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Das Geld und der Primat der Politik

EU – Euro – EZB: Der Euro als Agenda der Oligarchie und die Antwort


28. August 2014
Von A.F.Reiterer

Assisi, 21. August 2014 Die Währungsunion war seit je ein Ziel der E(W)G / EU, dieses Staatsprojekts des europäi­schen Finanzkapitals und der Oligarchie. Anfangs und bis in die 1980er hinein war es aber mehr ein abstrakter Wunsch von Ideologen, Bürokraten und einigen Politikern: eines Helmut Schmidt und eines V. Giscard d'Estaing. Wenig Wunder: Es ist ein Versuch, und zwar ein bisher gelungener Versuch des Supra-Imperialismus, und der verlangt über-(national-) staatliche Organisation. Solange sich also die E(W)G noch im Stadium der internationalen Vertraglichkeit befanden, war also die Währungsunion nicht wirklich möglich.


 

Imperialismus – Supra-Imperialismus – Ultra-Imperialismus?

Ich verwende hier wie anderswo den Begriff Supra-Imperialismus. Dabei geht es mir darum das Vokabel „Ultra-Imperialismus“ zu vermeiden. Es wurde von Karl Kautsky (1914) in die Debatte ein­geführt, und von Lenin (1916) auf das heftigste kritisiert. Kautsky sah einige Entwicklungen und suchte, sie auf seine oft fast peinlich plumpe Weise zu erklären. In der marxistischen Tradition wird nicht selten das Vokabel Vulgärökonomie verwendet, um eine oberflächliche Theorie-Bildung etwa i. S. der Neoklassik zu kennzeichnen. Nun, Kautsky ist ein Musterbeispiel von Vulgärmarxismus in seltener Klarheit.

Es ging vor allem um die Tendenzen möglicher kapitalistischer Zusammenarbeit seitens des Monopol­kapitals im globalen Maßstab. Doch für Kautsky war kennzeichnend, wie oft und prominent die Wen­dung auftaucht: „Rein ökonomisch betrachtet…“ Er hat ganz im Sinne der Zweiten Internationale, der dann von Stalin in die Dritte Internationale hinüber gezogen wurde, den Zusammenhang von Politik und Ökonomie und ihre gegenseitige fundamentale Bedingtheit in keiner Weise begriffen. Lenin hatte es leicht, in seiner kompromisslosen und auch groben Art diese Idee, die 1914 so eklatant widerlegt wurde, ins Lächerliche zu ziehen.

Eine ähnliche Geschichte ist auch der Versuch, den Imperialismus aus der Beziehung von Industrie und Landwirtschaft zu erklären. Hier argumentiert Kautsky schlicht und einfach physiokratisch. Den Doppelcharakter der Ware bzw. der menschlichen Produktion insgesamt in ihrer Abhängigkeit von der Stofflichkeit der Natur und von der gesellschaftlichen Organisation macht er zu einer Priorität der Landwirtschaft vor der Industrie. Usf. – Lenin allerdings übersah in seiner Polemik die Tendenzen, die tatsächlich vorhanden waren, die allerdings noch einige Jahrzehnte mit Ansätzen zu ihrer Verwirkli­chung auf sich warten ließen. Verantwortlich dafür war sein fast mystisches Staatsverständnis. Es hinderte ihn zu erkennen, dass politische Steuerung und Staats-Elemente zum Einen durchaus von einer eigenen Kategorie von Personen, der Bürokratie, bedient werden, und diese eigene Interessen entwickeln lassen. Zum Anderen können diese Steuerungs-Instrumente auf mehrere Ebenen verteilt werden. Und das ist für unser Thema entscheidend.

Denn gerade die EU mit ihren verschiedenen Ebenen zeigt, wie sehr Staat auch autonom oder semi-autonom gegenüber einzelnen Kapitalien, Kapitalgruppen und sonstigen Sonderinteres­sen sein kann und sein muss; wie oft er wieder völlig abhängig agiert, gerade im Verhältnis zum Finanzkapital und einzelnen seiner Akteure. Auch die Möglichkeiten und Grenzen und die Entwicklung der Politik sind klar erkenntlich. Die nationalen politischen Klassen sind abhängig von Wahlen. Sie müssen also stets auf die Stimmung der Wählerschaft achten. Der notwendige Schluss der Wirtschafts- und Finanz-Oligarchie ist: Die Entscheidungen müssen von der nationalen Ebene wegverlagert werden, dorthin, wo Wahlen keinerlei Bedeutung haben.

