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Die Politische Ökonomie entdeckt den Wert: William Petty – Großkorruptionist und lucider Theoretiker

21. Juli 2014
Von A.F.Reiterer

Tendenzen der Politischen Ökonomie 9: Theorien über den Mehrwert 4


„The most grinding poverty is a trifling evil compared with the inequality of classes.“
William Morris, 31

„Die ratio formalis des Reichtums liegt eher in der Verhältnismäßigkeit
als in der Quantität“ (Petty, 34).

Um 1662 war Ire in Irland sein ein hartes Los. Die Engländer hatten unter Cromwell eben das Land wieder „befriedet“. Nun gingen sie daran, die Beute zu verteilen und, wenn möglich, die Bevölkerung „umzuvolken“: Wenn möglich sollte in Hinkunft die Mehrzahl aus Engländern bestehen. Es gelang auch teilweise, im Norden zumindest. Einer der Hauptakteure in diesem Prozess war William Petty.

William Petty (1623 – 1687) stammte aus dem britischen Handwerker-Milieu. Er hatte aber Gelegen­heit, sich die Bildung seiner Zeit umfassend anzueignen. Darauf baute er eine bunte und sehr erfolgreiche Karriere. Politisch war er, sagen wir es so: vorurteilslos. Kurzfristig Sekretär von Thomas Hobbes und damit per se Parteigänger des alten Regimes, schloss er sich danach den Cromwellianern an. Die schickten ihn nach Irland, um das Land zu vermessen. Dabei, in heutiger Sprache gesagt, ergaunerte er sich einen riesigen Landbesitz. Damit wurde dieses Land eine Zeitlang zum Zentrum seiner Interessen, praktisch wie theoretisch. Nach der Restauration gelang es ihm, auch die Gunst der neuen Herren zu gewinnen.

Irland war militärisch besetzt, und das Land musste seine Besatzung selbst bezahlen. Da sich die neuen Grundherren den Boden angeeignet hatten, waren sie es, welche einen (kleinen) Teil ihrer Renten, ihres Mehrwerts an den Staat abzuliefern hatten. So stellte sich die Frage: Wie sollte nun jeweils im Einzelnen die Steuer bemessen sein? Und Petty antwortete: Nach dem Wert. Aber was war dieser Wert?

Wert als ein Basisbegriff des ökonomischen Systems entsteht mit der Verselbständigung dieses Systems selbst; wir können auch sagen: mit der Konstituierung der Ökonomie als eigenes, gegenüber den anderen Handlungssystemen (der Politik, dem Lokalsystem, etc.) erkenntlich nach seiner Handlungslogik unterscheidbares System. Nun muss diese Autonomi­sierung nicht von der Ökonomie ausgehen. Es können andere Systeme sein, welche die Differenzierung fördern, weil sie sich selbst verselbständigen.

Dies geschah mit dem Aufbau des (früh-) modernen Staats der Neuzeit, u. a. in England.

Petty beginnt seine Schrift über die Steuern mit einem Aufriss der Staatsauf- und -ausgaben. An erster Stelle nennt er noch die traditionelle Kategorie der militärischen Gewalt. Aber selbst das ist im 17. Jahrhundert nicht mehr so ganz traditional. Denn mittlerweile – in England vor allem mit den Rosenkriegen – ist jene alte Aristokratie verschwunden, welche ihre Identität als Elitenkrieger gesehen hatte. Militär ist eben zum Militär geworden, zu einem Körper mit spezialisiertem Ziel, nun eindeutig im Dienst des Fürsten, zusammen gestellt weitgehend aus Unterschichtsleuten.

Unmittelbar nach dem Militär erwähnt Petty Repräsentationsausgaben des Regenten und der Beamten, für „prächtige Lebensführung“ zwecks „Verkörperung der Macht“. Haben im frühen Mittelalter noch Stammesfürsten die christliche Konfession nach deren Prachtentfaltung aus­gesucht (Nestorchronik), so soll dieser Glanz nun säkularisiert wirken. Die „Souveränität“, die Verselbständigung und Fetischisierung der politischen Macht, muss auf- und ausgebaut werden. Nur so kann sie der sich stärker vernetzenden bürgerlichen Gesellschaft gegenüber treten und sie beherrschen. Aber Petty bleibt nüchtern. Unter diese Kosten zählt er auch die Ausgaben auf, mit denen die Fürsten ihre Gefolgschaft kaufen und deren Interessen pflegen. Mit dem Schein und dem Blendwerl allein ist es nicht getan. Die Eigen-Interessen sind gleich wichtig.

