Erfolg des Tahrir
Zunächst muss festgestellt werden, dass die außerordentliche Wucht der Massenproteste alle überraschte. Unzählige Millionen im ganzen Land drängten sich auf die Straßen und verschoben die Kräfteverhältnisse in nur wenigen Tagen entscheidend. Die Mobilisierung reichte somit weit über das klassische Milieu des Tahrir hinaus. (Es reicht sich die zahlreichen Frauen mit Kopftuch bei den Anti-Mursi-Demos vor Augen zu führen, um zu verstehen, wie weit die Ablehnung in den islamischen Kulturbereich hineinreichte.) Letztlich wurde der Druck so groß, dass sich die Generäle gezwungen sahen einzugreifen.
Versagen der Muslimbrüder
Auf der anderen Seite der Medaille steht das totale Versagen der Muslimbrüder. Sie konnten weder die demokratischen noch die sozialen Erwartungen der breiten Masse nach dem Sturz Mubaraks erfüllen. Noch schlimmer, sie erwiesen sich als unfähig die zunehmende Skepsis und Ablehnung in breiten Teilen der Bevölkerung zu erkennen, geschweige denn darauf zu reagieren. Sie hielten an einem dogmatischen Alleinvertretungs- und Machtanspruch fest und machten jeden Kompromiss dadurch unmöglich (wobei ihnen die andere Seite das leicht machte). Der rapide Konsensverlust reicht weit ins islamische, ja bis ins islamistische Milieu hinein. Das in jahrzehntelanger Opposition erworbene Prestige wurde so in einer Rekordzeit verspielt. Für die Muslimbrüder bedeutet der Sturz ihres Präsidenten die tiefste Niederlage ihrer Geschichte. Sie versetzt ihnen einen heftigen, ja historischen Dämpfer. Im Namen des Islam beanspruchten und beanspruchen sie weiter die Führung der Nation, ja der Ummah, der globalen Gemeinschaft der Sunniten. Doch dieser Anspruch ist hohl und schal geworden, hat substantiell an Legitimität eingebüsst.
Vieles hängt davon ab, welche Linie die Muslimbrüder nun nach der Niederlage einschlagen. Wenn sie zwar auf die Legitimität ihrer Herrschaft beharren und schmollen, aber de facto sich pragmatisch fügen, dann werden sie eventuell zukünftige Krisen des neuen Regimes nutzen können. Wenn sie jedoch unter dem Einfluss der Jihadisten zu bewaffneten Aktionen greifen, dann werden sich weitgehend aufgerieben werden, denn der Armee ist es gegenwärtig politisch ein Leichtes sie verfolgen.
Vom Ende des politischen Islams, von der der syrische Präsident Assad fantasierte, kann indes noch nicht die Rede sein, nicht einmal vom Ende der Bruderschaft. (Man erinnere sich daran, wie schnell das Ansehen der Armee wiederhergestellt wurde – nämlich fast indirekt proportional zum Verlust jedem der Muslimbrüder.) Die ägyptische Gesellschaft befindet sich in einer tiefen Krise und inmitten historischer Konvulsionen, die zu jähen Umschwüngen führen können. Die wirtschaftliche Katastrophe wirkt da wie ein Katalysator.
Armee als Bonaparte
Das Eingreifen der Armee ist jedoch nicht gratis. Es geht einher mit einer Rehabilitierung der Militärs, die bis vor einem Jahr noch der Hauptfeind der Massenbewegung gewesen waren. (Daher Achtung: auch die Muslimbrüder können sich durchaus wieder erholen, unter Umständen auch schneller als man es sich heute vorstellen kann.)
Mit der Armee tauchen natürlich auch die Mubarak-Leute wieder auf, die sich im Staatsapparat und in der Managerkaste verkrochen hatten. Nicht, dass jeder Feloul für immer und ewig in der Hölle schmoren soll – Rebellionen und Revolutionen verändern die Menschen –, doch ein Milieu des alten Regimes existiert weiterhin, und zwar um die Armee herum.
