Die Aussage ist klar: Man will nicht mehr unter der Botmäßigkeit des Kiewer Regimes leben, das auf Dissens einzig mit roher Gewalt antwortet. Die Kiewer Verweigerung von Verhandlungen wird verständlicherweise als Unmöglichkeit eines Kompromisses verstanden. Der Ausweg: die Unabhängigkeit. Nun kommt noch die Einstellung der Kiewer Zahlungen an die öffentliche Verwaltung im Südosten hinzu, in eines gewissen Sinn die Anerkennung der Unabhängigkeit ex negativo.
Es handelt sich um eine klassische demokratische Entscheidung, die respektiert werden muss (auch wenn sie nicht dem Völkerrecht entspricht und die Abstimmung nicht den Standards einer staatlich organisierten Wahl, sondern mehr einer politischen Massendemonstration entsprach). Noch mehr, als Antifaschisten können wir es nur unterstützen, wenn es eine Volksrevolte gegen eine Regierung gibt, die eine rechtsradikale bis neofaschistische Komponente enthält, selbst wenn hier unzweifelhaft ein nationales Moment mitschwingt.
Doch der Westen baut ein völlig anderes Narrativ auf und lehnt sich dabei sehr eng an jenes des Kiewer Regimes:
Drahtzieher hinter den Konflikt sei in erster Linie der Kreml. Russland wolle gegen den sich am Maidan artikuliert habenden demokratischen Volkswillen mit den Unruhen im Südosten die Ukraine schwächen, destabilisieren, spalten und sich letztlich Teile einverleiben, wie bereits mit der Krim geschehen. Die Ukraine verteidige sich lediglich gegen einen äußeren Aggressor.
Die Opposition der Bevölkerung im Südosten muss entsprechend verkleinert und delegitimiert werden. Kiew bezeichnet sie als von außen gesteuerte Terroristen, die Andersdenkende entführen, foltern und ermorden würden. Selbst die UNO-Menschenrechtskommissarin Pillay schlägt in diese Kerbe. Von Anfang an wurde in den Medien ausschließlich von „pro-russischen oder russischen Separatisten“ gesprochen, obwohl gleichzeitig in zahlreichen Berichten in denselben Medien zu lesen stand, dass die viele Aktivisten und der Großteil der Bevölkerung für eine Autonomie, aber nicht für die Abspaltung eintreten würden.
Die Schwäche dieser Argumentation ist offensichtlich. Warum würde ein guter Teil der Bevölkerung des Donbass solche Verbrecher unterstützen? Selbst wenn einige der Vorwürfe stimmen mögen, welches Ausmaß haben sie? Und: wieso ist man auf der anderen Seite blind?
Vielfach wird unterschwellig und bisweilen auch offen ein aus dem alten Krieg tradiertes Ressentiment der „bösen Russen“ bedient.
Doch die Meinungsmacher wissen selbst nur zu genau, wieso Kiew im Donbass abgelehnt wird. Günther Nonnenmacher, der Herausgeber der FAZ, unternimmt am 15. Mai 2014 eine gewagte und doch entlarvende Spiegelung. Bei den Separatisten handle es sich um rechtsradikale Schlägertrupps. „Von Kampf gegen Faschismus kann jedenfalls keine Rede sein.“ Punkt – es folgt keine weitere Erklärung.
Die Sache ist offensichtlich. Es ist die Replik auf eine Tatsache: In Kiew herrscht ein ultranationalistisches Regime, das eine rechtsradikale bis neofaschistische Komponente enthält, die Milizen unterhält, welche zunehmend in der Nationalgarde regularisiert werden. Russen, Linke und Andersdenkende werden von diesen Schlägerbanden verfolgt.
