrage zu stellen müsste der Tahrir die übergroße Mehrheit des Volkes hinter sich haben. Würde er das annehmen, verfiele er in die gleiche Hybris wie die Islamisten, zumal ohne Apparat.
Auf drei zentrale Punkte könnte sich der Tahrir indes politisch konzentrieren:
a) Der fortgesetzte Kampf um eine verfassungsgebende Versammlung, die durch Volkswahl bestimmt wird. Das ist auch nach dem Referendum möglich und notwendig, denn die Kritik am undemokratischen Charakter des verfassungsgebenden Prozesses ist völlig richtig. Das heißt aber nicht notwendigerweise die aus diesem Verfahren hervorgegangen Institutionen prinzipiell zu boykottieren. Der Kampf um Hegemonie geht auch über die Wahlen zu diesen. Dabei muss man im Auge behalten, dass Wahlen, bei denen unterschiedliche gesellschaftliche Programme real zur Auswahl standen, in Ägypten ein Novum sind und trotz aller Unzulänglichkeiten als Fortschritt begriffen werden.
b) Die soziale Frage hat enorme Sprengkraft, die potentiell für eine sozialrevolutionäre Kraft spielt. Nicht umsonst hat Mursi alle von der globalen Oligarchie diktierten Maßnahmen wie Aufhebung von Preissubventionen auf nach dem Referendum verschoben. Doch ein Konzept der selbständigen sozialen Entwicklung in Opposition zu den kapitalistischen Eliten muss erst entworfen, verankert und verbreitert werden. Das braucht noch einiges an Zeit.
c) Am einfachsten ist vielleicht noch das Bestehen auf die Durchsetzung des Wunsches nach nationaler Unabhängigkeit und Zurückdrängung des westlichen und israelischen Einflusses. Doch auch hier empfiehlt sich die Vermeidung von Verbalradikalismus. Denn wer Camp David aufkündigen will, der muss auf einen frontalen Konflikt mit der geballten Macht des Imperialismus (nicht nur der militärischen) vorbereitet sein – den man durchaus auch verlieren kann, wie man 1967 eindruckvoll und nachhaltig (nämlich bis heute) sehen konnte.