Im Sommer 1850 schrieb Friedrich Engels eine historische Arbeit: „Der deutsche Bauernkrieg“, nämlich von 1525. Man wundert sich: Hatte der Revolutionär nichts Besseres zu tun? Ein Jahr nach der Niederschlagung der europäischen und vor allem der deutschen Revolution sucht er im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit eine andere Niederlage? Aber der „Deutsche Bauernkrieg“ war eine eminent politische Arbeit. Engels wollte demonstrieren: Schon 1525, wie dann wieder 1848/49, machte das Bürgertum die ersten Schritte einer Revolution mit. Dann aber kam die Angst. Die Revolution radikalisierte sich. So ließen die meisten Städter, nicht alle, die Bauern sein und traten auf die Seite der Fürsten und des Adels über. Luther geiferte und überschlug sich in blutrünstigen Mordaufrufen.
2013 in Ägypten ist nicht 1525 in Deutschland und 1848 in Europa. Aber die Parallelen sind doch auffällig. Die städtischen Intellektuellen und ihre hoffnungsvolle Klientel, die jugendlichen Illusionisten – fast ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 15 – mit ihrem auf das Paradies im Westen fixierten Blick haben sich ganz und gar den Mubarakisten überantwortet: den Mubarakisten, welche seit zwei Jahren Politik und Wirtschaft sabotieren und die soziale Krise heute hauptsächlich zu verantworten haben. Das Militär ist in Ägypten spätestens seit Nassers Tod eine durch und durch reaktionäre Kraft im Sold der USA. Nun werden die korrupten Offiziere zu Rettern des Vaterlands und der Demokratie ausgerufen… Aber hier endet die Parallele mit 1525 und 1849 noch nicht. Bäuerliche und ländliche Rebellionen haben eine Konstante. Vom traditionalen China bis zum Frankreich der großen Revolutionen glauben die Plebeier, sie könnten die Führungsfiguren auswechseln und das System erhalten. Sie berufen sich auf das Alte Recht (stara pravda) und merken nicht, dass sie vom Regen in die Traufe kommen. Gibt es aber einmal einen Sprecher (wie vor einem halben Jahrtausend Thomas Müntzer), der darüber hinaus zielt, dann bröckelt die Gefolgschaft bald ab.
Die ägyptische Landbevölkerung, viel weniger die Städter, haben sich den Muslim-Brüdern ausgeliefert, mit ihrer Kombination aus Quietismus, religiösen Autoritarismus und sozialem wie wirtschaftlichem Konservatismus: Eine gemäßigt neo-liberale Politik war ihr Wunschziel, und sicher auch das des Basars, der etwas besser gestellten Kleinbürger. Auch eine Revolution! Die ägyptische Bevölkerung wächst rapide. Sie hat jedenfalls einen Stand von deutlich über 80 Millionen Menschen erreicht. Zwar sinkt die Fruchtbarkeit ziemlich schnell: Sie steht derzeit bei etwa (TFR = ) 2,6 Kinder pro Frau. Es wird nicht lange dauern, so wird sie das Ersatz-Niveau von ca. 2,1 unterschreiten. Aber sie wird trotzdem schnell weiter wachsen. Das „Momentum“, die Tatsache, dass enorm viele Menschen im fruchtbaren Alter sind, wird auf Jahrzehnte hinaus den Zuwachs sichern. Ägypten hat zwar eine gute Million km2 an Staatsgebiet. Aber das bebaubare und besiedelte Gebiet macht nur 40.000 km2 aus. Das ergibt also 2.000 Menschen pro km2. Zum Vergleich: Das hoch entwickelte Österreich hat, nur auf seinen Dauersiedlungsraum gerechnet, etwa 250 Einwohner pro km2. Die Zahl aus Ägypten bildet den sozialen Stress in diesem Land ab. Doch die reine Eckzahl ist nicht das eigentliche Problem. Es ist die Altersstruktur. Eine Analystin aus den USA (Jane Kinninmont) nennt 2012 das Drittel der Bevölkerung im jugendlichen Alter naiv günstig für die Wachstumsraten. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Es ist die reine Entwicklungsfalle. Um diesen jungen Menschen auch nur einen Schatten von Chance ins künftige Leben mitzugeben, muss ein riesiges Bildungswesen aufgebaut werden. Das kostet, und die Mittel, die hier unabdingbar investiert werden müssen, fehlen anderswo in der Infrastruktur- und Wirtschafts-Entwicklung. Und schließlich sollten jährlich 700.000 Menschen zusätzlich beschäftigt werden. Graphik 1: Altersaufbau der ägyptischen Bevölkerung im letzten halben Jahrhundert Datenquelle: UN Population Division