Sodann kommen Aufgaben, die schon mehr in die Moderne weisen. Der Staat nimmt nun die Hegemonieapparate selbst in die Hand, und das kostet. Denn er braucht die „Seelsorge“ für die „Leitung des Gewissens“, um seine Gesetze den „Gesetzen Gottes“ gleichzustellen. Und Schulen und Universitäten soll er auch selbst in die Hände nehmen.

Schließlich kommen ganz zum Schluss materielle Infrastrukturaufgaben („Landstraßen, Brücken, Wasserleitungen“). Auch für minimale Armenpflege, Sozialhilfe also, soll er sorgen, denn Betteln verursacht mehr Kosten als eine minimale Versorgung.

Aber wie soll dies Alles finanziert werden? Klar: durch Steuern. Doch es gibt Steuerwider­stand, die Menschen fühlen sich vielfach ungerecht besteuert. Wie also soll die Steuer eingehoben werden? Und hier kommt er nun auf dem Umweg über die „Rente“ zum Wert. Auf die Rente, in Anführungszeichen, werden wir gleich noch zurück kommen. Sehen wir uns vorher an, wie er zum Wert findet.

„Ein Mann bebaut mit eigener Hand“ seinen Boden (Taxes, IV.13). Petty geht in diesem Satz also noch nicht von kapitalistischer Lohnarbeit aus. Vielmehr definiert er das Nettoprodukt über den Abzug aller Kosten, auch des eigenen Lebensunterhalts des selbständig Arbeitenden. Das wird man bis spät ins 19. Jahrhundert so machen. Und selbst P. Sraffa kokettiert noch ein wenig mit dieser Art von Begriff. Das Nettoprodukt ist also der Überschuss über die Vorpro­dukte und den eigenen (kalkulatorischen) „Lohn“. Man könnte auch sagen: der Mehrwert. Petty nennt das „die natürliche oder wahre Grundrente“. Und dann fährt er fort (IV.14): „Eine Nebenfrage ist die: Wie viel englisches Geld ist dies Korn … wert?“ IV.15: „Man lasse 100 Mann 10 Jahre lang arbeiten, um Korn zu ernten, und dieselbe Zahl Leute die gleiche Zeit, um Silber zu gewinnen, und ich sage, dass der Reinertrag des Silbers der Preis des gesamten Reinertrags des Korn sein wird, und gleiche Teile des einen den Preis gleicher Teile des anderen bilden werden.“ Eine ähnliche, kürzere Formulierung findet sich in V.10.

Voilà, eine klare Aussage! Pettys Argumentation ist gegenüber Adam Smiths Umschreibung mittels einer pseudo-ethnologischen Konstruktion (2 Bieber gegen 1 Hirsch) mehr als ein Jahrhundert später wesentlich realistischer. Smith hat ein ehrenwertes anthropologisches Anliegen: Er will die Gegenseitigkeit, die Reziprozität der Leistungen, als eine menschheit­liche Konstante darlegen. Aber seine Konstruktion geht daneben. Petty kümmert sich weniger darum. Leider ist auch sein Stil weniger klar. Immer wieder gleitet er in Nebensächlichkeit ab. Dafür bezeichnet er, wie hier, das Grundproblem als „Nebenfrage“.

Die allgemeine Wertform, um mit Marx zu sprechen, geht hier unmittelbar, ohne einen Zwischenschritt, in die Geldform über. Das ist historisch richtig. Damit wird die allgemeine Wertform aber zu einer späteren Abstraktion. Der Begriff konnte erst entstehen, als sich die Vernetzung in der Gesellschaft verstärkte und intensivierte. Die „logische Reihenfolge“ ist nur logisch, wenn sich die neue Produktionsweise bereits voll entfaltet hat. Das klingt viel­leicht ein bisschen scholastisch, ist aber von ungemeiner Wichtigkeit für die Auffassung von Geld heute. Denn wenn wir keine Geldware mehr brauchen (Gold, Silber), dann deswegen, weil Geld in seinen diversen Funktionen derart in den Köpfen, im Bewusstsein verankert und durch Institutionen abgesichert ist, dass eine Buchungszeile genügt. Die dialekktische Wendeltreppe hat in ein neues Stockwerk geführt.

