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Der Finanzkapitalismus und die Neandertaler

3. Juli 2014
Von A.F.Reiterer

Hegemonie als zentrales Herrschaftsmittel


Was geht einen politisch interessierten Beobachter des Finanzkapitalismus und seiner Manöver der Neandertaler an? Gar nichts, sagt man vorschnell, wenn man nicht zufällig ein Archäologe oder allgemein neugierig ist. Doch Hegemonie und Dominanz beruhen auf einem umfassenden Weltbild. Es sind zwei Säulen, welche dieses Bild heute bestimmen. Die eine ist die Wirtschaftsauffassung, die Ökonomie auf der Grundlage der neoklassischen Ideologie. Die andere aber ist der Biologismus und Naturalismus, der inzwischen zur säkularen Religion wurde. Seine wichtigste Funktion ist, Ungleichheit zu rechtfertigen.

Vor 1 1/2 Jahrhunderten schrieb Friedrich Engels eine Reihe von Arbeiten, die man heute als „naturphilosophisch“ qualifiziert: den „Anti-Dühring“, die „Dialektik der Natur“ und auch den „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ (Alles in: MEW 20). Diese Schriften haben einen schlechten Ruf. Der Stalinismus hat sie dogmatisiert und dazu benutzt, die intellektuelle Freiheit zu unterdrücken. Aber das sollte uns nicht hindern, festzuhalten: Sie hatten eine wesentliche Funktion in der sozialistischen und Arbeiterbewegung beim Kampf um die Hegemonie: gegen die Klerikalen wie auch gegen das reaktionäre Bürgertum.

Das Bürgertum hatte die Bedeutung einer von der Religion unabhängigen Weltsicht sehr wohl begriffen. Ernst Haeckel versuchte mit seinen „Welträtseln“, die national-konservativen Strö­mungen und den deutschen Kolonialismus philosophisch zu grundieren. Sogar eine „monisti­sche Religion“ wollte er begründen, um seiner Sicht mehr Pathos zu verleihen. Wilhelm Ostwald, Chemie-Nobelpreisträger von 1909 und von den Konservativen stets gepiesackt, griff die Wendung in seinen „Monistischen Sonntagspredigten“ auf. Er versuchte, ihnen eine liberale Note zu geben. Als aber die habsburgische Regierung, gedrängt von den deutschen Militärs, den Ersten Weltkrieg vom Zaun brach, reihte auch er sich ganz gegen seine bisherige Logik ein.

Engels Schriften hatten also damals einen wesentlichen politischen Sinn.

Der Neandertaler wurde bis in die Gegenwart zu einem Symbol in der intellektuellen Ausein­andersetzung um die Herkunft und um die Stellung des Menschen. Bis vor Kurzem hatte jene eindeutig die Überhand, welche diese Menschen als eine eigene biologische Art (species) beschrieben. Heute dreht sich der Wind, und die Mehrzahl der Archäologen hält ihn für eine Kategorie, die biologisch Menschen wie wir sind.

Und dazu erschien eben ein neues Buch: Wynn / Coolidge 2013, How to Think Like a Neandertal. Man freut sich als Interessierter. Denn hier ist offenbar nicht nur von Fossilien die Rede ist, sondern vom Verhalten. Man greift zum Buch. In den ersten drei Kapiteln gibt es zwar störende Wendungen, aber man drängt sie weg und liest interessiert weiter. Aber die folgenden zwei Drittel des Buchs entpuppen sich dann als reine Ideologie. Es ist im Grund das Bild, das schon vor mehr als 100 Jahren gezeichnet wurde. Aber jetzt wird es politisch korrekt verpackt. Der ständige Vergleich ist nicht mehr, wie damals, „der Australier“ oder „der Andamanen-Neger“ – sondern der Schimpanse. Aber der „australische Jäger“ kommt durchaus auch öfters bei Wynn / Coolidge vor, und zwar oft in unbequemer Nachbarschaft mit dem Schimpansen.

