Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover
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In Ägypten vollzieht sich eine klassische Konterrevolution. Ausgerechnet die britische „Financial Times“ hatte das bereits kurz nach dem, mit Hilfe eines erheblichen Teils der so genannten „Zivilgesellschaft“ (in Gestalt der Tamarod-Bewegung) durchgeführten, Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten Mursi vor knapp einem Jahr kühl diagnostiziert. Von den meisten Gewerkschaftsführungen in Europa und am Nil wurde dies hingegen lange Zeit ebenso bestritten wie von machen radikalen Linken, die in den Ereignissen gar eine „zweite Phase der ägyptischen Revolution“ erblickten.
Die monatelangen Blutbäder, die Polizei, Armee und Geheimdienst unter den nicht abreißenden Demonstrationen gegen die erneute Militärdiktatur anrichteten, die Razzien mit Tausenden von Verhaftungen, die 1.211 Todesurteile in zwei Schauprozessen gegen der Moslembruderschaft angehörende Demonstranten (von denen nach weltweiten Protesten 492 in lebenslange Gefängnisstrafen umgewandelt wurden), die softe juristische Behandlung von Ex-Diktatur Hosni Mubarak sowie die Reintegration seiner Schergen und Gefolgsleute in den Machtapparat (sofern sie überhaupt daraus verdrängt worden waren) dürfte hierzulande inzwischen für Klarheit gesorgt haben. Auch wenn die Gewerkschaften am Nil weiterhin in Treue fest an der Seite des Regime stehen und dafür auf Gefälligkeiten der Herrschenden hoffen.
Bei der am 26. / 27. Mai 2014 anstehenden Neuwahl des Präsidenten, von der die Moslembrüder als stärkste Oppositionskraft ausgeschlossen sind, soll die Zementierung der vorrevolutionären Verhältnisse durch die Kür des bisherigen Armeechefs, Generalfeldmarschall a.D. al-Sisi, zum Staatschef abgeschlossen werden.
In einem Interview für die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 29.4.2014 äußerte sich der ehemalige Führer des linken Flügels der Ikhwan, Dr. Abdel Moneim Aboul Fotouh zur Lage in seinem Land.
Der 1951 geborene Fotouh ist Arzt und ehemaliger Studentenaktivist. Seit Anfang der 70er Jahre gehörte er der Bruderschaft an und war von 1987 bis 2009 Mitglied ihres Leitungsgremiums. 2011 erfolgte, nach der bereits zwei Jahre zuvor stattgefundenen faktischen, auch die formelle Trennung. Als unabhängiger Kandidat bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 erhielt er 17,5% der Stimmen und ist aktuell sowohl Vorsitzender der Arabischen Ärzteunion als auch Chef der von ihm gegründeten Partei Starkes Ägypten, die dem Linksbündnis Road to the Revolution-Front angehört.
Interview
In seinem Büro treffen wir den Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen von 2012, Moneim Aboul Fotouh. Obwohl er die Moslembruderschaft verlassen hat, ist der Gründer der Bewegung Starkes Ägypten der letzte der gemäßigten islamistischen Führer, denen die politische Aktivität noch nicht verboten wurde. Nach den Aufständen hat Fotouh die Unterstützung der jungen Islamisten mit einem „mitte-linken“ Diskurs gesammelt, der an den Rechten der Arbeiter orientiert ist.
Wird die Bruderschaft bei den nächsten Parlamentswahlen antreten können?
„Die Islamisten, die die Bruderschaft verlassen, sind willkommen. Sie können auf unseren Wahllisten kandidieren. Die Führer der Bruderschaft werden uns niemals unterstützen. Es kann allerdings passieren, dass – wie 2012 geschehen – einige Anhänger der Bewegung zu den Urnen gehen, um uns zu wählen. Die Reaktion der Massen auf die gegenwärtige Repression durch die Armee wird nicht lange auf sich warten lassen. Drei Vertreter von Starkes Ägypten wurden allein dafür verurteilt, dass sie sich an der Abstimmungskampagne gegen die Verfassung beteiligt haben. Das sind irrsinnige Entscheidungen. Und doch hat die Bewegung auf der Straße, infolge der Repression gegen die Bruderschaft, nicht mehr dieselbe Triebkraft.“
Wie beurteilen Sie die jüngsten Todesurteile?
„Das ist reiner Wahnsinn. Wir sind gegen die Anwendung von Gewalt vonseiten jeder legalen und illegalen Autorität. Aber die Gewaltanwendung durch den Staat verstößt gegen jedes Menschenrecht. Die Verantwortlichen für die letzten Anschläge, die das Land mit Blut befleckten, muss man unter den Sicherheits- und Geheimdiensten suchen. Trotzdem habe ich den Moslembrüdern geraten, nicht einmal einen Stein zu werfen.“
Warum haben Sie die Bruderschaft verlassen?
„Ich habe die Bewegung 2009 verlassen. Auch wenn ich meine Entscheidung erst nach den Aufständen von 2011 offiziell verkündet habe, hatte ich da bereits zwei Jahre lang an keiner Aktivität mehr teilgenommen. Die Moslembrüder sind Reformisten und keine Revolutionäre. Ich habe sie in klarer Opposition zur Führung verlassen. Ich war gegen die Bildung einer politischen Partei. (Und über diesen Punkt geht die interne Debatte bei Starkes Ägypten weiter: Soll man als Think Tank
War Mursi ein schwacher Führer?
„Jedweder Präsident, der Ausdruck des Volkswillens war, hätte nicht angetastet werden dürfen. Mursi hat unter zwei Dinge gelitten: Er hat den Staat so wie die Bruderschaft geleitet. (Ich habe ihm geraten, sich von der Bewegung zu trennen und anschließend alle Ägypter zur politischen Beteiligung aufzurufen, egal ob sie Liberale oder Kommunisten sind.) Stattdessen hat er keine Entscheidungen gefällt, ohne auf Khairat Shater oder die Oberste Führung zu hören. Das Zweite ist, dass die wichtigsten staatlichen Institutionen ab dem ersten Moment des Erfolgs der Revolution gegen ihn waren. Das System war nicht gegen die Revolution, sondern hat beschlossen, sie einzudämmen. Deshalb hat das Mubarak-Regime, als Mursi Präsident wurde, beschlossen, einen Plan zu verfolgen, um ihn zu stürzen. Wenn der gewählte Präsident sein eigenes Büro nicht schützen kann, wie soll er dann den Staat schützen? Wo war die Polizei als sie versuchten, sein Büro zu stürmen? Jetzt bringen die Beamten überall Menschen um. Sie sind sehr stark geworden. Sie haben 5.000 Leute getötet. Das sind Verbrecher!“
Was war der Hauptfehler der Bruderschaft?
„Ohne Richter und Polizisten kann man den Staat nicht kontrollieren. Und dann hat Mursi (den liberalen Führer, Anm. d. Red.) Mohammed el-Baradei niemals zum Ministerpräsidenten berufen und der hat sich niemals geweigert. Mursi hätte öffentlich sagen müssen, dass er Präsident geworden ist, aber die Kontrolle über gar nichts besitzt. Bis zum Schluss glaubte er, die Armee stände auf seiner Seite. Da hat er sich getäuscht. Bei jeder Veranstaltung in den Universitäten außerhalb von Kairo habe ich die Jugendlichen gefragt, was sie von der Regierung halten. Alle wollten vorgezogene Neuwahlen. Wenn Mursi vorgezogene Neuwahlen nicht akzeptiert hätte, hätten wir mit Aktionen zivilen Ungehorsams begonnen. Jede Einmischung der Armee haben wir aber immer abgelehnt.“