0. Methodische Vorbemerkung
So wie jeder internationale Konflikt hat auch der gegenwärtige in der Ukraine eine regionale und lokale soziopolitische Dimension – verquickt mit der geopolitischen Ebene. Allzu schnell rückt die Geopolitik in den Köpfen, in den Medien und schließlich auch in der gesellschaftlichen Realität in den Vordergrund. Doch ohne die dahinter liegenden soziopolitische Ursachen lässt sich keine sozialrevolutionäre Politik entwerfen, geschweige denn eine Lösung im Sinne der Mehrheit der Volksmassen finden.
1. Ausgangspunkt
Die Aussetzung des unterschriftsreifen Assoziationsabkommens mit der EU vergangenen Herbst diente als Funke der Straßenproteste. Allein das zeigt die sozialen Illusionen in die EU und den westlichen Kapitalismus auf der einen Seite, sowie die die Kraft des antirussischen Nationalismus auf der anderen Seite. Das Abkommen selbst war sowohl ökonomisch als auch politisch unvernünftig, denn die Verbindung zu Russland ist in jeder Hinsicht sehr eng. Die EU ihrerseits hat nur Abbauprogramme à la IWF zu bieten, wie sie auch in Südeuropa vorgezeigt werden, und Assoziation bedeutete die Fortsetzung der Peripherisierung sowie die weitere Verarmung der Mehrheit. Doch die Heftigkeit der Proteste kann nur verstanden werden, wenn man den sozialen Aspekt auch mit einbezieht. Die Russland zugewandten Teile der Eliten führten einen Brachialkapitalismus, ähnlich dem russischen. Sieht man von der geopolitischen Orientierung ab, unterscheiden jene sich von den orangenfarbigen Vorgängern kaum. Die Gasprinzessin Julia Timoschenko, die mit Russland Milliarden verdiente, kann als Paradebeispiel dienen. Die Menschen lehnten sich eben auch gegen den sozialen Niedergang als Folge der Krise seit 2008 auf, den sie berechtigerweise Janukowitsch und Co. zuordneten, der selbst unter seiner russischsprachigen Kernklientel schon einiges an Einfluss eingebüsst hatte. Doch von Anfang an waren rechte, rechtsnationalistische und profaschistische Kräfte an der Bewegung beteiligt, die ihren Einfluss ausbauen und schließlich dominant werden konnten. Es wurde darüber berichtet, dass sie die Unterstützung antirussischer Großkapitalisten genießen würden. Das Nationale erdrückte das Soziale mit Leichtigkeit und stellt die Stärke des ukrainischen Nationalismus und der antirussischen Gefühle in wichtigen Teilen der Bevölkerung unter Beweis. Die anfangs noch vorhandene Linke wurde schnell marginalisiert und vertrieben. Dabei ist nicht die KP gemeint, die wie in Russland Anhängsel des kapitalistischen Regimes von Putin-Janukowitsch ist, sondern wirklich unabhängige Kräfte wie Borotba, die sich sehr schnell dafür entschieden, sich vom Maidan zurückzuziehen.
2. Westen antirussisch
Die EU und insbesondere die USA haben sich auf die Seite der Bewegung gestellt und den Umsturz unterstützt – aus einer grundsätzlich antirussischen Haltung und in der Hoffnung, ihre Einflusssphäre gegen Osten zu erweitern. Einzig Deutschland und sein Block, die starke wirtschaftliche Interessen in Russland haben, versuchten, Vorsicht walten zu lassen, jedoch ohne sich gegen die USA stellen zu wollen. Bemerkenswert ist jedenfalls mit welcher Nonchalance, über den großen Einfluss ultranationalistischer und rechtsradikaler Kräfte hinweggesehen wird. Er reicht, sich zu vergegenwärtigen, wie oppositionellen Bewegungen in aller Welt das Etikett „ultranationalistisch“ angeheftet wird, während man die ukrainische Rechte mit größter Nachsicht behandelt. Noch deutlicher wird es beim offensichtlich weit verbreiteten Antisemitismus. Da wird der Mantel des Schweigens darüber gebreitet. Selbst für die Zionisten scheint das kein Anlass für eine Kampagne zu sein.