Symbol dafür ist das Massaker von Odessa, bei dem rund 40 Oppositionelle vom Neonazi-Milieu des „Rechten Sektors“ unter Duldung des offiziellen Repressionsapparates ermordet wurden. Die Urheberschaft wurde in der Folge als „ungeklärt“ dargestellt – und zwar nicht nur von Kiew, sondern auch von den westlichen Medien. Die Blindheit der Westens auf dem rechten Auge ist himmelschreiend. Wie lächerlich erscheint da der selbstproklamierten antifaschistischen Anspruch. Reminiszenzen an Pinochet & Co. werden wach.
Ehrliche Beobachter könnten indes einwenden, dass sowohl der Maidan als auch der Anti-Maidan demokratische Massenbewegungen mit Hegemonie in der jeweiligen Bevölkerung gehabt hätten. Dem kann nicht widersprochen werden. Doch der Maidan hat ein Monster geboren und sobald er seine Schuldigkeit getan hatte, verschwand er auch. Diese Selbstauflösung hängt nicht nur mit dem militärischen Sieg zusammen, sondern mutmaßlich auch mit der Dominanz der rechtsradikalen Milizen, die für jede andere Kraft die Luft zum Atmen nahm. Wir unterstellen: Das antirussische Moment mag in der Zentral- und Westukraine hegemonial sein, der Rechtsradikalismus und vor allem die Milizenherrschaft dürfte es wohl nicht sein.
Zudem gibt es einen qualitativen sozialen Unterschied zwischen Maidan und Anti-Maidan, auf den der russische linke Oppositionelle Boris Kagarlitzky überzeugend hinwies: Mittelstand versus Arbeiterschaft und Unterschicht. Der Maidan wurde sozial dominiert vom gebildeten städtischen Mittelstand, der über das Einfallstor des ukrainischen Nationalismus hilflos der Machtübernahme der Großkapitalisten mit Hilfe der rechtsradikalen Sturmtruppen zuschaute und pulversiert wurde. Der Anti-Maidan ist in der Substanz eine Revolte der Unterschichten und Arbeiter. Das verschafft noch keine Immunität gegenüber russischem Chauvinismus. Doch der Gegensatz zu den eigenen Oligarchen, die einen supranationalen Kompromiss des Business anstreben, ist größer. Das soziale Moment ist jedenfalls stärker.
Westlicher Imperialismus
Die rechtsnationalistische Regierung sitzt gegenwärtig fest im Sattel, vor allen auch dank der massiven Unterstützung, die sie aus dem Westen, allen voran der USA und der EU und somit auch der Nato erhält.
Die harte Linie des Kiewer Regimes, die kein Zugeständnis an die südöstliche Volksrevolte in Erwägung zieht, verfolgt dieses sicher aus eigenem Antrieb, zumal sie sie in der Nähe von Ultranationalisten und Neonazis steht. Doch sie wird vom Westen mitgetragen, von Berlin genauso wie von Wien, obwohl deren rohe Kapitalinteressen einen Kompromiss mit Moskau bevorzugen würden. Die Unterordnung unter Washington zeigt sich auch an der Forcierung der Präsidentschaftswahlen, die ohne einen vorherigen Kompromiss oder ein Abkommen mit dem Südosten, nur der antirussischen Stabilisierung des Kiewer Regimes dienen kann. Verhandlungen ohne die Vertreter der Volksrepubliken sind lächerlich und den Namen nicht wert. Die Donbass-Oligarchen können sie eben nicht ersetzen. Solange sich Merkel und Steinmeier das nicht auszusprechen trauen, bleibt der sanftere Ton inhaltsleeres Gesülze und Wahrung von kommerziellen Interessen im Schlepptau von USA und Nato.
Wir unterstützen daher den Boykottaufruf der Donbass-Revolte, solange dem Südosten das demokratische Recht auf Selbstbestimmung nicht gewährt wird.
Das gibt er den Volksrepubliken auch ein antiimperialistisches Moment, wenn dieses auch nur schwer vom großrussischen Nationalismus und Chauvinismus zu trennen ist. Die westliche Einmischung zur Ausdehnung seiner Einflusssphäre in antirussischer Funktion trägt sicher die Hauptschuld an der Eskalation. Doch das spricht Russland keineswegs von aller Schuld frei.
