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Arbeit und Wertbestimmung – ein technologischer oder ein politischer Vorgang?

8. Februar 2014

Tendenzen der Politischen Ökonomie 2: Überlegungen zum Wert 2


Der Reichtum der Menschheit, das Weltprodukt und sein Wert, hängt von der investierten Arbeit ab. Wieviele Stunden arbeiten die Menschen, die Welt insgesamt genommen, in einem Jahr? Das ist nicht leicht zu beantworten. Und wir werden gleich sehen, dass die Schwierig­keit nicht allein in den vielerorts fehlenden statistischen Unterlagen liegt. Versuchen wir trotzdem eine Schätzung!

Wir gehen am besten von gut dokumentierten Fällen aus. Für Österreich gibt die Arbeits­kräfte-Erhebung der amtlichen Statistik für 2012 7,08 Mrd. Stunden an, geringfügig über den 6,91 Mrd. des Jahres 2004. Das macht für das Jahr 2012 also ein Brutto-Produkt von rund 44 €  pro Arbeitsstunde aus. Zieht man die Abschreibungen ab, also den Wert, welcher aus den vorherigen Jahren stammt und im Wesentlichen über die Maschinerie ins Produkt eingeht, dann sind es 36 €, nämlich: verfügbares Nettonationaleinkommen (NNP, früher etwa Volks­einkommen genannt) pro Stunde. Für die BRD lautet der entsprechende Wert 58,2 Mrd. Stunden. Das entspricht einer jährlichen Durchschnittszeit von 1.396 in der BRD und von 1.586 Stunden für Österreich. Hier ist es interessant, dass diese Zahl heute nicht mehr ganz leicht zu finden ist und je nach Quelle unterschiedlich ausfällt. Zufall?

Das größere Problem ist allerdings: In Dutzenden Ländern aus Afrika und Asien gibt es zu diesem Punkt keine Daten. Darunter sind die Schwergewichte China und Indien. Verwundern kann dies natürlich nicht. Überschlagen wir einmal die Größenordnung! Für die Welt werden in den diversen Statistiken derzeit bei 7,2 Mrd. Menschen 3,3 Mrd. Erwerbspersonen angege­ben, somit eine Erwerbsquote von 46 %. Arbeiten die im Schnitt 1.000 Stunden im Jahr, so ergibt dies 3,3 Bill. Stunden. Warum nur 1.000 Stunden? Nun, wenn in Indien 2 /3 und in China nahe an die Hälfte der Bevölkerung von Subsistenz-Landwirtschaft leben muss und die pro Jahr nur 100 Tage Arbeit macht, dann schlägt dies eben auf den Welt-Schnitt durch.

Aber es treten auch noch ganz andere Probleme auf. Ist es Arbeit, wenn der Spitzen-Manager mit einem Besuch 2 Stunden beim Lunch oder einen Tag auf der Yacht verbringt? Ist es Ar­beit, wenn ein Akademiker sich abends 3 Stunden der Lektüre von Ernst Haeckels „Welträt­seln“ widmet? Als ein Bekannter einmal sah, dass ich Widukinds „Sachsengeschichte“ kaufte, fragte er: Liest Du das zum Spaß oder brauchst Du es für Deine Arbeit?

1876 schrieb Friedrich Engels eine lesenswerte Broschüre unter dem Titel: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen (MEW 20, 444ff.). Und doch ist hier „Arbeit“ gleich ein doppelter konzeptueller Fehlgriff: Denn Engels benutzt ihn als Wort für zielgerichtete soziale Handlung und verengt diese damit ganz unzulässig in einer rational choice-Perspektive; und er sieht nicht, dass Arbeit historisch stets aus der Dialektik zwischen Selbst- und Fremdbe­stimmung entstand. Marx war, wie üblich, sehr viel hellsichtiger: „Arbeit scheint eine ganz einfache Kategorie. Auch die Vorstellung derselben in dieser Allgemeinheit – als Arbeit überhaupt – ist uralt. Dennoch, ökonomisch in dieser Einfachheit gefasst, ist Arbeit eine eben­so moderne Kategorie wie die Verhältnisse, die die einfache Abstraktion erzeugen“ (Marx, Grundrisse o.J. [1857/58], 24). Allerdings geht diese komplexe Auffassung im Kapital, wo er nach mainstream-Orthodoxie strebte, wieder weitgehend verloren. Überhaupt stellt sich der Schritt von den „Grundrissen“ zum „Kapital“ in sozialwissenschaftlicher Perspektive nicht selten als eine Verengung des Blickwinkels dar.