3. Russische Reaktionen
Die westliche Berichterstattung sowie die offizielle Politik fokussiert auf das direkte russische Eingreifen. Es wird unterstellt, dass die treibende Kraft der Ereignisse der Kreml sei. Ohne Zweifel spielt die politische wie auch (potenziell) militärische Unterstützung Russlands eine bedeutende Rolle, doch da ist ganz offensichtlich auch eine Massenstimmung und eine darauf gegründete Massenbewegung gegen die rechtsnationale Regierung in Kiew, ohne die die russische Politik gar nicht möglich gewesen wäre – wobei sich Krim und Donbass erheblich unterscheiden. Die Bewegung basiert auf einem grundlegend demokratischen und sekundär auch sozialen Impuls, der jedoch von einem russischen Nationalismus überdeckt und vor allem vom Kreml für dessen Zwecke benutzt wird. Jedenfalls ist die selbständige Artikulationsmöglichkeit beschränkt. Auf der Krim hatte Russland leichtes Spiel, denn die russischen Streitkräfte waren direkt präsent. Sie mussten sich nur als neue Machthaber deklarieren. Die Unterstützung der russischen Mehrheit dafür hatten sie, wie die Ergebnisse des Referendums unter Beweis stellen. Die hochrangigen Überläufer aus den ukrainischen Streitkräften belegen deutlich, dass es eben nicht nur militärischer Druck war.
4. Donbass
War auf der Krim die Unterstützung für den militärischen Streich Putins noch passiv geblieben, so lieferten die nachfolgenden Ereignisse in der Ostukraine den Beweis dafür, dass es sich um eine Volksbewegung unter der russischsprachigen Bevölkerung handelt – was russische geheimdienstliche und militärische Unterstützung keineswegs ausschließt. Die prorussischen Großkapitalisten streben den Ausgleich mit dem neuen Kiewer Regime und den prowestlichen Großkapitalisten an. Sie wollen keine Abspaltung, sondern würden sich wohl mit einem Interessensausgleich zufrieden geben, der ihnen einen gewissen Anteil an der Macht zurückgibt und die antirussische Haltung zurücknimmt. Die Ukraine als Markt und Einflussgebiet bleibt ihnen wichtig. Zudem muss bedacht werden: Einerseits leben die meisten Russen unter einer ukrainischen Mehrheit bzw. sind ganz vermischt, andererseits geht der russische Einfluss weit über jene hinaus, die sich selbst als Russen definieren oder vorzugsweise Russisch sprechen. Das war auch am ehemals großen Einfluss von Janukowitsch außerhalb der enger gefassten russischen Einflusssphäre abzulesen. Überhaupt gab und gibt es keine klare Trennung und eine starke Vermischung. Eine weitgehende Autonomie scheint auch die Meinung der Mehrheit der östlichen Bevölkerung und selbst der Protestbewegung zu sein, will man den einseitig gefärbten Medienberichten Glauben schenken. Zumindest war das in der Anfangsphase so. Obwohl die Stimmen für den Anschluss an Russland lauter werden, bilden sie augenscheinlich noch eine Minderheit selbst unter den Aktivisten. Vieles hängt von der Linie der neuen ukrainischen Regierung ab. Bleibt sie hart ukrainisch-nationalistisch, ist eine weitere Eskalation bis hin zur Abspaltung möglich. Ein inhaltlich substanzielles Entgegenkommen seitens Kiews gab es bis jetzt nicht, höchstens eine billige Veränderung der Tonlage. Das Angebot eines Referendums über einen Autonomiestatus klingt beim ersten Hinhören gut. Doch es soll die gesamte Bevölkerung abstimmen. Das wäre, als würde man ganz Kärnten über die Minderheitenrechte der Slowenen oder die gesamte Türkei über jene der Kurden entscheiden lassen. Das Ergebnis wäre jedenfalls vorprogrammiert. Dazu kommen die bereits unternommenen und bisher gescheiterten militärischen Versuche, die russische Bevölkerung in die Knie zu zwingen, die wenig Vertrauen in den Kompromisswillens der neuen rechtsradikal und nationalistisch durchsetzten Machthaber in Kiew aufkommen lassen.
5. Für die russische Volksbewegung
Der Widerstand der russischen Bevölkerung gegen die reaktionäre, prowestliche Regierung in Kiew ist sowohl aus demokratischer, als auch aus antiimperialistischer Sicht unterstützenswert. Warum sollen sie sich antirussischen Großkapitalisten, prowestlichen Nationalisten und Rechtsradikalen unterwerfen? Man darf dem Aufstand nicht automatisch unterstellen, die alten prorussischen Großkapitalisten um Janukowitsch zurückzuwünschen, die auch im Donbass für die sozialen Missstände verantwortlich gemacht wurden. Doch muss gleichzeitig klar sein, dass die Grenze zwischen legitimer russischer nationaler Selbstbestimmung und großrussischen imperialen Ansprüchen und chauvinistischen Anwandlungen hauchdünn ist und leicht verschwimmen kann – zumal Moskau seine Finger mit im Spiel hat.