Historisch trägt der russische imperiale Anspruch zur Rechtsentwicklung der kleinen Nationen und Nationalitäten in seinem Hegemonialbereich bei und drängt deren grundsätzlich legitimen Bestrebungen zur Selbstbestimmung Richtung Imperialismus. Heute heißt das realpolitisch Westen und Nato unter Führung der USA. Doch in Osteuropa ist die Geschichte präsenter als in Deutschland selbst und damit auch der historische Revanchismus. Da schließt man viel mehr an die deutsche, nationalsozialistische Tradition und ihre lokalen Kollaborateure an. Stepan Bandera ist daher wieder allgegenwärtig.
Der Kreml spricht (genauso wie der Westen) nur dort von Demokratie, wo es ihm genehm ist und seinen geopolitischen Interessen zupass kommt. Russen, Abchasen, Oseten kommt die Selbstbestimmung zu, Tschetschenen aber auf gar keinen Fall. Das sind dann wiederum Terroristen. Diese selbstgefälligen Doppelstandards sind aus dem Westen leidlich bekannt.
Zudem ist Moskau für das oligarchische Regime Janukowitsch, dem Zwilling des russischen Raubkapitalismus als Teil des globalen Systems, verantwortlich. Es hat damit den Rechtsnationalisten eine Auflage geboten, die legitimen sozialen Proteste über den Maidan hin zum gegenwärtigen autoritären proimperialistischen Regime zu transformieren.
Demokratische Föderation
Die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung bedeutet nicht automatisch für die Abspaltung einzutreten. Im Gegenteil, in diesem Fall haben beide beteiligten Nationalismen einen reaktionären Aspekt. Der ukrainische Aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus und zum westlichen Imperialismus und der russische aufgrund seiner imperialen und chauvinistischen Tradition. Im Sinne einer gemeinsamen Alternative für die unteren Klassen beider Identitäten halten wir eine starke Autonomie, eine demokratische Förderation, für die beste Lösung. Für eine gewisse Zeitspanne war dies offensichtlich auch die Position nicht nur der Mehrheit der Donbasser Bevölkerung, sondern auch der Aktivisten. Doch die ausschließlich militärische Reaktion der ukrainischen Machthaber ließ die Stimmung schnell Richtung Abspaltung kippen. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, zumal die mächtigen prorussischen Großkapitalisten nach wie vor für den Verbleib im ukrainischen Staatsverband eintreten und auch der Kreml den Konflikt mit dem Westen und damit die Kosten zu minimieren wünscht.
Strategisches Ziel muss es sein das Kiewer Regime zu stürzen. Auch dazu ist es besser, wenn der Donbass bei der Ukraine verbleibt. Doch dazu muss zuerst die politische Hegemonie des Blocks der ukrainisch-nationalistischen Großkapitalisten mit der rechtsradikal-nationalistischen Straßenbewegung zersetzt werden. Hier scheinen sich zwei Linien anzubieten. Einerseits der Kampf gegen die massive Einschränkung der demokratischen Rechte nicht nur des Südostens, sondern auch der ukrainischen Opposition und insbesondere der Linken. Andererseits das Aufzeigen der Radikalisierung des neoliberalen bis neokolonialen Charakters des Regimes, das derzeit vom nationalen Konflikt verdeckt wird. Die Ukraine steuert auf ein soziales Desaster hin oder besser, auf die Vertiefung der bereits bestehenden Katastrophe. Es bekommt das klassische IWF-Programm aufoktroyiert mit Lohnsenkung, Abbau der Sozialleistungen, Privatisierung, Marktöffnung usw. Die politische Aufgabe der Opposition ist es, das Regime auch politisch dafür verantwortlich zu machen. Das ist wiederum nur möglich, wenn sie für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von beiden nationalkulturellen Identitäten, der ukrainischen und der russischen, eintritt, ergo einen demokratischen Föderalismus.
Initiativ e.V. Duisburg
Antiimperialistische Koordination (AIK) Wien