„Der Arbeiter hat kein Vaterland.“ Von wem immer dieser Satz stammt – im 19. Jahrhundert wurde er den Sozialisten zum Vorwurf gemacht. Heute ist sie das politische Ziel der Oligarchie. Die Arbeit soll dem Kapital nachziehen. In den 1960ern und 1970ern hat dies europaweit auch gut funktioniert. Griechen, Portugiesen und Spanier flohen vor den Diktaturen, und auch Italiener kamen in Massen in die BRD. Und heute beginnt der Wanderzirkus wieder. Nur müssen sich auch immer mehr Deutsche dran beteiligen. Sie ziehen nach Österreich und in die Schweiz und stoßen dort bereits auf Ressentiments. Und die meisten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum halten dies für progressiv.
Vor 150 Jahren und dann noch sehr lange waren die Intellektuellen in ihrer Mehrzahl national und nationalistisch – Friedrich Engels inbegriffen. Aber sehen wir einmal näher hin! Was hieß das damals? Man sah die Nation als eine Großeinheit, deren Grenzen durch weitgedehnte Sprachähnlichkeiten abgesteckt sein sollten. Zur „deutschen Nation sollten also nicht nur Deutsche, wie wir sie heute verstehen gehören. Deutschsprachige Österreicher zählten dazu – natürlich. Deutsch sprechende Schweizer wurden ebenfalls inbegriffen. Und da hörten diese Leute noch lange nicht auf. Niederländer? Ein deutscher Dialekt! Einige waren ehrgeizig genug und zählten auch die Skandinavier dazu – sei doch Dänisch/Norwegisch/Schwedisch auch nur ein norddeutscher Dialekt.
In anderen Gegenden war dies nicht anders. Die russische Nation? Panslawisten zählten da alle slawisch sprechenden Menschen dazu. Der Zar wisse das vielleicht nicht – man hatte es ihm schnell beigebracht. Mit den Russen als Zentrum waren nicht alle einverstanden. In Paris saß ein polnischer Emigrant, Franciszek Henryk Duchiński, und der mochte die Russen nicht. Also erklärte er sie zu Mongolen und Türken, und die Polen zu den wirklichen Slawen.
In der Zwischenkriegszeit erklärten Panturanisten, teils im Kampf gegen die Sowjetunion, Anatolier, Azeris, Turkmenen, Kasachen, Usbeken, Tataren und noch andere zu „Türken“ und wollten dann die Führung dieser „türkischen Nation“ übernehmen. Wie es heißt, soll dieser Gedanke auch dem heutigen türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan nicht ganz fremd sein…
Und was heißt das?
Die Nation des 19. Jahrhunderts sollte eine Großmacht sein. Wieder Engels: „Eine Nation, die 20.000 bis 30.000 Mann [an Truppen] höchstens stellt, hat nicht mitzusprechen“ (MEW 27, 268). Und als die Führer dieser Großmächte bewarben sich die Intellektuellen. Es war diese Machtambition, die sie zu Nationalisten machte. Und wie man schon am Ende des 19. Jahrhunderts und dann erst recht nach der Großen Schlächterei 1914 – 1918 sah: Mit dem, was man bald unter Nation verstand, hatten diese Großmacht-„Nationen“ wenig zu tun. Und der Nationalstaat sollte der der Staat der Intellektuellen sein. Die Unterschichten, die Proletarier und die Plebejer, sollten schon einen Platz haben: Sie sollten für „ihre“ Intellektuellen und Eliten arbeiten. Daraus kam schließlich die Marx’sche Auffassung: Der Staat ist der Schutzapparat der herrschenden Klasse. Und die besteht aus Besitz und Bildung:
Wir sind heute wieder ziemlich nahe an letzterem: Besitz und Bildung wollen den neuen Staat für sich einvernahmen und sind schon ziemlich weit damit. Aber dieser neue Staat hat jetzt einen deutlich anderen Charakter. Er soll nicht mehr national sein, sondern supranational.
Denn dazwischen ist Einiges passiert.