Die realen Wachstumsraten der Wirtschaft, wie man sie in den Weltbank-Publikationen nachlesen kann, waren in den letzten 1 1/2 Jahrzehnten ansehnlich (in den 1990ern signalisieren sie eine Stagnation), auch auf den Kopf gerechnet. Sie beruhen auf Meldungen Ägyptens, und ich möchte sehr bezweifeln, ob sie stimmen. Graphik 2: Pro-Kopf-Produkt in konstanten Preisen (Basis 2002) in ägyptischen Pfund Datenquelle: WB WEO
Die Armuts-Indikatoren, die man ebenfalls in WB-Berichten nachlesen kann, deuten auf ein starkes Ansteigen der Armut hin. Es müsste also ein extremes Ansteigen der Ungleichheit gegeben haben. Das wäre nicht unplausibel: Zwar werden ganz andere Daten geliefert, mit fast absurd niedrigen, „europäischen“, Gini-Indices. Aber die Verteilungs-Indikatoren sind nicht nur in Afrika notorisch schlecht. Nur das Ausmaß im Anstieg der Ungleichheit, die sich aus dem Pro-Kopf-Produkt und den Armuts-Indikatoren ergeben würde, überrascht doch.
Denn nun müssen wir auch auf die andere Seite der Entwicklung zu sprechen kommen. Man könnte sie die optimistische Perspektive nennen. Wenn wir Daten anführen, ist dies immer mit großem Vorbehalt zu betrachten. Nichtsdestoweniger: Die Baby-Sterblichkeit sank seit 1980 auf ein Bruchteil von damals, angeblich von 176 auf Tausend auf 21 auf Tausend (Vergleich Österreich 2011: 3,2 auf Tausend). Die durchschnittliche Länge der Schulzeit soll sich auf 6,4 Jahre im selben Zeitraum mehr als verdreifacht haben. Die Lebenserwartung bei Geburt schließlich sei von 56 auf 73 Jahre angestiegen. Wir wissen aus Entwicklungsländern generell, dass demographische Fortschritte tatsächlich in hohem Maß importierbar sind und importiert werden. Insofern sind die Zahlen nicht unrealistisch. Wenn diese Daten auch nur in der Tendenz richtig sind, dann zeigt sich Eines: Die Lebensverhältnisse haben sich geändert, und die Erwartungen sind gestiegen. Man hat die nasseristische Politik so ähnlich charakterisiert, wie seinerzeit auch die „realsozialistische“: Haltet Euch aus der Politik draußen; dafür sorgt das Militär für Wirtschaftswachstum, steigenden Lebensstandard und „nationale Würde“. Nasser hielt dies für Sozialismus, und viele andere Tiermondisten taten dies auch. Diese Art von Sozialvertrag ist ja gerade in Entwicklungsländern ziemlich gängig; es ist die pinochetistische Politik und die Politik des Deng Hsiao Ping und seiner Nachfolger, wenn auch bei ihnen auf die Eliten und auf die Mittelschichten beschränkt. Und sie funktioniert immer wieder über ziemlich lange Zeit. Jeder (?) Haushalt hat seinen Fernseher; jeder und jede hat ein Handy. Was will man mehr? Mubarak hielt sich nicht mehr an die Termen dieses impliziten Gesellschafts-Vertrags. Wie schon gesagt, sank für sehr viele der Lebensstandard in den letzten Jahren eher. Die Früchte des Wachstums, so es sie denn gab, gingen ausschließlich an die Eliten und die Mubarak-Kamarilla. Das ist die eigentliche Bedeutung dessen, dass „Korruption“, seit eh und je gang und gäbe, so unerträglich wurde. Und es sollte so weiter gehen. Der Sohn des Pharaos war als Nachfolger seines Vaters vorgesehen, jedenfalls liefen glaubwürdig solche Gerüchte um. Dazu kommt, dass die Illusionen gerade der Jungen groß waren und sich allenfalls noch steigerten. Das gelobte Land liegt im Norden und im Westen. Die Menschen von dort haben die Taschen voller Geld. Man braucht bloß einmal nach Ägypten zu fliegen: Ein ganzes Volk bettelt und versucht zu betrügen. Die Ansprüche dabei sind hoch. Es genügt nicht ein Bakschisch von 1 oder 5 Pfund. Es sollen gleich 100 oder 200 sein…