Der Vergleich mit dem 19. Jahrhundert ist wirklich aufschlussreich. Damals hieß es: „Der Neandertaler-Schädel stellt den niedrigsten Typ des menschlichen Schädels mit gewissen affenartigen Charakteristiken dar. … Im Vergleich mit den gedrückten Schädeln einiger Australier aus dem königlichen Medizin-Museum sind die Ähnlichkeiten auf dem ersten Blick schlagend…“ (Huxley 1864). Usw.

Um dieses neue Buch richtig einzuschätzen, muss man das Schluss-Kapitel zuerst lesen. Dort stellen die Autoren, ein US-Archäologe und ein Psychologe, den Neandertaler in einem Gedanken-Experiment in die heutige Welt. Und was kommt heraus? Neandertaler werden schlicht Unterschicht-Angehörige. Sie sind ein bisschen beschränkt, aber gut einzusetzen für körperlich anstrengende und repetitive Arbeiten, auch für solche, welche manuelle Geschick­lichkeit verlangen. Aber für anspruchsvolle Tätigkeiten ist ihre intellektuelle und soziale Kompetenz nicht geeignet. Als Landarzt gingen sie mit ihrer Empathie vielleicht an, aber sie würden die akademische Ausbildung kaum schaffen. Und da ist nichts zu machen, das ist angeboren. Denn „dieses Buch handelt von den genetischen Grundlagen für ihr kognitives Potenzial“; das liest man jetzt ausdrücklich auf S. 176.

Es ist also ein durch und durch biologistisches Buch. Seine Grundlage ist: „Die“ Neandertaler mussten ja ganz anders sein, weil der letzte gemeinsame Vorfahre mit uns schon vor einer halben Million Jahren lebte. Und da haben die Gene sie eben auf ein ganz unterschiedliches Verhalten fixiert. Die Autoren scheuen sich nicht, über diese Menschen, die mindestens 200.000 Jahre lang auf einem riesigen Gebiet verstreut lebten, in absurder Weise immer als von einem einheitlichen Block zu sprechen. Und die „Null-Hypothese“, welche sie anfangs anrufen, und welche der eigentliche Ausgangspunkt sein müsste, nämlich: diese Menschen seien wie wir gewesen, und Unterschiede in Biologie und Verhalten müsste man nachweisen, wird zum gerade Gegenteil (vgl. auch d’Errico u. a. 2003). Die Neandertaler, das waren die „ganz Anderen“, mit denen dürfen wir nichts zu tun haben.

Dem entsprechend besteht auch der Großteil des Buchs aus Spekulationen. Sie werden kaum archäologisch begründet. Von der ganz anderen, reduzierten Sprache ist da die Rede; der reduzierte Sprachcode der Unterschichten aus der Sprachsoziologie vor einigen Jahrzehnten komm einem unweigerlich in den Sinn. Von ihren Träumen ist die Rede – ja, die sind seit Millionen von Jahren angeboren; von ihrem Charakter, in der Einzahl. Der ist natürlich ein bisschen roh, aber stoisch. Usw. Wohlgemerkt: Die Autoren sind wohlbestallte Professoren an der Universität von Colorado, also nicht Kronenzeitungs-Journalisten.

Es erübrigt sich nahezu, zu fragen, ob sie zu wesentlichen Themen etwas beitragen: wie die Sozialstruktur ausgesehen haben könnte; ob es ein Verwandtschaftssystem gegeben habe und wie es vielleicht aussah. Die überragend wichtige Frage nach der fast fehlenden Innovation wird nicht nur mit 2-3 ständig wiederholten Sätzen erledigt. Die Autoren locken uns prompt auf eine falsche Spur. Denn alles was sie dazu sagen, gilt Wort für Wort auch für die gleich­zeitigen „anatomisch modernen Menschen“ der Mittelsteinzeit in Afrika. Sie sind an ihren Werkzeugen schließlich nicht von den Neandertalern unterscheidbar.