Diese Stelle gibt noch mehr her. IV.18 heißt es: „Alle Dinge sollten durch zwei natürliche Nenner bewertet werden ˗ Boden und Arbeit. … [Alle Waren] sind Geschöpfe des Bodens und menschlicher Arbeit.“ Hier wird, etwas sprunghaft, der Doppelcharakter nicht nur der Ware, sondern des menschlichen Lebens und der Gesellschaft selbst angedeutet, als „Natur“ und als „Kultur“. Arbeit ist allerdings eine ganz spezifische Form der Kultur. Sie konstituiert die Ökonomie als Handlungs- und auch als Denksystem, als Analyse-Schema. Arbeit ist also der Zentralbegriff einer Ökonomie als Sozialwissenschaft. Die heute dominante Auffassung von Ökonomie als rational choice-Frage ˗ Oskar Lange (1968) sagte: Praxeologie ˗ tut dann keinen Schaden und ist ein Fortschritt, wenn man sich ihres Charakters als soziales Hand­lungssystem bewusst bleibt. Dass dies bei kaum einem Ökonomen der Fall ist, muss ergänzt werden.

An derselben Stelle schlägt Pettys Bemühen aber auch schon in Ideologie um, und zwar ver­mutlich mala fide. Er spricht vom „natürlichen Gleichheitsverhältnis zwischen Boden und Arbeit“. Anstelle einer Klassenanalyse wird damit die Begründung und Rechtfertigung einer Klassengesellschaft vorbereitet. Denn wie kann man begründet „Boden“, die begrenzten und nicht produzierten natürlichen Ressourcen, mit dem menschlichen Handeln auf eine Ebene stellen? „Boden“ kann man nur mit einem Preis versehen, wenn man ihn monopolisiert, in Besitz nimmt, andere davon ausschließt, auch mit Gewalt. Hier wird also die Ideologie des Grundbesitzers basiert, der auf seinen Tausenden von Hektaren in Irland die Bauern ausbeutet.

Dann geht er zum Zins über und fragt nach seiner Höhe. Er leitet den Zins von der Grundrente ab und meint: Er muss „mindestens soviel betragen wie die Rente von soviel Land, das das geliehene Geld kaufen könnte“ (V.3). Und darauf kommt noch ein Risikozuschlag. Aber dabei beginnt er sich im Kreis zu drehen. Denn er fragt nach dem Preis des Bodens, und den bestimmt er wiederum durch den (Renten-) Ertrag. Ziemlich willkürlich dekretiert er: Der Boden ist etwa soviel wert, wie der Ertrag in 21 Jahren ausmacht. Wie er dazu kommt, ent­zieht sich dem Verständnis des Lesers, den vorher raisonniert er, dass man auf drei Generati­onen Rücksicht nehmen müsse ˗ und das sind doch wohl keine 21 Jahre. Aber lassen wir dies. Wichtiger ist: Wenn er die 21 Jahre, den 21fachen Ertrag als Preis einer Ewigen Rente be­trachtet, macht dies einen Zinssatz von 4,76 % p.a. aus. Das ist ziemlich hoch nach späteren Vorstellungen. Aberr wir werden gleich sehen, er setzt den Zins noch höher an.

Der ebenso wichtige Punkt ist aber: Mit der Bestimmung des Zinses durch die Rente (und nicht umgekehrt) belegt er seine Übergangsstellung. Eine traditionale Agrargesellschaft erzeugt hauptsächlich Nahrungsmittel u.ä. Das Mehrprodukt oder der Mehrwert, falls in Geld ausgedrückt, fällt weitgehend mit der Rente zusammen. Aber indem Petty ihr Verhältnis zum Bodenpreis zum Standard macht, fasst er sie bereits als verallgemeinerte Mehrwertform auf. In Kürze wird man dies mit dem Zins machen, dem „Geldertrag“.