Erleichtert wurde die Aufrechterhaltung dieses Systems durch die hohe Auswanderung und in der Folge durch die umfangreichen Remittenden, angeblich bis vor Kurzem an die 8 Mrd. US-$. Das Pro-Kopf-Produkt ist 2011 mit 6.700 „internationalen“ Dollar, d. h. in KKP, kaufkraftbereinigt, das eines etwas besser gestellten Entwicklungs-Landes. Österreich hat in diesem Jahr 40.800 KKP-$ p.c., der Sudan, Ägyptens Nachbar, hatte im selben Jahr nur 2.600 KKP-$ p.c. In Kursen war das Pro-Kopf-Produkt für Ägypten allerdings nur 3.100 US-$, also weniger als die Hälfte. Das ist wichtig, weil sich der Außenhandel natürlich in realen Dollars abwickelt, nicht in den nur statistisch existenten KKP-Einheiten. Für sein Erdgas bekommt das Land also die US-Dollars. Wenn aber Familien die überwiesenen Gelder ihrer Verwandten aus dem Ausland ausgeben, zahlen sie natürlich einheimische Preise, profitieren also vom Preis-Niveau. Aber nun kam der erste Knick: Nicht nur hat die Finanz- und Euro-Krise in Europa die Lage verschärft, und man will dort daher die Zuwanderer immer weniger. Im Nachbarland, in Libyen, stürzte die NATO den für Stabilität sorgenden Gaddafi. 1 1/2 Millionen Ägypter wurden zurück geschickt. Es war ein gewaltiger Schlag für ebenso viele ägyptische Familien. Die Aufstände weiter westlich waren nicht nur Vorbilder, sie haben auch die Situation des eigenen Landes noch einmal verschlechtert. Dann hat der Aufruhr den Tourismus einbrechen lassen, und vor allem den im Niltal, der mehr bringt als die reinen Badeurlaube am Roten Meer. Und dazu kam die systematische Sabotage der Mubarakisten.
Einigen der alten Elite wurde es schwül. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. „Die Familie Sawiris hat Kapital und Geschäfte nach und nach ins Ausland transferiert. Die Revolution und die Machtübernahme der Islamisten haben diese Entwicklung beschleunigt. Eine Steueraffäre schreckt auch andere Investoren auf“ (NZZ, 23. März 2013). Die Sawiris sind angeblich die reichste Familie aus Ägypten und waren Günstlinge des Alten Systems. Nun beklagen sie sich, dass sie heute auch Steuern zahlen sollen. Nicht verlassen konnten das Land natürlich die Militärs, die Polizisten und die Beamten, die Lieblinge der bisherigen Herren. Aber sie fanden für sich eine Lösung. Die von der neuen Regierung, den Muslimbrüdern und ihrer Partei, enttäuschten Erwartungen der städtischen Mittel- und teils auch der Unterschichten kamen zum Ausbruch. Die Militärs hatten die Partei schon bisher systematisch an einer neuen Politik gehindert. Wie sehr diese selbst eine solche überhaupt wollten, ist eine andere Sache. Ihr erster Präsidentschafts-Kandidat war verhindert worden, bis der „Ersatzreifen“ Mursi kam. Die Oberrichter, alle Mubarakisten, hatten ständig eingegriffen, um dessen Politik zu verunmöglichen. Vor Kurzem schien die Partei und die Brüderschaft sogar vom Verbot bedroht. Das ist nun überflüssig geworden. Die Berufung auf die Demokratie, die mehr sei als Mehrheiten, ist pure Heuchelei. Herr Baradei, auch so einer der Friedens-Nobelpreisträger, hat jedenfalls sein Ziel erreicht: Er ist wieder wer. – Die Mubarakisten haben, im Gegensatz zu den Muslim-Brüdern, die Machtfrage gestellt – und gewonnen, jedenfalls vorläufig.
Wie geht es weiter? Am wahrscheinlichsten ist eine algerische Entwicklung. Die Frage ist, wie sehr sich die Muslim-Brüder und ihre Militanten in ihrer Betulichkeit tatsächlich auf die Achtung vor der Legalität seitens der Militärs verließen. Zuzutrauen ist ihnen. Wenn es aber Realisten unter ihnen gab, dann werden sie sich Waffen besorgt haben. Und dann ist der algerische Ausgang, nämlich eine klare Niederlage der Islamisten, nicht mehr so sicher.
17. Juli 2013
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