Es ließe sich über dieses Buch noch viel sagen. Keineswegs Alles ist negativ. Immerhin versuchen die Autoren, einige Fragen zur Entwicklung der frühmenschlichen Gesellschaft zu stellen, die den meisten ihrer Kollegen nicht in den Sinn kommen. Aber das ist hier nicht das Thema.

Offen rassistisch zu sein ist heute auch in den USA absolut und striktest verpönt, jedenfalls außerhalb von Ku-Klux-Klan und Tea-Party. Wie kann man also eine biologistische und klassistische Grundauffassung unter das an den „Origins“ höchst interessierte und aufnahme­bereite Publikum bringen? Es gilt, zumindest an der Oberfläche die eisernen Regeln der politischen Korrektheit einzuhalten. Man deklariert also anfangs seinen guten Willen. Und dann vermeidet man gewisse Vokabel und ersetzt sie durch andere, erlaubte. Man fragt also nicht mehr nach der „Rasse“, sondern formuliert z. B., in diesem Fall grotesk-ungeschickt, „the ethnicity of this skull…“, u. ä. Aber es fällt auf: Im anglo-amerikanischen Sprachbe­reich ist Biologismus und Rassismus auch in der Wissenschaft sehr viel offenherziger als in Europa.

Klassisismus, nicht mehr Rassismus, ist die Grundhaltung der hegemonialen Intellektuellen heute. Damit aber der Klassismus gerechtfertigt werden kann, muss man ihn in eine Merito­kratie umdeuten: Jede/r bekommt das, was er oder sie leistet. Und wenn ein Mensch nicht in die Leistungsgesellschaft passt, wer er – nach deren Maßstäben – zu wenig leistet, nun, da hat er eben Pech. Aber da lässt sich nichts machen. Das ist die Natur als Schicksal. Und das war immer so. Das ist der Sinn dieses seltsamen Streits um den Neandertaler als species, welcher sich nunmehr seit Jahrzehnten hinzieht. Man kann die Regeln der politischen Korrektheit einhalten und trotzdem die Sicherheit haben: Wir haben nur das, was wir verdienen, und werden dies auch nie verlieren. Und die anderen, die dies nicht haben: Nun, die sind eben weniger Mensch als wir, aber das sagen wir heute ein bisschen anders.

Literatur

D’Errico, Francesco, u. a. (2003), Archaeological Evidence for the Emergence of Language, Symbolism, and Music – An Alternative Multidisciplinary Perspective. In: J. of World Prehistory 17, 1 – 70.

Fuhlrott, Carl (1859), Menschliche Überreste aus einer Felsgrotte des Düsselthals. Ein Beitrag zur Frage über die Existenz des fossilen Menschen. In: Verhandlungen des naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlandes und Westphalens. XVI, 133 – 153.

Fuhlrott, Carl (1865), Der fossile Mensch aus dem Neanderthal. Sein Verhältnis zum Alter des Menschengeschlechts. Duisburg: Falk und Volmer.

Haeckel, Ernst (1921 [1899]), Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Stuttgart: Kröner.

Huxley, Thomas Henry (1862), On Some Fossil Remains of Man. In: Proceedings of the Royal Society in London, 420 – 422.

Huxley, Thomas Henry (1864), Further Remarks upon the Human Remains from the Neanderthal. In: Natural History Review, Scientific Memoirs II.

Ostwald, Wilhelm (1911), Monistische Sonntagspredigten. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft.

Reinhardt, Ludwig (1908), Der Mensch zur Eiszeit in Europa. Kulturentwicklung bis zum Ende der Steinzeit. München.

Schaafhausen, Hermann (1859), Zur Kenntnis der ältesten Rassenschädel. In: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde24, 64 – 88.

Trinkaus, Erik / Shipman, Pat (1993), Die Neandertaler. Spiegel der Menschheit. München: Bertelsmann. Aus dem Amerikanischen übertragen von J. Beise, A. Galler, S. Göttler und C. Stoll.

Wynn, Thomas / Coolidge, Frederick L. (2012), How to Think Like a Neandertal. Oxford: University Press.

 

2014-07-03

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