Zwar: „Arbeit“ ist von ihrem grundlegenden Entstehungsprozess her immer abstrakte Arbeit, wie sie Marx definiert und beschrieben hat. Denn ein gewichtiges Element des (androzentri­schen) Arbeitsbegriffes ist die Fremdbestimmung. Menschliche Aktivität, auch wenn sie dar­auf gerichtet ist, Subsistenzbedürfnisse zu befriedigen, ist deswegen noch nicht Arbeit. Zur Arbeit wird sie erst dann, wenn sie als soziale Handlung in ihrer Zielorientierung nicht mehr vom alleinigen Willen des aktiven Menschen abhängt; Arbeit taucht auf, sobald in irgend einer Form herrschaftliche Lenkung extern eingreift. Sobald dies der Fall ist, erhält die soziale Aktivität, der Aufwand und die Anstrengung für die Bedürfnisbefriedigung, eine veränderte Form. Sie erhält z. B. einen neuen Rhythmus. Überhaupt gewinnt Zeit eine neue und wesent­liche Bedeutung in der Transformation dieser Aktivität in Arbeit. Eine gesellschaftliche Akti­vität dem Maß der Zeit zu unterstellen, heißt von vorneherein, die Gewichtung der Motive und Orientierungen dieser Aktivität deutlich zu verschieben. Nun tritt eine abstrakte Eigen­schaft menschlicher Tätigkeit in den Vordergrund. Diese Abstrahierung ermöglicht die Inter­nalisierung von Fremdbestimmung, und, im nächsten Schritt, von Herrschaft. Arbeit ist in ihrer historisch-anthropologischen Charakteristik also herrschaftsdefiniert. Aber die Zeit bringt auch die Perspektive der Effizienz ins Spiel, der Produktion mit möglichst geringem Aufwand, der Rationalität; damit eine menschliche Eigenschaft schlechthin.

Hier gibt es allerdings eine gewichtige Ergänzung anzubringen. Was ist mit Tätigkeiten, wel­che zwar notwendig für die (Re-) Produktion des Menschen sind, die aber weder notwendig fremdbestimmt noch auch völlig in die Zwänge der Effizienz-Rationalität eingepasst sind? Es geht hier um die lebenserhaltenden Aktivitäten der Kindererziehung und der Erhaltung ebenso wie heute zunehmend um die (Vor-) Sorge für Alte und Arbeitsunfähige. Die Diskussion über Hausarbeit in den letzten Jahrzehnten hat gezeigt, dass wir hier ein theoretisches Problem haben. Im Grund wurde es mit dem Hinweis auf die (Re-) Produktion der Arbeitskraft sogar in das Zentrum gestellt, dann aber nicht weiter diskutiert. Wir können es auch hier nicht nur im Vorübergehen erledigen. Wesentlich ist dazu auch der Hinweis, dass in der Gegenwart die Tendenz zur Kommodifizierung aller irgendwie notwendigen Aktivitäten Teil dieses Problems ist. – Doch gehen wir hier vorerst in der Logik der Darstellung weiter:

Die fremdbestimmte Arbeitszeit soll nun definitorisch das quantitative Maß des Werts für Reziprozität im sozialen Austausch von Waren sein. Marx / Engels bestehen auf folgender Konstruktion:

(1) „Im Gleichgewicht“ werden alle Waren zu ihrem von der notwendigen Arbeitszeit be­stimmten Wert ausgetauscht. Das gilt auch für die Ware Arbeitskraft, das Bündel an Arbeits­fähigkeiten, welche ein Mensch anzubieten hat. Was das Gleichgewicht ist, darüber werden wir uns noch ausführlich zu unterhalten haben.

(2) Die Arbeitskraft wird auch zu ihrem durch den Reproduktions-Aufwand bestimmten Wert verkauft. Aber sie hat die Eigenschaft, dass sie mehr an Wert erzeugen kann, als sie selbst hat, als ihre eigene Erzeugung gekostet hat, Mehrwert. Das ist ein Grundkonzept für die ökonomische und politische Entwicklung.

(3) Arbeitskraft wird im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess, in der Familie, erzeugt. Man kann mehr oder weniger Aufwand dabei betreiben. Ausgebildete Arbeitskraft ist teurer und mehr wert als einfache Arbeit, um einen bestimmten Multiplikator. Sie erzeugt auch mehr, größeren Wert. Der Ausgangspunkt ist also homogene, d. h. zwischen den Zeiteinheiten und auch den Akteuren einheitliche und gleichwertige einfache Arbeit.

