Gesellschaftlicher Hintergrund
Die soziale Protestbewegung vom 9. Dezember vergangenen Jahres, die bis um Weihnachten andauerte, hat wie ein Blitz in das politische System Italiens eingeschlagen. Im Grunde handelte es sich um die erste Massenbewegung seit Beginn der Krise vor fünf Jahren. Es ist kein Zufall, dass sie sofort in die politische Sphäre vorstieß und sich frontal gegen den Euro wendete. Klar, die Proteste wiesen wichtige Widersprüche und enorme Schwächen auf. Zudem reicht ihre Größe und Tiefe noch lange nicht aus, um wirklich entscheidende Änderungen zu bewirken. Ihre Bedeutung erlangt die Mobilisierung jedoch als Indikator dafür, dass die Massen nicht mehr lange passiv bleiben werden.
Das herrschende Regime, gestützt auf die institutionelle Linke um die PD (Partito Democratico, die ehemalige Kommunistische Partei), erkannte die Gefahr und versuchte die Bewegung als nationalistisch und protofaschistisch zu isolieren. Die außerparlamentarische Linke zog es ihrerseits vor, die Bewegung zu ignorieren.
Tatsächlich gab es von der historisch profaschistischen Rechten den Versuch der Unterwanderung und Einflussnahme. Doch die Mehrheit der beteiligten Kräfte verwehrte sich auf der Basis der Verteidigung der demokratisch-antifaschistisch-sozialen Aspekte der Verfassung dagegen. Umgekehrt werfen sie dem Euro-Regime und damit der Regierung die Missachtung und Zerstörung dieser Verfassung vor. Genau darauf bezog sich ihrerseits die Anti-Euro-Konferenz.
Inzwischen vertieft sich der Spalt zwischen den politischen Eliten und weiten Teilen der Bevölkerung unentwegt – und nicht nur zu den Untersten. Die soziale Katastrophe ist bereits Realität: die Arbeitslosigkeit und insbesondere jene unter Jugendlichen galoppiert davon, der Mittelstand verarmt, die Löhne sinken etc. Und es ist vor allem auch kein Ende abzusehen. Die herrschende historische Linke hat außer ihrer engen Klientel den Massen nicht viel anzubieten. Die Versprechung, dass es nach den Opfern wieder bergauf gehen werde, verliert an Glaubwürdigkeit. Die Antwort darauf ist ein exzessiver Liberalismus eben nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im kulturellen Sinn, repräsentiert durch den neuen Parteichef Matteo Renzi.
Der alte Bipolarismus ist indes durch die Krise des Berlusconismus massiv geschwächt. Das heißt allerdings nicht, dass Berlusconi tot wäre. Spielt er die Anti-Euro-Karte, könnte er wie ein Phönix aus der Asche wieder aufsteigen. Die Lega Nord hat diesen Schwenk bereits vollzogen und spürt tatsächlich Rückenwind, nachdem sie jahrelang die Oligarchie unterstützt hatte. Das ist beachtlich, wenn man sich daran erinnert, wie sie in ihrer Entstehungszeit davon fantasiert hatte, Padanien mit Bayern vereinigen zu wollen.
Bisher hatte nur die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) von Beppe Grillo dieses Feld beackert und die Tendenz zum Protest ausgedrückt. Doch bis zur Forderung nach dem Austritt aus dem Euro hat sie es nicht geschafft. Die anfängliche Vorsicht keine Wähler zu verschrecken wandelt sich angesichts der Radikalisierung in der Bevölkerung allmählich in Feigheit. Grillo beschränkt sich auf den Slogan ein Referendum über den Euro, ohne selbst Position zu beziehen. Die Bewegung vom 9.12. wurde von den Grillisten geflissentlich ignoriert. Die M5S erweist sich als zutiefst elektoralistisch und legalistisch, die vor Massenmobilisierung Angst hat. Sollte eine solche tatsächlich das Land tiefgreifend aufwühlen, könnte sich die M5S nicht nur spalten, sondern fragmentieren oder sogar so schnell verschwinden wie sie gekommen ist.
Der Euro ist das zentrale Instrument und Symbol des Klassenkampfes von oben und wird von den subalternen Klassen zunehmend auch so verstanden. Das entstandene politische Vakuum macht ein weites politisches Feld frei. Noch ist nicht entschieden, wer es zu füllen vermag. Die Rechte steht in den Startlöchern und will es ihren Kollegen in vielen anderen Ländern Europas gleichmachen, denn immerhin wird die Rolle des Exekutors der Troika und der Stütze der EU von der historischen Linken gespielt. Doch die Grundstimmung in der Bevölkerung bleibt demokratisch und sozial. Hinzu kommt die sich zusammenbrauende soziale Eruption, die einer antikapitalistischen Linken viel mehr Möglichkeiten eröffnet, also nur das Dampfablassen mittels Wahlen. Für ein linkes Projekt gegen den Euro und die EU ist in Italien Platz – diesen zu besetzen ist das Ziel der Strömungen, die den Kongress in Chianciano Terme ausrichteten.