6. Zwiespältige Kreml-Politik
Ein weiteres Vordringen des Westens und insbesondere der Nato an das russische Kernland zu verhindern, erachten wir als legitim. Denn das war die Intention vor allem Washingtons, das mittlerweile aber bereits gemerkt hat, dass der Schuss auch nach hinten losgehen kann. Wenn Kiew bei der antirussischen Politik bleibt, könnte das letztlich zu einer weiteren Expansion Russlands führen. Der Vorschlag der Neutralität kann als Versuch gewertet werden, von der Ostexpansion, zu retten was noch zu retten ist – wobei Neutralität bekanntlich sehr verschieden ausgestaltet werden kann. Insofern haben sich die militärischen Handlungen und Drohungen des Kremls als sehr effektiv erwiesen. Doch muss die russische Politik in einem größeren Kontext betrachtet werden. Janukowitsch ist nicht unwesentlich auch ein Produkt der russisch-europäischen Wirtschaftskoalition. Er widerspiegelt die autoritäre Struktur des russischen Kapitalismus à la Putin, der ökonomisch eng mit dem globalen Kapitalismus verwoben ist. Der Kreml trägt also wesentliche Mitverantwortung für die Protestbewegung gegen Janukowitsch und bot dem rechten ukrainischen Nationalismus praktisch eine Auflage. Russlands völkerrechtlicher Vergleich der Annexion der Krim mit der Abtrennung des Kosovo ist zutreffend, auch wenn der Westen nach wie vor mit der Behauptung des „Völkermordes“ das Offensichtliche abzustreiten versucht. Doch nicht nur der Westen misst mit zweierlei Standards, sondern auch Russland. Wenn die Russen ein Selbstbestimmungsrecht haben, warum dann nicht die Tschetschenen aus dem gleichen Anspruch? Die Antwort leuchtet jedem ein: Es geht wie beim Westen weder um Völkerrecht, noch um Demokratie, noch um Humanitäres, sondern ganz schlicht um knallharte Großmachtinteressen.
7. Tradition des großrussischen Chauvinismus
Russland hat eine Jahrhunderte alte koloniale und imperiale Tradition, die um nichts weniger illegitim und antidemokratisch ist als die westliche. Selbst die Sowjetunion – mit der extrem kurzen Unterbrechung durch die demokratische Nationalitätenpolitik Lenins, die wesentlich die Russische Revolution ermöglichte – konnte und wollte sich nicht von dieser befreien. Der großrussische Chauvinismus erhielt einen antiimperialistischen Mantel, der mit der Niederringung Nazideutschlands historisch-demokratische Legitimität erlangte („Großer Vaterländischer Krieg“). Im Kalten Krieg hielt der Kreml den dominanten US-Imperialismus in Schach, selbst wenn er sich dabei zuweilen selbst als imperialistisch kritisieren lassen musste. Putin versucht, in diese Fußstapfen zu treten, mit dem gewaltigen Unterschied, dass das heutige Russland anders als die UdSSR integraler Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems ist. Es ist legitim und unterstützenswert, wenn Russland dem Westen entgegentritt und damit einer mehr multipolaren Welt den Weg ebnet. Gleichzeitig darf aber nicht übersehen werden, dass die russische Großmachtpolitik, die die Rechte kleinerer Nationen und Nationalitäten mit Füßen tritt und bisweilen blutig niederschlägt, jene in die Arme des Westens treibt. Der rechte ukrainische Nationalismus ist nicht nur, aber auch Produkt jahrhundertealter großrussischer Machtansprüche. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Putin mit der Kultivierung des russischen Nationalismus als antiwestlich die durch den extremen Kapitalismus aufgerissenen sozialen Widersprüche in Russland selbst zuzudecken versucht. Demokratische und soziale Forderungen der unteren Klassen werden zu westlicher Dekadenz und der russischen Volksseele widersprechend verunglimpft. Russland bewegt sich in Richtung auf ein neues Zarentum. Aus demokratischer, sozialrevolutionärer und langfristig auch antiimperialistischer Sicht liegt der Schlüssel in der Rückkehr zu dem, was einen wesentlicher Faktor für den revolutionären Erfolg Lenins bildete: Den unterdrückten Nationen und Nationalitäten bedingungslos die Freiheit zu gewähren (selbst wenn dabei für das Erste reaktionäre Kräfte die Überhand gewinnen sollten), um die Volksmassen langfristig und freiwillig an die Sache der sozialen Revolution zu binden. Das hat übrigens nichts mit Jelzinismus zu tun, der Russland in einer Situation der extremen Schwäche einfach den westlichen kapitalistischen Räubern verhökern wollte.