(4) Doch die Einzelarbeit kann in die Kosten-, Preis- und Wertrechnung nicht einfach mit ihrem realen Zeitaufwand eingesetzt werden. Es gibt unterschiedliche Fähigkeiten und Ge­schicklichkeiten. Man muss den Durchschnitt einsetzen, die durchschnittliche Arbeitszeit. Hier kommt das erste Mal der Begriff gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ins Spiel.

(5) Aber der kommt in einem völlig anderen und weitaus schwierigeren Kontext prominent zum Tragen. Nur dann wird man den Wert seiner Arbeit erlösen, wenn man das Richtige, Ge­wünschte, Nachgefragte herstellt. Der Markt kommt ins Spiel. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit beinhaltet somit auch die Nachfrageseite.  Sagen wir es gleich: Das ist zu viel der Last für einen einzelnen Begriff.

Wir müssen nun eine Reihe von Problemen ansprechen.

Zuerst eine eher technisch-methodische Frage. Marx und Engels bestehen fast schon neuro­tisch darauf, dass alle Waren ohne Aufschlag, zu ihrem wahren Wert, verkauft werden und im Gleichgewicht werden müssen. Trotzdem entsteht dabei Mehrwert. Technisch könnte man einwenden: Es kommt auf dasselbe heraus, wenn man sagt: Alle Waren werden mit einem Aufschlag verkauft, nur die Ware Arbeitskraft nicht. Aber nur die eine Ware Arbeitskraft erzeugt Mehrwert Warum ist Marx in diesem Punkt so scholastisch-rechthaberisch? Marx war am Beginn seiner ökonomischen Studien über diesen Punkt konzeptuell unsicher. In der Ori­ginalfassung von „Lohnarbeit und Kapital“ – einer Artikelserie in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ April/Mai 1849 – schreibt er selbst noch „Arbeit“; erst Engels bessert ihn dann in einer gesonderten Ausgabe, schon nach Marx Tod, auf „Arbeitskraft“ aus (MEW 6).

Das ist keine Caprice, sondern ein fundamentaler Punkt. Hier hat Marx eine grundsätzliche theoretische Entscheidung getroffen, und die ist diskutabel.

Hinter der Marx’schen Auffassung steht ein eisern-technokratisches Konzept. Im Grunde fin­den wir hier Lassalles „ehernes Lohngesetz“ wieder, das Marx doch so heftig bekämpft. Die Idee ist: Es gibt eine bestimmte Technik, und nur eine, welche in einem gegebenen Zeitpunkt den Wert der  Produktion bestimmt. Eine Technikwahl gibt es nicht, die Option zwischen mehreren Produktions-Möglichkeiten. Aber auch die Arbeitskraft und ihre Ausbildung ist zu jedem Zeitpunkt in Menge und Anbot bestimmt. Es ist ein Technokratismus, der nach dem archimedischen Punkt in der Gesellschaft sucht, nach der festen Determination der Verhält­nisse. Wir werden ihn in der Formalisierung von Ricardo durch Sraffa wieder antreffen.

Das muss erläutert werden. Eine bestimmte Ware, Baumwolle z. B., ist nach dem letzten Stand der Technik mit einem hohen Kapitalaufwand, mit einer Baumwoll-Pflückmaschine zu produzieren. Aber diese Maschinen sind nicht nur teuer, wo doch in schlecht entwickelten Ländern akuter Kapital-Mangel herrscht. Sie machen auch einen großen Teil der Arbeitskräfte überflüssig. Dabei gibt es die in Fülle, denn es herrscht ohnehin strukturelle Arbeitslosigkeit. Man hat also die Wahl zwischen 2 Techniken. Eine braucht wenig Arbeitskraft, erfordert hohe Investitionen, ist aber bei hohen Löhnen profitabel. Die andere ist arbeitsaufwendig und setzt voraus, dass die Löhne niedrig sind, aber sie beschäftigt auch die Menschen. Die wirtschaftspolitische (und wirtschaftliche) Ent­scheidung hat also die Option zwischen zwei Techniken. – Mao und Che Guevara haben das Problem in der Pra­xis gesehen. Theoretisch aber haben sie sich vorerst darüber hinweg geschwindelt (Mao 1975). Als sie anfingen, es zu thematisieren, kamen sie in fundamentalen Widerspruch zum sowjetischen Entwicklungs-Modell. Interessanter Weise hat ein Ökonom der UNO, Ragnar Nurkse (1953), die Problematik ebenfalls formuliert und eine ähnliche Lösung, wie (theoretisch!) im Großen Sprung angestrebt, empfohlen.