Nach der Großen Schlächterei führte man fast in ganz Europa das allgemeine Wahlrecht ein. Aber die alten Eliten sahen sich bald gefährdet. Und so wandten sie sich wieder an ihre Hilfskräfte, die Intellektuellen. Hatte nicht schon Plato erklärt: Die Masse ist minderwertig, die Philosophen müssen über sie herrschen? Der Faschismus war auch eine Bewegung radikalisierter arroganter Intellektuellen. Man sehe sich nur die Studenten im Österreich der Zwischenkriegszeit an, diese haute volée auf den Universitäten!
Sie führten allerdings gemeinschaftlich mit den Industriellen, den Militärs und den diversen Führern Europa in die Katastrophe, die Zweite große Schlächterei von 1939 – 1945.
Mit den Faschisten war also kein Staat zu machen. Wieder installierte man das allgemeine Wahlrecht. Die nationalradikalen Intellektuellen aber schwiegen vorerst. Und dann wendeten sie sich Europäisch: Österreich wollten und wollen sie nicht sagen, Deutschland durften sie eine Zeitlang nicht sagen – einige taten es trotzdem, z. B. R. Menasse. Also sagten sie „Europa“. Der alte Deutschnationalismus wurde so EU-europäisch.
Eine Zeitlang konnte das allgemeine Wahlrecht seine Wirkung entfalten. Die Ansprüche der Bevölkerung waren nicht mehr so leicht abzuschlagen. Der nationale Staat nahm nach der Zweiten großen Schlächterei also immer mehr Anliegen auch der unteren Schichten auf.
Und das ging den Eliten schließlich zu weit. Man brauchte eine Alternative.
Und man fand sie im supranationalen Staat.
Man musste die politischen Entscheidungen von dort weg verlagern, wo sie noch von den Massen zu beeinflussen waren. Bürokraten sollten in Hinkunft nach ihrem Gusto und Interesse über Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheiden: Die EZB, die EU-Kommission, das Pseudoparlament EP.
Der Nationalstaat hat im Verlauf von gut zwei Generationen der Gewöhnung an politische Mitbestimmung Züge einer Schutzmacht auch für Unterschichten angenommen. Dem steht nun der Supranationale Staat gegenüber. Er entscheidet faktisch über die Grundlinien der Politik – „80 % aller Entscheidungen“ heißt es mehr metaphorisch als analytisch. Damit erhält er wieder den traditionalen Staats-Charakter, ein Ausschuss der Eliten. Und er hat nun die Macht, dies auch den Nationalstaaten aufzudrängen.
Es ist somit ganz klar, dass die Massen immer stärker national denken. Neben der Bestrafung der Regierungen, wie wir sie überall in Europa beobachten können, ist dies ein Grund, warum sich die Bevölkerung weitgehend den Rechtsparteien zuwendet – denn die nennen sich Nationale. Der supranationale Staat aber ist mittlerweile für alle erkennbar der Staat der Oligarchie, der Banken und der Gutgestellten.
Politische Identität hängt immer auch von der Befriedigung der eigenen Interessen ab. Insofern führt die analytisch richtige Trennung der Handlungsmotive in Identität und Interessen leicht in die Irre. Denn die Interessen nehmen Einfluss auf die Identität. Damit ist es auch klar: Die Proletarier und Plebeier sind heute eher national eingestellt als die Intellektuellen.
Die Reste der alten Linken hängen immer noch an den Phrasen von Internationalismus. Einmal abgesehen davon, dass dies bei den alten Kommunistischen Parteien auch ein Schleier für alternative Machtansprüche war; abgesehen davon, dass ein neuer Internationalismus von den national organisierten Bevölkerungen und ihren Bedürfnissen ausgehen muss; abgesehen davon, dass ein nicht geheuchelter Internationalismus sich den Unterdrückten der Dritten Welt zuwenden müsste und nicht mit den Internationalismus der Herrschenden, der USA und EU und ihren Kettenhunde, heulen darf; abgesehen von all dem sollten Linke doch wohl noch so viel von ihren alten Theorien im Kopf haben, um zu begreifen: Der Supranationalismus der Oligarchie und ihrer Intellektuellen ist das Gegenteil von Internationalismus.
16. März 2014