In Brüssel dagegen ist es anders. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Tendenz heraus gebildet, die Kommission mit Personen zu besetzen, die national, in Wahlen, gescheitert sind. Das ist kein Zufall und entspringt nicht nur Versorgungs-Bemühungen für abgehalfterte Politiker/innen. Denn diese Leute, die Baroso, Junckers, Öttinger, Hedegard, Georgieva, Potočnik, usw., sind national ja gefallen, weil sie Politik gegen diue eigene Bevölkerung gemacht haben. Im Sinne der Oligarchie haben sie sich also bewährt.

Die Einheitliche Europäische Akte, Maastricht und der Versuch der Verfassung von Rom

Es waren Mitterand und Delors, welche diese Politik in der EEA konkretisierten. Und 1989, diese weltpolitische Wende und anscheinend das Ende der Geschichte nach bürgerlichem Geschmack, half. Die Einheitswährung sollte die Krönung und die Unumkehrbarkeit dieses Siegs besiegeln. So schrieb man sie denn auch in die damalige westeuropäische Verfassung, den Maastrichter Vertrag, nicht als Möglichkeit, sondern als politische Pflicht für alle Mitglieder. Nichteintreten, wie Dänemark, ist ein Privileg, muss als Ausnahme genehmigt werden.

In der BRD spitzte man die Debatte zu. Die hauptamtlichen Ideologen, die Ökonomen und einige Spitzenpolitiker fanden ihre passende Sprache. Man sprach auf der einen Seite, der eher zögerlichen, von der „Krönungs-Theorie“. Die Einheitswährung sollte kommen. Das war auch hier keine Frage. Aber sie sollte den Prozess der Konvergenz abschließen, nach einer politischen Union, einem eindeutig konstituierten Europäischen Staat. Sollte sie vorher kommen, fürchtete man Schocks und Traumata. Helmut Kohl neigte eher zu dieser Partei.

Die andere Seite war stürmischer. Man sprach von der „Basis-“ oder „Lokomotiv-Theorie“. Der Euro sollte die gewünschte Struktur herstellen oder zumindest befördern. Nur dieser Strukturzwang könne bringen, was man im politischen Handeln wegen des Widerstands in der Bevölkerung sonst nicht erreichen könne.

Diese Fraktion setzte sich in der BRD durch, nicht ohne Mithilfe und Druck von Außen, vor allem seitens Frankreichs. Das Ergebnis sehen wir seit 2008.

Es war im Grund eine Auseinandersetzung um den Primat der Politik, in der vernebelnden Sprache des Boulevard-Journalismus. Die erfolgreiche Fraktion, die Sprecher der Finanz-Oligarchie und der europäischen Eliten, wollten einen unmittelbaren Weg. Aber auch dieser Weg war ein dialektischer Umweg über die politische Struktur, auf dem sie ihre Interessen „ohne Politik“ d.h. nur mit Marktmacht durchbringen konnte.

Es waren zwei Grundgedanken, und die müssen wir klar formulieren. Die Oligarchie raisonnierte:

(1) Wir müssen einen Strukturzwang herstellen. Nur ein solcher wird die konservativen Ziele durchsetzen und in die richtige Richtung bringen. Ständige neuerliche Entscheidungen in der nationalen Alltags-Politik werden bald auf Widerstand stoßen. Diese Ziele bzw. die Richtung wird sein:

            *) eine europäische Gesamtstruktur mit einem Zentrum im hoch entwickelten Nord­westen und mehreren Schichten von Peripherien: im Süden; im Osten; und schließlich auch im Nahen Ausland, auf dem Balkan, in der Türkei, der Ukraine und im Kaukasus;

            *) im Inneren des Kerns, der hoch entwickelten Länder, eine stärkere Verteilung von Einkommen und Vermögen nach Oben. Das ist das zentrale Ziel: verstärkte Umverteilung nach Oben.