Wählt man den Zugang von der anderen Seite, dann kann und muss man über den Lohn verhandeln. Es kommen Marktkräfte und damit Machtverhältnisse ins Spiel. Die Wertlehre und der Wert als solcher ebenso wie die Verteilung und die Ökonomie insgesamt wird zu einer Macht-Theorie. Wie man sieht, ist dies tatsächlich eine Grundfrage. Sowohl die Werte wie auch die Verteilung sind nicht ein für alle Male technisch gegeben. Sie sind Ergebnis kurz-, mittel- und langfristiger sozialer Kräfteverhältnisse und werden politisch beeinflusst und festgelegt. Das betrifft also Punkt 1 & 2.

Ebenso wichtig ist die Überlegung zum Punkt 3. Lassen wir uns auf seine Konstruktion ein – und ich meine, das müssen wir unbedingt – , so hat dies analytische und auch normative Fest­stellungen zur Folge.

Wenn die Ausbildung und ihre Kosten den Wert der Arbeitskraft bestimmen, wie hoch müss­ten dann die unterschiedlichen Lebens-Einkommen von einfacher und von diversen Arten von ausgebildeter Arbeit sein?

Um auf eine plausible Größenordnung zu kommen, machen wir einige Beispiels-Rechnungen, aber unter mehreren verschiedenen Annahmen: einmal einfach als Vergleich von Lebensar­beits-Verdiensten, die wir ohne Weiteres aufsummieren; dann unter Anwendung eines Zins­satzes, damit wir einen momentanen Barwert erhalten; und schließlich berücksichtigen wir weitere gesellschaftliche Bedingungen, welche neben der formalisierten Ausbildung in die Arbeitskraft eingehen. Die Voraussetzung sei eine Arbeitszeit von 40 Jahren, eine sozial dif­ferenzierte Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Pensionierung, und als Ausgangspunkt die (normative) Annahme, dass die Lebens-Einkommens-Summe gleich sein soll, egal ob jemand mit 15 ins Berufsleben eintritt, oder aber mit 25. Denn es ist ethisch nicht begründbar, warum diese Einkommen differieren sollen, sobald die Ausbildungs-Kosten ausgeglichen sind. Und analytisch müssten „im Gleichgewicht“ jene, die schlechter ausgebildet sind und weniger verdienen, in die Ausbildungs-Curricula strömen, wenn es nicht davor Barrieren gibt.

Beispiel 1: Das Brutto-Jahreseinkommen eines Vollzeit-Hilfsarbeiters, der „einfachen Arbeit“. in Österreich 2011 betrug 24.065 € brutto, d. h. netto etwa 19.000 €. Wir müssen netto rech­nen, weil wir sonst bei der Pension doppelt zählen. Bei 40jähriger Berufstätigkeit wäre das 760.000 €. Als Nur-Pflichtschüler – als Proxy für Hilfsarbeiter – hat ein Mann in Österreich im Alter von 60 Jahren noch eine Lebenserwartung von 19 Jahren, als Akademiker 23 Jahre. Für die Frauen lauten die Werte 24 und 26 Jahre. Nehmen wir das Alter des Mannes. Die Pen­sion soll 60 % des Aktiveinkommens betragen, das wären 19 mal 12.000, also rund 217.000, macht ein Lebenseinkommen von 977.000 €. Ein Akademiker, Angestellter „hoch qualifiziert“ aber nicht „führende Tätigkeit“; bekommt netto (Median) etwa 35.000 und  21.000 als Pensi­on. Wie lange? Von 25 bis 63, also 38 Jahre lang, und dann 20 Jahre lang Pension. Das ergibt ein Lebenseinkommen von 1.770.000, nicht ganz das Doppelte (Faktor 1,81). Wenn wir den Wert der Arbeit durch die Kosten der Ausbildung bestimmen wollen, wäre der Betrag von 10 Jahres-Einkommen, von 15 bis 25 Jahren, also 10 mal 19 =190.000 € als entgangenes Ein­kommen zum Lebenseinkommen des „einfachen Arbeiters“ hinzuzurechnen. Das ergäbe aber einen Faktor von knapp 1,2, um den ein höherer Lohn gerechtfertigt wäre.