8. Szenarien
Das Ergebnis des gegenwärtigen Konflikts über die Ukraine ist keine ausgemachte Sache. Auch die extremste Variante, die Spaltung des Landes, ist durchaus im Bereich des Möglichen: Wenn das Kiewer Regime mit seiner rechtsradikalen Komponente hart bleibt und den Westen im Rücken wähnt, könnte es einen ernsthaften militärischen Angriff wagen, welcher wiederum den Kreml dazu zwingen würde, ebenfalls bewaffnet einzugreifen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Moskau gewinnen wird, wenn es gewinnen will. Selbst die USA können daran nichts ändern, es sei denn, sie würden selbst militärisch eingreifen – was politisch undenkbar ist. Doch mit Sicherheit würde Washington die globale Eskalationsschraube fester anziehen und damit die Möglichkeit eines neuen Kalten Krieges heraufbeschwören. Es ist aber durchaus auch möglich, dass Washington einlenkt und Kiew zur Raison bringt. Die Oligarchen und die orangen Zerfallsprodukte würden folgen, doch müssten sie die Rechtsradikalen loswerden – eine Aufgabe, der sie nur schwer gewachsen sind und die sie gegenwärtig auch nicht durchführen wollen. Möglicherweise wäre dazu ein weiterer Staatsstreich nötig, denn Swoboda und die Milizen des Rechten Sektors haben sich Teile des Staatsapparats bemächtigt und sind durch den Maidan legitimiert. Vielleicht ist eine Koalition der Großkapitalisten beider Seiten dennoch möglich? Auszuschließen ist es nicht, wenn der westliche Druck stark genug ist. Letztlich haben sowohl die USA als auch Russland, Deutschland und viele EU-Länder sowieso, sowohl wirtschaftliche als auch geopolitische Interessen die Konfrontation nicht über einen gewissen Punkt hinaustreiben zu lassen, der das gesamte globale System zu erschüttern droht.
9. Autonomie
Ein größerer militärischer Konflikt mit einer darauf folgenden Spaltung des Landes wäre nicht wünschenswert, weil sie den sozialen Konflikt zwischen dem imperialen großrussischen und dem rechten ukrainischen Nationalismus auf lange Sicht begraben würden. Eine weitgehende Autonomie würde dem östlichen Landesteil demokratische Rechte gegen die Kiewer Machthaber sichern, aber die Brücke zu den ukrainischen Unterklassen nicht gänzlich abbrechen. (Es darf nicht vergessen werden, dass es keine klare Trennung zwischen Ukrainern und Russischsprachigen gibt, die Grenzen sind sowohl kulturell, sprachlich, territorial und politisch fließend.) Zudem macht man sich mit der Forderung nach Autonomie von den Putin’schen Großkapitalisten und seiner chauvinistischen Militärmaschine, für die das Volk nicht zählt, nicht so abhängig und bleibt damit für die nationalukrainischen Unterklassen akzeptabel. Dem entspräche außenpolitisch eine Neutralität, die einen gewissen unabhängigen Spielraum durch eine Schaukelpolitik ermöglichen würde. Die Nähe zu Russland könnte dann aus einer stärkeren Position heraus zu einem Vorteil gewendet werden.
10. Gemeinsame Volksregierung
Strategisches Ziel muss es also sein, das Kiewer Regime mit seiner Westbindung zu Fall zu bringen, ohne sich an die prorussische kapitalistische Elite zu binden (System Putin-Janukowitsch). Damit könnten tendenziell die ukrainischen Unterklassen angesprochen und sowohl von den orangen Oligarchen als auch von den nationalistischen Rechtsradikalen gelöst werden. Die akute soziale Krise macht eine radikale, sozialrevolutionäre Antwort plausibel, mit der zuerst die Hegemonie des rechstradikal-großkapitalistischen Blocks aufgebrochen werden muss. Vermischt mit russischem Nationalismus muss aber jede demokratische und soziale Bewegung auf eine betonharte Mauer der Ablehnung stoßen.