Linksdemokratische Souveränität als eines von vier Euro-Austritt-Szenarios
Den Organisatoren ist wohl bewusst, dass der Austritt aus dem Euro nicht per se im Sinne der Mehrheit erfolgen muss. Sie gehen von vier verschiedenen Varianten aus:
1) Ein sozialistischer Austritt: Der wäre zwar wünschenswert, aber ist angesichts der Kräfteverhältnisse nicht realistisch.
2) Ein liberalistischer Austritt, der vermutlich dem Plan B der Oligarchie entspräche. Es ist jenes Modell der „strukturellen Anpassung“ wie es IWF & Co. an verschiedenen unglücklichen Ländern der Peripherie bereits durchexerziert haben.
3) Ein faschistischer Austritt: So sehr sich die Organisatoren in die antifaschistische Tradition stellen und so wenig Platz es gegenwärtig für eine solche Bewegung in der Breite der Gesellschaft gibt, so sind diese Kräfte doch vorhanden.
4) Ein demokratisch-sozialer Austritt, der sich positiv auf die Nachkriegsverfassung Italiens bezieht.
Es ist dieser vierte Ansatz, der der Anti-Euro-Bewegung vorschwebt. Von Anfang an soll der Austritt mit einem demokratischen und sozialen Programm verbunden werden, das sich gegen die (auch einheimische) Oligarchie wendet und explizit die Interessen der subalternen Mehrheit vertritt. Unmittelbares, mobilisierendes Ziel ist der Austritt aus dem Euro und die Herstellung der Volkssouveränität. Die Währungssouveränität ist dafür eine zwar notwendige, aber keineswegs ausreichende Vorbedingung. Denn damit beginnt der Konflikt erst so richtig. Mit der Wiedereinführung der Lira ist die Verstaatlichung der Zentralbank und vieler privater Geldinstitute verbunden, genauso wie die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen sowie die Verhängung eines Schuldenmoratoriums. Der Staat soll mit einem Programm öffentlicher Investitionen tief in die Wirtschaft eingreifen mit dem Ziel Beschäftigung und einen akzeptablen Lebensstandard für alle zu sichern.
In einem gewissen Sinn setzt man sich das Programm der sozialen Reformen der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre zum Ziel, wohl wissend, dass es heute zu deren Verwirklichung im Gegensatz zu damals des Sturzes der herrschenden Eliten, einer richtiggehenden Revolution, bedarf. Doch diese wird nicht als sozialistische verstanden, sondern als demokratische. Daher wird von der „Bewegung für die Befreiung des Volkes“ (MPL), der treibenden Komponente der Organisatoren[fn]Mitveranstalter war Bottega Partigiana, was in etwa mit Partisanen-Tante-Emma-Laden oder österreichisch mit Partisanen-Greißler übersetzt werden könnte. Die Liste der unterstützenden Gruppen enthält keine über Italien hinaus bekannten Gruppen, gibt aber auch ohne wenig sinnvolle Übersetzung ein Stimmungsbild: Me-Mmt, Epic (Economia per i Cittadini), Centro Studi marxisti Lelio Basso, Marcia della Dignità, Bandiera Rossa in movimento, KeynesBlog, Mainstream, Corretta informazione, Eco della Rete, Partito Umanista, Movimento radical-socialista, Ass. Culturale Sirio 87, CUB Trasporti, Comitato Valdarno sostenibile, Moneta Bene Comune, Economia&Democrazia Diretta, Qualcosadinuovo, Fondazione Cipriani[/fn], auch die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung propagiert.
Als nächster Schritt wird die Gründung eines linken, souveränistischen, politischen Subjekts für einen Euro-Austritt anvisiert. Es soll sich als antikapitalistisch und sozialistisch bekennen, doch auf die identitären Symbole und traditionelle linke Subkultur verzichten, um für breite Schichten offen zu bleiben.
Nationales Komitee zur Befreiung (CNL)
Im Kampf gegen die Nazi-Okkupation hatte sich eine Volksfront gebildet, in der sich Kommunisten, Liberale und Monarchisten gegen die Nazis und Faschisten zusammenschlossen. Dieses historische „Nationale Komitee zur Befreiung“ (CNL) dient als Vorbild für den übernächsten Schritt. Denn noch sind die Kräfte für den Austritt bei weitem zu schwach und auch eine solche Front gegen die globale, europäische und italienische kapitalistische Oligarchie, repräsentiert durch die Troika, scheint noch weit entfernt.
Doch die Krise kann unerwartete und schnelle Wendungen bringen und die Gesellschaft in Bewegung versetzen. Zu rachitisch und unterspült erscheinen die italienischen Eliten und ihr politisches System, als dass man sich nicht auf die Bildung einer demokratisch-revolutionären Front vorbereiten müsste, die die Regierungsmacht beansprucht.