Dazu kommen noch einige interessante und potenziell wichtige Details. Er spricht von einer Differenzialrente der Lage, die er mit Überlegungen entsprechend der Thünen’schen Kreise herleitet: Böden näher am Verbraucher sind mehr wert, weil ihr Produkt nicht transportiert werden muss. Viel wichtiger aber ist: In einem kurzen Verweis auf die Arbeitslöhne als Be­stimmungsfaktor des Reichtums deutet er etwas an, was man, je nach gutem Willen, entweder wieder als logischen Zirkel oder aber als Ahnung von der Notwendigkeit eines simultanen Gleichungssystem auffassen kann. Ein solches liegt natürlich weit jenseits seiner Kapazität. Aber halten wir für die Theorie der Gegenwart fest: Werte und Arbeitslöhne müssen gleichzeitig bestimmt werden.

Und noch ein Detail, das überragend wichtig wäre: Petty kommt einer Erkenntnis nahe, die Konsumstruktur als kulturelle Gegebenheit zu sehen und nicht einfach als technische Ange­legenheit. Sahlins (1994) hat darauf verwiesen, wie überragend wichtig eine solche Auffas­sung gerade für eine Politische Ökonomie wäre.

Petty hat keineswegs nur über Wert geschrieben. In einem gewissen Sinn könnte er als früher Vertreter der VGR bezeichnet werden, jenes Kernstücks heutiger empirischer Ökonomie, welche die Beschäftigung damit überhaupt erst sinnvoll macht. Allerdings ist es ein bisschen schwierig, seine Daten zu beurteilen. Er schreibt einmal beiläufig, das sei so nach den Berichten, in die er Einsicht genommen habe. Aber das ist es auch.

Verbum Sapienti von 1791 ist eine kurze Schrift mit höchst interessanten Angaben. England und Wales haben eine Bevölkerung von 6 Millionen Einwohner. Schottland kommt nicht vor, und Irland in diesem Text auch nicht. Diese Bevölkerung, so heißt es weiter, konsumiere pro Jahr für 40 Millionen ₤. Er geht also vom Privaten Konsum aus. Dazu zählt er einen Öffentli­chen Konsum von 4 Mill., eine sehr unplausibl-niedrige Größe. Um zum BIP zu gelangen, fehlen uns nun noch die Abschreibungen. Auf die Idee, die zu erwähnen, kommt er überhaupt nicht. Rechnen wir für sie bescheidene, aber in dieser Zeit realistische 10 % des BIP, so erhalten wir für dieses rund 50 Millionen. Das wäre dann ein BIP p.c. von 8,33 ₤. Mit Angaben aus Officer 2012 rechnen wir diesen Wert mit dem Verbraucherpreis-Index auf 1.016 ₤ von 2010 um, mit dem Jahres-Durchschnittskurs 1.200 € bzw. 1.600 US-$. Das entspräche einem Wohlstands­niveau der schlechter entwickelten subsaharischen Länder heute (Kenia: 1.800;-). In Maddisons letzter Version stehen für das heutige UK im Jahr 1700 1.250 Geary-Khamis KKP-$ von 1700. Das käme etwa auf dasselbe heraus.

Zur Daten-Herkunft: Petty ist höchst interessiert an statistischen Zahlen, auch wenn er oft recht willkürlich mit ihnen umspringt. So will er denn auch ihre Erhebung fördern. Dabei kommt er auf eine Idee. Er ist zwar im Wesentlichen für eine proportionale Steuer auf Einkommen oder Vermögen, oder wie immer. und gegen die vielen sonstigen Steuern. Der impot unique, die Einheitssteuer in der Debatte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich schon schattenhaft ab. Aber hier schlägt er plötzlich eine ganze Reihe von diversen Steuern vor, wenn auch mit herabgesetzten Satz: Kopfsteuer, Kaminsteuer „Akzise“ (Konsumsteuer), Bodensteuer, Steuer auf bewegliches Vermögen… Wie das? „Um eine Statistik führen zu können.“ Vor kurzem hat Piketty einen ähnlichen Vorschlag für eine universelle Vermögenssteuer gemacht, wo die überwiegende Mehrzahl der Steuerpflichtigen Nullfälle wären. Er meint, nur damit kämen wir an bessere Daten über das Vermögen heran. Ob er Petty kennt, weiß ich nicht.

