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Zur Situation der Linken in Tunesien

7. Januar 2013
Von Imed Garbaya

Ein Aufstand oder eine Revolution ist ein Prozess der nicht durch eine Wahl endet


Ein Aufstand der sich gegen ein ganzes soziales, wirtschaftliches und politisches System richtet, endet nicht durch eine Schönheitsoperation am alten System und eine misslungene Mehr-Parteien-„Demokratie“ ohne soziale, wirtschaftliche und kulturell-politische Weichenstellung.

Dieses Selbstverständnis einer revolutionären Bewegung in Tunesien wollen oder können die „Nicht-Revolutionäre“, die die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien gewonnen haben, nicht verstehen, denn sie sind nicht Teil der revolutionären Bewegung.
Die „Islamisten“ der Ennahda Partei in Tunesien, die durch leere Versprechungen, mit Hilfe eines politisch-religiösen Diskurses, durch das Ausklammern der sozialen Frage und Konzentration auf die „Identitätsfrage“ und vor allem durch das Einverständnis der Amerikaner, in der Region die Islamisten in die Macht zu holen (direkt oder über Katar), haben die Wahl gewonnen aber können und wollen nicht verstehen, dass das nicht das Ende des Aufstands ist.

Sie sind die „Nicht-Revolutionären“ des sogenannten „arabischen Frühlings“ par excellence , in Tunesien und anderswo.

In mehreren Wellen und in vielen Stationen liefert Tunesien die Beweise dafür, dass der Aufstand der im Dezember 2010 gestartet ist, oder sogar schon früher im Jahr 2008 in der Region Gafsa, noch immer in seinem Kern lebendig und in seinen Forderungen aktuell ist. Die soziale Frage und nichts anderes als die soziale Frage in ihrer wirtschaftlichen und politischen Vielfalt ist aktueller denn je. Denn die Tunesier haben Ihre Forderungen klar formuliert: Arbeit, Freiheit und Würde, nichts von Scharia&Co.

Zuletzt in Seliana, einer sehr armen Region in Tunesien, wo die Menschen die Ernennung eines Gouverneurs von Ennahda ablehnten und an ihren Forderungen nach Lösungen ihrer Probleme festhalten, wurden die Demonstranten brutal niedergeschlagen. http://www.derfunke.at/html/index.php?name=News&file=article&sid=2139

Die politischen Gegner der Ennahda werden entweder direkt mit der Staatsgewalt, wie in Sidibouzid und Seliana und Gafsa, oder durch Milizen attackiert und ihre politische Aktivitäten gestört und verhindert. Gleichzeitig läuft eine Schmutzkampagne, in der jeder Gegner von Ennahda als ein Teil des alten Systems und Verräter der „Revolution“ bezeichnet wird. (Die Ironie des „arabischen Frühlings“: Die Reaktionäre gewinnen die Wahlen und bezeichnen die Aufständischen als Verräter und Teile des alten Systems!!)

Die Gefolgschaft der Ennahda Partei und die Strukturen dieser nach außen heterogenen Bewegung (Die Heterogenität scheint mehr eine Strategie zu sein um die verschiedensten Zielgruppen zu gewinnen, eine Strategie die sie durch religiöse Gehorsamkeit und die Stärke des Scheich Ganouschi in der Partei beherrschen) lassen ihre Anhänger die Tatsache weder sehen noch verstehen, dass die Elite des alten Systems nicht nur in der neuen Partei Nidaa Tunis (Apell Tunesien: eine Partei die die Genehmigung unter der Ennahda Regierung bekommen hat, von ihnen als der stärkste Gegner in der Parteilandschaft betrachtet wird, und von den Linken mit Ennahda als der zweitstärkste Gegner des revolutionären Prozesses betrachtet wird) zu treffen ist, sondern auch bei Ennahda, sowohl in der Regierung als auch in Beratungsstellen und auch innerhalb der Partei. Noch dazu schließen die „Islamisten“ nicht aus, eine Koalition mit „Apell Tunesien“ zu bilden: Zumindest wirtschaftlich sind sie einig, die gleiche Politik zu verfolgen, auch wenn erstere die neben den Golfstaaten die Amerikaner den Franzosen vorziehen würden.

Diese Situation schafft in Tunesien eine starke Polarisierung zwischen denen, die „Identität“, die „Moral“ und die „Religion“ im Lande zu verteidigen glauben, und denen, die „Modernität“ und „Laizismus“ zu verteidigen glauben. Die sozialen Forderungen der Armen und Arbeitslosen und Mittellosen bleiben auf der Strecke, aber vielleicht nur beinahe, denn das ist die Chance der Linken in Tunesien sich zu profilieren und mit dem Aufstand identifiziert zu werden.

Wir können heute in Tunesien von zwei Hauptströmungen der Linken (und ich meine hier die Linke im weitesten Sinn des Wortes: die Kräfte, die an eine revolutionäre Änderung und an neue wirtschaftliche und politische Optionen außerhalb des herrschenden Systems glauben) :

1. Die Kräfte um die „Front Populaire“(eine Sammlung von verschieden kommunistischen und panarabischen (baathistische) Gruppierungen: Hamma Hammami &Co) und die teilweise als „stattliche“-Opposition agieren und sich auf kommenden Wahl vorbereiten (wer weiß wann, denn Ennahda lässt sich Zeit mit der Verfassung ). Sie sehen sich als Teil des „Demokratisierungsprozesses“ aber auch als Vertreter der sozialen Aufstands in Tunesien.

2.Die Kräfte die den Aufstand vom Anfang an organisiert und begleitet haben, in Sidibouzid, in Kasserine und anderswo und die die Wahlen vom 23.10.2011 als ein Putsch gegen den revolutionären Prozess und gegen den sozialen Kern dieses Prozesses betrachten. Sie propagieren Basis- und Selbstorganisation der Benachteiligten und Arbeitslosen und allen die Interesse haben an einer echten und radikalen Änderung. (Sie beweisen immer öfter, dass sie an Bedeutung gewinnen und dass sie in der Lage sind starke Aktionen durchzuführen).

Tunesien ist heute ein Beispiel für ein Land im Daueraufstand, gezeichnet von Krisen und fehlenden demokratischen Strukturen, wo die herrschende Elite in einem Pakt mit den „Islamisten“ ( direkt und indirekt) den Aufstand zu Fall bringen und die Forderungen der Menschen durch religiösen Versprechen abschwächen will, und jedes Mal wenn die Menschen auf ihren Forderungen beharren, taucht wie aus dem nichts die „Salfisten“Karte und die Gefahr der Dschihadisten auf, um Ängste und Sicherheitsbedürfnisse zu wecken.

„Das religöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks“ Karl Marx

Wien 04.01.2013

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