Professoren, radikale Linke und ruinierte Kleinbürger
Auf der Konferenz sprach ein beeindruckendes Aufgebot von Ökonomen gegen den Euro.[fn]Bruno Amoroso, Emiliano Brancaccio, Sergio Cesaratto, Nino Galloni, Warren Mosler, Marco Veronese Passarella, Andrea Ricci, Ernesto Screpanti, Gennaro Zezza[/fn] Es wirkte so, als wollten die Organisatoren sagen, dass es auch unter den neuen Priestern und Geisterbeschwörern, den Wirtschaftsweisen, wie sie in Deutschland ehrfürchtig genannt werden, Exponenten gibt, die dem liberalistischen Mainstream widersprechen. Sie mögen mit der Bedeutungsbeimessung Recht haben, solange das als notwenige Durchgangsstufe betrachtet wird. Der Professoren Outing kann als weiteres Zeichen für den Umschwung in der öffentlichen Meinung gewertet werden, wie zuvor die Hinwendung auch vieler Intellektueller zur den Grillo-Anhängern. Sie sprachen sich durch die Bank für den Austritt aus dem Euro und den Bruch mit dem Euro-Regime aus – also kein Vergleich zu hierzulande, wo sich kaum ein solcher Volkswirt finden lassen wird. Doch wie das politisch umzusetzen sein könnte, davon sprachen sie kaum. Da ist wenig Substanz, zu wenig um die Rolle von „organischen Intellektuellen“ nach Gramsci spielen zu können, geschweige denn zu wollen. Zudem ist ihre Sprache nicht anschlussfähig an jene der Massen.
Die organisierte radikale Linke war sowohl auf den Podien als auch im Publikum vertreten. Doch ihre Haltung erschien keineswegs so enthusiastisch wie es im Gegensatz dazu viele unorganisierte Teilnehmer offensichtlich waren. Es handelte sich mehr um abwartende Vorsicht bis Skepsis. Da wiegen das Fehlen und die bleierne Passivität der Reste der organisierten Arbeiterbewegung und da wird die Ablehnung des Nationalismus vorgeschoben, der dem Souveränismus implizit unterstellt wird. Das schlagende Argument, dass unter den heutigen Kräfteverhältnissen nur im Rahmen der Nationalstaaten gegen die globale Oligarchie und ihre Institutionen wie die EU effektiv Widerstand geleistet werden kann, vermögen diese Linken jedoch nicht zu entkräften. Hinter dem Abwarten steckt die Ermüdung, die Hoffnungslosigkeit, die Verbrauchtheit sowie die Angst die letzte Verbindung mit der institutionellen Linken zu durchtrennen. Denn sie gibt nicht nur Heimat, sondern für viele letztlich auch Brot.
Die zwei sozialen Sektoren, die die Bewegung des 9. Dezembers trugen, sind die verarmten Kleinunternehmer sowie die prekäre Arbeiterschaft, die mit der organisierten Arbeiterbewegung keine Berührung mehr hatte. Nachdem sich die Kleinbürger besser artikulieren können, waren sie diejenigen, die der Konferenz den neuen Schwung brachten.[fn]Ein gutes Beispiel dafür war die Rechtsanwältin Francesca Donato, die das Projekt „Euroexit“ gründete: http://www.progettoeurexit.it[/fn] Zumindest ein Flügel von ihnen will explizit mit der Linken gehen, und nicht mit der Rechten.
Neue Gurus
Doch wo Verunsicherung, Gärung, Bewegung, Aufruhr, da kommen auch die neuen Gurus und Heilsbringer. Bei der Konferenz nahm diese Rolle Warren Mosler von „Modern Monetary Theory“ (MMT)[fn]Die Modern Monetary Theory oder der Chartalismus geht auf Georg Friedrich Knapp (1842–1926) und sein Buch „Staatliche Theorie des Geldes“ (1905) zurück.[/fn] ein. Sein Auftritt wirkte wie die Show eines amerikanischen evangelikalen Predigers, der seinen Jünger in einfachsten englischen Worten die ach so einfache Welt erklärt – während sich die linken Professoren ihres hochgestochenen philosophisch-ökonomischen Kauderwelschs bedienen. Der Gegensatz könnte nicht größer sein.
Ohne hier auf die Begründungen eingehen zu können, plädiert die MMT für die radikale Anwendung der Fed-Geldpolitik auch in Europa, für Steuersenkungen und Deficit Spending, kommt jedoch ganz ohne das Element der Umverteilung aus. Der propagierte Euro-Austritt soll bruchlos zu Rückkehr in die schönsten Zeiten des italienischen Nachkriegskapitalismus führen.
Dem Vernehmen nach soll die Strömung in Italien bereits hunderte Anhänger gefunden haben. Es handelt sich um eine wirkliche Mittelstandsideologie, die das Wirtschaftswunder eben ohne den politischen Bruch mit der kapitalistischen Oligarchie, ohne Revolution, zu erreichen verspricht. Vermutlich ist die Auseinandersetzung mit diesem Milieu ein notwendiger Durchgang.