Sehr wichtig ist die Tatsache, dass die Militärs für ihren Staatsstreich den breitest möglichen Konsens suchten. Bei der Ansprache des kommandierenden Generals Sisi, im Verlauf derer er die Absetzung Mursis bekannt gab, waren Mohamed El Baradei, ein Vertreter der Tamarod-Koalition, die die Massenproteste zum Sturz Mursis vom 30. Juni organisiert hatten, der Chef der Al Azhar-Universität, der wichtigsten Institution des sunnitischen Islams, der Koptenpapst und sogar ein Repräsentant der salafistischen Noor-Partei anwesend.
Nicht nur darum muss von einem weichen Putsch gesprochen werden. Hinzu kommt, dass die Armeeführung Mursi und die Moslembrüder mehrfach zu einer Kompromisslösung aufgefordert hatten, die diese zurückwiesen. Sie waren also vorgewarnt und ihnen wurde die Möglichkeit des Einlenkens gewährt. Trotzdem kann man von einem De-facto-Block der Bewegung mit der Armee sprechen.
Internationale Isolation
Erstaunlich und überraschend war wie schnell und vollständig die Muslimbrüder international fallengelassen wurden. Saudiarabien und die UAE begrüßten den Coup. Dem Königreich der Sauds wurde so ein gefährlicher Konkurrent im islamistischen Bereich vom Hals geschaffen. Für Qatar wiederum war es die Nagelprobe für den neuen Scheich, der gleich eine 180-Gradwende vollzog und auf die Linie Riads einschenkte. Der Westen reagierte verhalten aber akzeptierte den Putsch de facto. Einzig die Türkei protestierte, doch auch Ankara lässt sich mit der Forderung nach Neuwahlen eine Hintertür offen. Der Protest Tunesiens hat unter diesen Umständen wenig Gewicht.
Noch vor einem Jahr sprach man von den Moslembrüdern als neuer, islamistischer Internationale mit der sich die USA arrangieren mussten. Nach dem Verlust des Zentrallands Ägypten ist der Stern der Ilkhwan im Sinken begriffen.
Die Wendung am Nil wird nicht ohne Auswirkungen auf den syrischen Bürgerkrieg bleiben.
Veränderte Dreieckskonstellation
Man kann die Machtverhältnisse in Ägypten als sich ständig veränderte Beziehung dreier grundlegender Blöcke betrachten, deren Abgrenzung nicht ganz scharf unternommen werden kann und es natürlich Übergänge gibt. A) Altes Regime–Armee–Säkularisten, B) Islamisten, C) Tahrir-Demokraten. Der Sturz Mubaraks wurde vom Tahrir mit den Islamisten als Juniorpartner bewerkstelligt. Unmittelbar danach beteiligte das geschwächte Regime die Islamisten an der Macht – gegen den Tahrir. Doch der Druck wurde zu groß und so übernahmen die Islamisten die Führung unter Duldung der Armee. Aber auch das war nur ein Jahr durchzuhalten. Nun verdrängte die Armee gemeinsam mit dem Tahrir die Islamisten von der Macht – wer die Führung übernehmen wird bleibt abzuwarten. Das Spiel bleibt jedenfalls offen.
Bei dem Dreieck handelt es sich um eine Vereinfachung, weil die Blöcke nicht homogen sind, sich verändern und vor allem auch die divergierenden sozialen Interessen nicht gut abgebildet werden. Wichtig ist jedoch, dass diese Blöcke einen gewissen Bestand über die jeweilige Konjunktur hinaus haben.
Säkularismus
In gewisser Weise kann der Coup auch als Gnadenstoß für die Muslimbrüder, als ein politisches Geschenk betrachtet werden, das ihnen ihr Überleben sichert (auch wenn sie das selbst nicht so sehen können). Hätten man sie noch weiter werken lassen, hätte sich ihre Basis noch weiter zersetzt und ihre Gegner sie vernichtend schlagen können. So sind sie noch einmal von der Klinge gesprungen. Sie können nun das Narrativ vom Putsch der Armee gemeinsam mit Mubarakisten und Säkularisten, unterstützt von den USA, gegen den demokratisch legitimierten Islam entwickeln und als Verteidigungsschild vor sich hertragen.