Neben dem materiellen Niveau hat man jedoch einige wesentliche theoretische Elemente dieser Schätzung zu beobachten. Petty ist nicht zuletzt an der Bodenrente, also der Verteilung interessiert. Er gibt den Gesamtertrag der Rente mit 8 Mill. aus, also 20 % des Gesamtein­kommens. Doch es gibt auch noch sonstiges Vermögen, nicht nur den Grund. Für dieses Kapital, man kann ohne weiteres so sagen, gibt er einen Ertrag von 7 Mill. an. Zusammen macht also der Profit 15 Mill. aus. Die Profitrate, oder der Zinssatz, macht nach Petty 6 % aus. Denn er rechnet vorher auch das Volksvermögen aus und gibt dafür 250 Mill. an. Be­zeichnet man das Verhältnis von Volksvermögen zu BIP als Kapitalkoeffizient, dann würde der 5 betragen – gar nicht so niedrig. Denn wir befinden uns noch im vorindustriellen Zeit­alter. Das ist wichtig. Wir dürfen die materielle Masse der neuen Produktionsmittel, die Maschinerie etc., nicht automatisch mit einem gestiegenen Wert gleichsetzen. Das ist die Grundlage für Marx‘ weit reichendem Irrtum – so würde ich es nennen – vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Lassen wir das einmal beiseite und folgen wir Petty auf seinen Rechnungen. Wenn der Profit, in welcher Form immer, 15 Mill. von 40 ausmacht, dann beläuft sich der Rest, die Subsistenz der Bevölkerung auf 25 Mill. Wir haben gerade gesehen: Die Profitrate macht 6 % aus. Nun betrachtet Petty die Arbeitskraft und die Bevölkerung in recht nüchterner Weise als Kapital. Das muss sich auch mit 6 % verzinsen. Der Barwert dessen, der Barwert der Bevölkerung, ist also 416 2/3 Mill., pro Kopf 69 ₤ bzw. pro Arbeitskraft (die Erwerbsquote ist 50 %) 138 ₤. Machen wir uns den Spaß und rechnen das auf Werte von 2010 um (Faktor 122): Der Mensch war damals also 8.418 ₤ wert, mit dem Jahresdurchschnittskurs von 0,85 sind das 9.900 €, und für die Arbeitskraft das Doppelte.

Vergleichen wir mit heute: Der Konsum der privaten Haushalte beträgt etwa 130 Mrd. €, pro Kopf der österreichischen Bevölkerung also 15.480 €. Für den Barwert nehmen wir wieder einen Zinssatz (eine Profitrate wie zu Pettys Zeiten) von 6 %. Der Österreicher wäre also heute 258.000 € wert, das 26fache des Engländers vor 3 Jahrhunderten.

Das ist nun keineswegs nur eine arithmetische Marotte. Der Mensch in hoch entwickelten Ländern wird ja auch mit ganz erheblichen Kosten produziert. Allerdings ist das ein Durch­schnittswert. Der Arbeiter und die kleine Angestellte ist sehr viel weniger wert, der leitende Angestellte und die Direktorin sehr viel mehr. Hat das höchst zweifelhafte Konzept des Humankapitals irgendeinen realen Sinn und ist nicht nur eine Phrase oder ein Ideologem zur Vernebelung der wirklichen Verhältnisse, so muss dies die Betrachtung sein.

Einwenden könnte man allenfalls, dass ein Zinssatz von 6 % viel zu hoch gegriffen sei, dass der langfristige Realzinssatz eher bei 3 % liegt. Doch Petty nimmt den Zins, wie schon mehr­fach betont, i. S. der Profitrate insgesamt. Und die ist in den letzten Jahrzehnten eher wieder gestiegen. Mit 6 % überschätzt man sie bestimmt nicht.

