Und seit Neuestem werden die Eliten selbst von Unsicherheit zerrissen. Der Hintergrund all dieser Schwierigkeiten ist der Verlust einer strategischen Idee. Die Eliten sind sich selbst nicht einig, wie sie der Krise ihrer Institutionen begegnen wollen.
Das EU-Projekt beginnt als Integration des liberal-kapitalistischen Westeuropa gegen den Osten des Kontinents. Heute oft in Vergessenheit geraten: Die erste „Europa-Idee“ war jene einer gemeinsamen Armee, welche die Wiederaufrüstung Westdeutschlands leichter verdaubar machen sollte. Dieses „Friedensprojekt“ scheiterte dann an der französischen Nationalversammlung, und man wandte sich einer stärker wirtschaftlichen Agenda zu.
Mit den 1980er Jahren wird die europäische Integration zur Speerspitze der neoliberalen Transformation. Die wohlfahrtsökonomischen Ansätze in der Regional- und der Agrarpolitik (die immer noch die größten Budgetposten ausmachen) werden inhaltlich vom Binnenmarkt, vom totalen Freihandel und von der Deregulierung in den Hintergrund gedrängt. Die gemeinsame Währung – ursprünglich auch zur Kontrolle der deutschen Bundesbank und ihres „Harte-DM“-Terrorismus konzipiert – wurde zum zentralen Hebel für die Zersetzung des Sozialstaates und für die Entfesselung der Finanzmärkte, mit gigantischen Kosten für die Mehrheit der europäischen Bevölkerung.
Aber bereits die Ablehnung von Maastricht in Dänemark zeigt, dass stabile Mehrheiten für einen solchen Kurs nicht zu haben sind. Mit der Eurokrise wachsen die Probleme der EU gewaltig an, der Hegemonieverlust nimmt zu. Es erwächst eine ernst zu nehmende Opposition aus dem rechten Populismus (Front National, UKIP, FPÖ …), einem Ultraliberalismus (dem für die Durchsetzung weiterer Deregulierungen die EU zu zentralistisch ist – etwa die britischen Tories) und auf der Ebene von Volksbewegungen, vor allem in Südeuropa (etwa in Italien die Fünf-Sterne-Bewegung).
Die Pro-Unions-Eliten reagieren darauf mit einer Verschärfung des gescheiterten Kurses: Die Eurozone soll de facto in eine Wirtschaftsdiktatur verwandelt werden. Ununterbrochen wird von „Demokratie“ und „vertiefter Integration“ geredet, aber tatsächlich sind die gemeinsamen Institutionen einem sehr deutschen und ein bisschen französischen Direktorium gewichen. Auch die Rhetorik hat sich gewandelt: Statt den nur mehr in Sonntagsreden verkündeten „europäischen Visionen“ präsentiert man sich in der Realpolitik als einzige Alternative zum Aufstieg unkontrollierbarer Nationalisten und wirtschaftlichem Chaos. Die EU als Hobbes’scher Leviathan, der das Chaos verhindert, dabei aber nicht sonderlich sympathisch wirkt, eine „Wir-sind-das-kleinere-Übel“-Apologetik, die an Hosni Mubarak erinnert. So etwas geht nicht ewig gut. Irgendwann zerreißen die Nebelschwaden des „kleineren Übels“.
Angesichts der tiefen Krise, angesichts der innigen Verbindung der EU mit dem neoliberalen Umbau halten wir ein Herumdoktern im Sinne eines „sozialen Europas“ für sinnlos und für eine gefährliche Ablenkung. Real wird sich dabei immer der Schulterschluss mit den Eliten zur Verteidigung des nicht Verteidigbaren gegen den Rechtspopulismus ergeben.
Was wir benötigen, ist eine echte internationalistische Alternative, einen Zusammenschluss der antikapitalistischen Kräfte Europas, kein linkes Feigenblatt für den Sozialraub. Wir würden daher empfehlen, dort, wo vorhanden, fortschrittliche Anti-EU-Listen zu wählen. Wer eine solche nicht auf dem Stimmzettel finden kann, möge getrost zu Hause bleiben.