Dem Tahrir fehlt die islamische Komponente. Erst mit einer solchen kann die Frage der Legitimität der Herrschaft jenseits des Islam gestellt werden. Die zentrale Verteidigung der Muslimbrüder und ihrer islamistischen Verbündeten ist, dass sie die Repräsentanten der islamischen Mehrheit Ägyptens wären. Dann kommt noch der Verweis auf die Wahlen. Die Durchführung und Umstände der Wahlen kann man angreifen, was der Tahrir auch immer tat. Doch ohne eine islamische Komponente der demokratischen Bewegung (die es im Ansatz sogar gibt, die aber nicht entwickelt wurde), können die Islamisten die Trumpfkarte des Kulturkampfes spielen. Dieser Fehdehandschuh wird vom Tahrir dankbar aufgenommen ohne zu verstehen, dass sie auf dieser Ebene – ohne die Armee – nur verlieren können.
Hier besteht die größte politische Schwäche des Tahrir, die auch der Armee und dem alten Regime ein Einfallstor bietet. Letztlich ist das auch eine Klassenfrage. Denn die Islamisten haben einen massiven Anhang in den Unterklassen, ohne den oder gar gegen den eine demokratisch-sozialrevolutionäre Entwicklung nicht vorangetrieben werden kann. Dabei geht es nicht darum, den harten Kern der Islamisten selbst zu gewinnen, sondern einen signifikanten Teil ihrer Basis, der sich als islamisch versteht. Man darf nicht vergessen, dass die Armee und das Milieu des alten Regimes klassenmäßig am ehesten die sozialen Eliten repräsentieren, auch wenn sie sich erneuert haben und ebenfalls einen gewissen Massenanhang aufweisen können.
Übergangsregierung und Konstituante
Im Zentrum steht nun der Kampf um die Führung des Landes und des revolutionären Prozesses – gegen die Armee und die Reste des alten Regimes. Da geht es einerseits um eine Übergangsregierung, die auch die nächsten Wahlen zu organisieren haben wird, und andererseits sollte es um eine verfassungsgebende Versammlung gehen.
Eine unmittelbar zu bildende Übergangsregierung sollte in ihrem Kern die Volksbewegung repräsentieren, ja sich auf sie stützen, und die Vertreter des alten Regimes möglichst hinausdrängen. Die Armee selbst scheint aus der negativen Erfahrung des SCAF gelernt zu haben und möchte die Fäden nur aus dem Hintergrund ziehen. Die Wirtschaft kontrolliert sie sowieso maßgeblich. Die große Aufgabe besteht darin, sich von dieser Umklammerung zu befreien. Dazu wird es entscheidend sein, die Frontstellung zu den Islamisten aufzuweichen, die Repression gegen sie möglichst schnell einzustellen, ihre Führer zu befreien und ihnen einen Platz in der Übergangsregierung anzubieten. Sonst bleibt die Armee in der Rolle der Bonaparte zwischen den Konfliktparteien und behält das Heft in der Hand.
Das Gegenprogramm wäre die Adoption der Heilsfront im Sinne der Armee und der Eliten. Baradei, Mousa aber auch Sabahi könnten einem modernisierten Regime der alten Eliten unter der Ägide des Säkularismus durchaus eine Massenbasis verleihen. Diese würden im kleinen Kreis von „Technokraten“ eine neue Verfassung ausarbeiten lassen, praktisch als Gegenschlag zur zuvor von den Islamisten unter Duldung der Armee oktroyierten Verfassung. Eine derartige Stabilisierung würde in Ermangelung einer Alternative wohl auch die Unterstützung Washingtons finden.
Ein wichtiges Instrument dagegen wäre eine Konstituante durch Volkswahl als erster Schritt noch vor Neuwahlen. Damit können die Kräfte des alten Regimes und der sozialen Eliten marginalisiert und gleichzeitig der Spalt mit den Islamisten verringern werden. Wahlen zu einer Konstituante würde den Islamisten den ihnen zustehenden proportionalen Anteil und damit so etwas wie eine Sperrminorität sichern. Nur so kann man auch das islamistische Argument der Legitimität entkräften, das immer auf de vergangenen Wahlen verweist. Die Bedingungen für einen wirklich einschließenden demokratischen verfassungsgebenden Prozess waren noch nie so günstig wie heute, denn die Volksbewegung hat derzeit die Rolle des Protagonisten inne.