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Steuerreform?

11. Juni 2014
Von A.F.Reiterer

Eine überfällige Debatte und was die österreichischen Parteien daraus machen


Die subjektive oder Nutzenwertlehre ist das Herzstück der neoklassischen Ökonomie. Sie beruht auf den „Gossenschen Gesetzen“. Das erste dieser „Gesetze“ lautet in der umständ­lichen Formulierung des Originals von 1853 (Gossen 1889, 4 f.): „Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt.“ Oder in heutiger Sprache kurz: Je mehr ich von irgend etwas besitze, desto weniger entgeht mir, wenn eine Einheit weg kommt. Der Grenznutzen des „letzten“ Stücks geht gegen Null. Es ist aber, laut Neoklassik, dieser Grenznutzen, welcher den „Wert“ bestimmt.

Auf das Geld bzw. das Einkommen angewandt, kann jeder die Schlussfolgerung selbst ziehen. Das ist der erste Pfeiler, auf dem in Staaten der Gegenwart die progressive Einkommenssteuer bzw. das progressive Steuernsystem ruht (vgl. z. B.: Diehl / Mombert 1921).

Die zweite Säule besteht in der Überlegung: Wem nützt die Sicherheit eines Gemeinwesens am meisten? Richtig: Jenen, die viel besitzen und viel bekommen.

Diese zwei Überlegungen der sogenannten Wohlfahrtsökonomie, einer durchaus konservati­ven Denkströmung vom Beginn des 20. Jahrhunderts, nicht etwa revolutionäre Politik, haben zu progressiven Steuern geführt. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, weil damit klar wird: Das Steuersystem, das wir kennen, ist die Frucht des Transformismus, jener Denkhaltung, die heißt: Ein wenig verändern, damit Alles bleibt, wie es ist.

Der Staat der Gegenwart erhält aber nicht einfach sich und seine Bürokratie. Wenn wir von Sicherheit sprechen, sehen wir nur die klassische Aufgabe des Nachtwächterstaats. Der heutige Staat hat begriffen, dass er in den Markt eingreifen muss, um das System zu erhalten. Als Vorsorge-Staat muss er das Überleben der Mehrzahl seiner Angehörigen sichern, der Unterschichten sowie der Unteren Mittelschichten. Und innerhalb der Mittelschichten verteilt er um, z. B. von Menschen ohne Kinder zu solchen mit Kindern, um denen die Möglichkeit einer passenden Ausbildung zu verschaffen; usf.

An dieser Stelle setzt nun die Debatte um die „Steuerreform“ ein, falls man das taktische Hick-Hack innerhalb der SPÖVP als Debatte bezeichnen will. Die Steuerfragen wären aller­dings einiger Maßen kompliziert, wenn man sie gründlich angehen wollte. Auch hier möchte ich daher nur einige Grundprobleme nennen. Umfassender sprechen wir ein ander Mal drüber.

Steuern zahlen wir bekanntlich in der Mehrzahl. Es geht um das Steuersystem, nicht um eine einzelne Steuer. Man muss nach der Wirkung des Gesamt-Systems fragen. Soviel kommt auch im gegenwärtigen Streit noch durch. Aber hier beginnen auch die Ablenkungs-Manöver.

Man spricht, vor allem in der SPÖ, zu Recht von einer Vermögens– und einer Erbschafts­steuer. Aber diese Steuern haben auch damals, als sie noch existierten, nur einen ziemlich kleinen Beitrag zu den Staatseinnahmen geliefert. Aber man spricht nicht von der Mehrwert– bzw. Umsatzsteuer. Die wirkt nach allgemeinem Konsens regressiv, belastet also niedrige Einkommen stärker als höhere, weil niedrige Einkommen verbraucht werden und damit zur Gänze der Steuer unterliegen, während höhere nur teilweise und wirklich hohe zum geringe­ren Teil verbraucht werden. Man könnte diesem Effekt zumindest teilweise begegnen, indem man die Verbrauchssteuern stärker differenziert. Aber die SPÖ hütet sich, über die Frage der Mehrwertsteuer zu sprechen. Denn zur Zeit ihrer Alleinregierung ist der Anteil dieser regres­siven Steuer an allen Staatseinnahmen ständig gestiegen. Hat die Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit noch in den Schulungsunterlagen für ihre Funktionäre auf den unsozialen Charakter dieser Steuer verwiesen, so hat Kreisky gerade diese Steuer ständig erhöht. Und die Idee der Differenzierung hat die Kreisky-Regierung auch kaputt gemacht: Sie hat die MWSt als erhöhte „Luxussteuer“  auf Billig-Kameras u. ä. Gegenstände erhoben, um deren Einfuhr zu bremsen. Im übrigen sei heute die EU vor: Sie gestattet eine stärkere Differenzierung dieser Steuer nicht. Ich habe allerdings noch nichts gehört oder gelesen, dass die MWSt-Befreiung von Flug-Tickets oder Flug-Kerosin in Frage gestellt worden wäre, was umweltpolitisch überfällig wäre.