Die Arbeitskraft als Kapital aufzufassen, ist analytisch zukunftsweisend. Petty zieht daraus übrigens sofort auch eine praktische Schlussfolgerung – leider wurde sie nicht verwirklicht, jedenfalls zu seiner Zeit. „100.000 Personen, die über die gewöhnliche Zahl an der Pest sterben [Anfang der 1660er wütete vor allem in London, aber in Großbritannien insgesamt – AFR], bedeuten für das Königreich einen Verlust von fast 7 Millionen. Und wie gut wären infolgedessen 70.000 ₤ zur Abwendung dieses hundertfachen Verlustes angelegt.“

Das Format dieser Serie mit ihrem beschränkten Umfang erlaubt es nicht, sehr detailreich auf weitere Inhalte einzugehen. Einer muss aber schon noch erwähnt werden.

Petty war besonders an Irland interessiert, wie schon gesagt. So schrieb er auch (1691) eine „Politische Anatomie Irlands“. Zum Stichwort Anatomie ist zu sagen: Petty war seinerzeit Anatomie-Professor gewesen; ansonsten weist diese Metaphorik auf einen sehr viel berühm­teren Arzt und Ökonomen vor, auf Quesnay. In dieser Arbeit bringt er einen verwirrenden Wust von Daten und Zahlen, die oft genug falsch addiert sind und auch sonst ihre Mucken haben. Doch gleichzeitig zeigt er eine frühe und besonders brutale Form des Kolonialismus. Irland ist besetztes Gebiet. Ab 1641 schlitterte es aus einer Mischung von Widerstand gegen die englischen Ausbeuter und Hetze seitens der früheren katholischen Nutznießer des Lands in einen Aufstand hinein, schlecht vorbereitet und verhängnisvoll. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung, rechnet Petty vor, ging zugrunde. Manchen der englischen Besatzer kam dies durchaus zupass. Sie hätten am liebsten die Iren überhaupt ausgerottet Auch Petty meint, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Hinkunft nicht mehr irisch sein werde.

Der Wert dieser Schrift liegt teils in den statistischen Informationen, so man ihnen denn trauen kann; teils aber auch in dem nüchternen Raisonieren über die Entwicklung, deren objektiver Zynismus oft kaum fassbar ist. Aber seien wir nicht zu früh stolz auf unsere heutige Menschlichkeit! Der algerische Aufstand gegen die französische Herrschaft und Ausbeutung kostete einer von acht Millionen Algeriern das Leben. Was sich heute in Palästina abspielt, geht in eine ähnliche Richtung.

Petty hat in seiner Kombination als an seinen Gegenständen materiell höchst interessierter Ausbeuter und gleichzeitig irgendwie distanzierter Beobachter eine Leistung geliefert, die einerseits an Ricardo erinnert, andererseits diesen in der Realitätsnähe deutlich übertrifft. Denn Ricardo war vor allem an seinen Abstraktionen interessiert. Die Unentwickeltheit der Verhältnisse seinerzeit und vielleicht auch die Ungeduld hat ihn Petty oft be0000000, etwa im Bereich des Gelds, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen, oder auch seine Ansätze zu Ende zu denken. Petty ist damit ein Muster-Beispiel für die Zeitgebundenheit sozialen Denkens bei allen Blicken über die Gegenwart hinaus. Das heißt: Die Analyse müssen wir stets auf das Neue durchführen; wir können uns nicht auf eine Theorie aus der Vergangenheit verlassen, und sei sie noch so genial.

Literatur

Lange, Oskar (1968), Politische Ökonomie. I: Allgemeine Probleme. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.

Morris, William (1980), Selected Writings and Designs. Harmondsworth: Penguin.

Officer, Lawrence H. (2012), What Were the U.K. Earnings Rate and Consumer Price Index Then? A Data Study. http://measuringworth.com/datasets/ukearncpi/earnstudy.pdf (Download: 30. Juni 2014).

Petty, William (1986), Schriften zur Nationalökonomie und Statistik (Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben, 1662). Hg. von W. Görlich. Berlin: Akademie Verlag. Englisch: Hull, Charles Henry (1899), ed., The Economic Writings of Sir William Petty. 2 Vol. Cambridge: Univ. Press.

Sahlins, Marshall (1994), Kultur und praktische Vernunft: Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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