(2) Dieser Strukturzwang mit seiner neuen akzentuierten Ungleichheit muss Bedingungen schaffen, welche ein Abweichen von der gewünschten Politik oder gar eine bewusste Gegen­politik für die Bevölkerung kurzfristig ungeheuer kostspielig machen. Die neue Struktur soll tatsächlich unumkehrbar werden. Unumkehrbar ist überhaupt das Schlüsselwort seit Jahr­zehnten. Auch Helmut Kohl sieht bei der Einführung des €-Bargelds Anfang 2002  da den springenden Punkt (Spiegel 1/2002, 24): „Eine phantastische Sache … Die europäische Eini­gung ist irreversibel geworden.“ Doch dazu musste die Einheitswährung als langfristige Struktur für alle erkennbar sein. Politische Eingriffe würde es natürlich weiterhin geben. Aber sie sollten nur mehr zur Absicherung dieser neuen Struktur dienen. Die würde ansonsten als Sachzwang in die gewünschte Richtung wirken.

Es ist ein konservativer Primat der Politik, der seinen Weg über die Struktur nimmt. Dabei gibt es auch eine leichte parteipolitische Differenzierung in der sonst so monolithischen Haltung innerhalb der politischen Elite zur EU. Vor allem die Sozialdemokraten (und die Liberalen) vertreten im Verein mit dem Groß- und Finanzkapital diese Politik der Erzeugung eines Sachzwangs, und zwar gleichermaßen Politiker wie Ideologen (Bofinger). Ein Teil der deutschen Christdemokraten zögert hingegen. Ihre ordoliberale Ideologie, noch mehr ihre kleinbürgerliche Klientel macht sie skeptischer.

Echte Strukturzwänge, „Innere Abwertungen“, also Senkung des Lebensniveaus der Bevöl­kerung, und Pseudo-Struktur-Zwänge bzw. -Illusionen im Dienst der Oligarchie, vor allem das „too big to fail“ als neues Motto des organisierten Kapitalismus, sind  dabei kaum mehr auseinander zu halten.

Wenn das „too big to fail“ ernst gemeint wäre, wäre es ein Grundsatz des Marxismus. Denn der geht davon aus, dass das notwendige Organisationsniveau des Kapitalismus für eine privatwirtschaftliche Aufstellung schon viel zu hoch ist. Es muss also sinnvoller Weise kollektiv-politisch aufgebaut werden. Konsequenter Weise muss es vergesellschaftet und in irgendeiner Weise auch geplant werden.

Vorausgesetzt war allerdings, dass die Bevölkerung eine „baltische Haltung“ einnehmen würde – die Mehrheit nimmt nicht nur Alles hin, sondern klatscht sogar noch für die Ohr­feigen, welche sie bekommt. Und hier stellt sich inzwischen das erste ernsthafte Problem. Es gibt massiven Widerstand in der ersten Schicht der Peripherie, im Süden. Der hat bisher am meisten zu leiden. Dieser Widerstand nimmt überdies unterschiedliche und kaum zu kon­trollierende Formen an. Podemos fügt sich noch in die gewohnte Form zentraler Politik ein. Der katalanische Separatismus, die plebeische Rebellion in Italien, die linkssozialdemokra­tische Bewegung in Griechenland stellen sich auf jeweils eigene Weise gegen die Oligarchien. Dies wird von den nationalen und vielleicht auch den internationalen Eliten als vitale Bedrohung gesehen. Denn hier kann die Kontrolle zu leicht versagen.

Geld und Abwertung

Die einheitliche Währung ist für die Politik der Oligarchie das ideale Mittel. Geld spielt in der politisch-ökonomischen Debatte eine zentrale Rolle als Regelmechanismus. Regionale und nationale Währungen haben die Möglichkeit, unvermeidliche Unterschiede in der Produktivi­täts-Entwicklung auszugleichen. Eine Abwertung hat jedoch eine ganz andere Verteilungs­wirkung als eine „Innere Abwertung“. Abwertungen bedeuten Änderungen, Verschlechterun­gen der terms ofd trades für das abwertende Land. Man könnte einfacher sagen, Sie bringen einen Kaufkraft-Verlust und verteilen ihn auf die ganze Bevölkerung, auch auf die Wohlha­benderen. Die „Innere Abwertung“ trifft nur die Lohnabhängigen und senkt nur deren Lebens-Niveau. Genau darin liegt der Witz der Währungsunion für die Unternehmen. Sie müssen diese „Innere Abwertung“ allerdings auch einmal durchsetzen. Das ist eine politische Frage für die nationalen Eliten. Doch dabei kommt ihnen die EZB und die EU (und auch der IMF – die famose Troika) mit schwerem Geschütz zu Hilfe. Auch hier gilt der Primat der Politik.