Wie sehr man die Steuer-Debatte als Ablenkungs-Manöver aufgezogen hat, zeigt nicht zuletzt die Behandlung der Lohn– bzw. Einkommenssteuer. „Man muss den Faktor Arbeit entlasten.“ Klingt gut für viele. In Wirklichkeit ist es reiner Zynismus. Als ob es in unserer Gesellschaft darauf ankäme, ob das Gehalt der Herren und Damen Roiss (OMV) und Ederer als Gehalt be­zeichnet würde oder als Gewinn-Anteil.  Gehälter dieser Größenordnung sind selbstverständ­lich immer Teile des Profits. Es kommt auf die Höhe des Einkommens an, nicht auf seine formelle Kategorisierung. Und da müsste man über den Steuer-Tarif sprechen, nicht nur über einzelne Steuersätze. Richtig: Ein Eingangs-Steuersatz von 38 % ist bei einem Spitzensteuer­satz von 50 % ein Skandal. Aber diese Einzelfrage macht überhaupt nur Sinn im Zusammen­hang des Steuersystems. Eine Steuerreform ist nicht einfach eine Senkung der Steuern.

Thomas Pikettys (2013) Erfolgsbuch über die Einkommensverteilung der letzten 100 Jahre hat die Zeitungen in Europa nicht wegen seiner faktischen Aussagen und seiner gewiss nicht fehlerlosen Analysen in Rage gebracht (Reiterer 2014). Das erste, was die NZZ daran fand, war sein Vorschlag: Setzen wir die Grenzsteuersätze massiv hinauf! Dabei spricht Piketty von 75 %, nicht von 98 %, wie es die Grenzsteuersätze zeitweise in der Nachkriegszeit in den USA waren.

Und über andere dringliche  Fragen spricht man gar nicht. Der angeblich „linke“ Ferdinand Lacina hat die Körperschaftssteuer halbiert, d. h. die eigentliche Gewinnsteuer, die „Einkom­menssteuer der Kapitalgesellschaften“. Nun könnte man bei Lacina zu Recht fragen, ob er rechts stand, der rechteste Finanzminister der Zweiten Republik, oder nur unfähig war. Für unfähige Finanzminister hat die Bundesregierung überhaupt eine eigenartige Tradition entwickelt. Über Grasser wollen wir gar nicht reden. Der war weder rechts noch links, weder fähig noch unfähig, der war zuerst und im Wesentlichen … nun sagen wir: auf sich selbst bedacht. Aber seine Nachfolger Pröll, Fekter und Schindelegger entwickeln schon einen eigenartigen Glanz der Inkompetenz. Und zur gegenwärtigen SP-Vertreterin Stessl im Finanzministerium fallen mir nach ihren bisher wenigen Auftritten nur politisch unkorrekte Blondinen-Witze ein. Man fragt sich verstört, warum gerade solche Personen in die Finanzpolitik abgeordnet werden.

Dagegen wird ein Pseudo-Problem in den Vordergrund gestellt: die Staatsquote. Vielmehr: Es ist nicht sosehr ein Pseudo- als ein Symbol-Problem. Konservative hängen sich seit eh und je an diesen Indikator. Dass höhere Staatsquoten Indikatoren ökonomischer Hoch-Entwicklung sind, ist ihnen teils entgangen, teils wollen sie es einfach nicht sehen.

Doch hier müssen wir als Linke vorsichtig sein. Denn hinter diesem Angriff auf die Staats­leistung verbirgt sich eine echte Malaise in der Bevölkerung. Deshalb kommt er ja auch immer wieder. Nicht nur der wirtschaftliche Entwicklungsstand wird damit abgebildet. Die Staatsquote indiziert auch die zunehmende Macht der Bürokratie. Für Linke kann es somit keineswegs darum gehen, den Staatsanteil als solchen zu verteidigen. Wir müssen zumindest unter uns auch die Debatte über Staat und Bürokratie neu führen.

Literatur

Diehl, Karl / Mombert, Paul (1982 [1921]), Hg., Grundsätze der Besteuerung. Ausgewählte Lese­stücke zum Studium der Politischen Ökonomie. Frankfurt/M.: Ullstein.

Gossen, Herrmann Heinrich (1889), Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln. Berlin: Prager.

Piketty, Thomas (2013), Le capital au xxie siècle. Paris: Seuil. (970 pp.)

Reiterer, Albert F. (2014), Der Piketty-Hype – „the great U-turn“. Pikettys Kapital und die neoliberale Vermögenskonzentration. Bergkamen: pad.

2014 – 06 – 11

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