Beispiel 2: Üblicherweise wird aber das Lebenseinkommen mit einem bestimmten Zinssatz auf einen Gegenwarts-Wert herab gerechnet. Welcher Zinssatz? Das ist die Frage, an der die ganze Rechnung hängt. Wir nehmen hier den bescheidenen Zins von 1,5 %, und zwar mit gutem Grund. Wir müssen etwas vorgreifen in unseren Überlegungen. In der Ökonomie wird vom Zins gesprochen, als ob tatsächlich Geld Produkte herstellen würde. Das tun selbst die, welche nicht naiv sind. Wir werden jedoch sehen, dass man die Wachstumsrate wie einen Zins behandeln kann. Der Wert muss sich nach der höchsten Produktivität bemessen, und das ist in einer wachsenden Wirtschaft die des letzten betrachteten Jahres. Aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte können wir eine jährliche Wachstumsrate der Produktivität von 1 1/2 % annehmen. Die ergibt sich nicht aus der Netto-Investition, sondern aus der Re-Investition durch die Abschreibungen; man könnte auch sagen: durch den technischen Fortschritt. Zinst man also die genannten Werte ab, so ergibt sich für die „einfache Arbeit“ 698.000 und für den Akademiker 1.091.000 (Faktor 1,56, also etwas niedriger). Von dieser Summe wären jetzt noch die Ausbildungskosten abzuziehen, jetzt aber aufgezinst, den hier muss man ja auf den Ertrag warten. Ergibt bei oben genannten 19.000 pro Jahr 206.000, also die Lebenssumme 884.000 (Faktor 1,27).

Beispiel 3: Hier geht es nicht mehr um Rechnungen, sondern um weitere Überlegungen zur Verteilung. Technisch ist die Rechnung nämlich falsch. Wir müssten ein simultanes (lineares) Gleichungssystem aufstellen, in welches die „einfache Arbeit“ nicht mit einem vorgegebenen Wert eingeht, sondern im Wert erst bestimmt werden müsste. (Es ist dasselbe Problem wie in der Transformations-Problematik, auf das wir noch zu sprechen kommen werden.) Aber in den bisherigen Überlegungen ist der Ablauf intuitiver zu erfassen. Das Ergebnis wäre ein et­was größerer verteilungs-ethisch gerechtfertigter Faktor als der oben genannte von 1,2. Wei­ters sind die Naturalleistungen während des Lebens in Rechnung zu stellen, also insbesondere der Gesundheitsdienst. Dafür bezahlt der Mittelschicht-Angehörige über die Versicherung mehr als der aus der Unterschicht. Usw.

Es geht aber auch um die Frage der Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensstilen. Wenn je­mand unbedingt mehr Geld haben will als z. B. Freizeit, so ist dies eine individuelle Präferen­zen-Frage, in die man aus libertärer Sicht (im ursprünglichen Sinn!) nicht eingreifen sollte.

Auch die Überlegung des John Rawls (1979) ist sinnvoll: (Bescheidene) Ungleichheit wäre dann gerechtfertigt, wenn damit der Wohlstand auch der schlechtest gestellten Mitglieder der Gesellschaft gehoben wird. Es geht um die Leis­tungs-Motivation. Rawls hat dies ehrlich gemeint. Der Gedanke wird zynisch missbraucht, um riesige Wohlstands-Unterschiede zu rechtfertigen (Okun 1975). Er wurde zum wichtigsten Ideologem des Neoliberalismus. . Für die oberen Mittelschichten und erst recht die super­reichen Oberschichten gilt dies natürlich nicht.

Diese Rechnereien mögen müßig erscheinen. Sie sagen uns aber einen überaus wichtigen Tat­bestand: Die untere und die mittlere Mittelschicht – denn diese wird von den Durchschnitten, die wir hier nur an einem Beispiel anführen, in erster Linie erfasst – bekommt ungefähr das, was man ihr im Anschluss an Arbeitswert-Überlegungen etwa zugestehen würde, oder auch ein bisschen, aber nicht allzuviel mehr. Sie sind also nicht zufällig die eigentlichen sozialen und politischen Stützen des Systems

Literatur

Engels, Friedrich (1972 [1876]), Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. In: MEW 20, 444 – 455.

Guevara, Ernesto Che (1972), Ökonomie und neues Bewußtsein. Schriften zur politischen Ökonomie. Berlin: Wagenbach.

Mao Tse-Tung (1975), Notizen nach der Lektüre des Lehrbuchs ‚Politische Ökonomie‘. In: Ders., Das machen wir anders als Moskau. Kritik an der sowjetischen Politökonomie. Rowohlt, 14 – 86.

Marx, Karl (o. J. [1857/58]), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Frank­furt/M.: EVA.

Marx, Karl [1849], Lohnarbeit und Kapital. In: MEW 6, 397 – 423, 591 – 599.

Marx, Karl [1861], Lohn, Preis und Profit. In: MEW 16, 101 – 152.

Nurkse, Ragnar (1961 [1953]), Problems of Capital Formation in Underdeveloped Countries. New York: Oxford University Press.

Okun, Arthur M. (1975), Equality and Efficiency: The Big Tradeoff. Washington, DC.: The Brookings Institution.

Rawls, John (1979), Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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