Aber Geld ist über die ökonomische Sphäre hinaus zu einem nationalen Symbol geworden, jedenfalls für die Mittelschichten: Es bildet nicht nur die Strukturzwänge der Wirtschaft ab, ob sie real existieren oder nicht. Es wird zum Ausdruck des Gelingens oder Misslingens der nationalen Politik. Gerade in Italien war dieser Symbol-Aspekt ausgeprägt. Die Lira stand für das „Scheitern“ der italienischen Politik. Daraus vor allem bezog die Politik ihre Unterstüt­zung, als sie wider Vernunft den Euro einführte.

Bei näherem Hinsehen war dieses italienische „Scheitern“, gemessen an den Wachstumsraten, erfolgreicher als fast alle westeuropäischen Wirtschaften sonst. Wir müssen zugeben, dass dies nicht für die politische Kultur gilt.

Krise und „Krise“

Aber die €-Krise hat zwei Seiten. Sie ist die europäische Form der globalen Finanzkrise. Sie entstand aus der akzentuierten Umverteilung nach Oben im „Great U-turn“ und dem politischen Versuch, dies zu vernebeln und zu überspielen (US-Immobilienkrise). Sie griff erst als Bankenkrise nach Europa, vor allem in die BRD und das UK über. Doch als die Banken erst einmal misstrauisch geworden waren, entwickelte sie sich blitzartig zur Krise der €-Peripherie, zur Staatsschuldenkrise und zur Existenz-Krise der Währungsunion. Unter diesem Aspekt begann die €-Krise als Bedrohung des Finanzkapitals und ihres Staats. Entsprechend ängstlich hat man sie vor allem in der politischen Elite erst auch gesehen.

Doch die Krise hat durchaus eine zweite Seite. Diese Seite trat schnell in den Vordergrund. Nicht nur die Elite sah sich bedroht. Die Bevölkerungen waren schwer verunsichert. Die klügeren – und brutaleren – Akteure in den Eliten, vor allem in der Bürokratie sahen ihre Chance. Sie griffen mit beiden Händen zu. Ihr Gesicht ist Super-Mario Draghi, und seine Helfer heißen Junckers, Schäuble, Monti, Bersani, Napolitano und Renzi, der neue Mini-Duce aus der Christdemokratie und nun dem Partito Democratico. Die vielen Sterne zweiter und dritter Größe wollen wir uns ersparen.

Sie machten die Krise schnell zu einem Vehikel härtester konservativer Politik. In diesem Sinn kam sie ihnen sehr gelegen. Sie war zwar ein Hasard, aber derzeit scheint das Spiel aufzugehen. Der nationale Parlamentarismus wurde weitgehend abgebaut; die Waichen auf eine allgemeine Dualisierung der europäischen Gesellschaften sind gestellt. Mit den Eingriffs-Möglichkeiten kann die EU-Spitzen-Bürokratie ihre Vorstellungen durchsetzen, falls ihre Marionetten in den Mitglieds-Staaten es allein nicht schaffen. Die Krise wurde machtvoll eingesetzt, ja, in manchen Bereichen größer geredet, als sie dort wirkte.

Eine Krise erfordert Ausnahme-Mittel. Das ist geradezu eine Definition von Krise. Diese Politik des ökonomischen Ausnahme-Zustands wurde seit 2008 konsequent durchgezogen. Schon Carl Schmidt wusste, dass sich der Souverän darin beweist, dass er über den Ausnahmezustand entscheidet. Hier erweist sich jenseits jeden Zweifels, wer der Souverän in der EU ist: die europäische Zentralbürokratie im Auftrag des Finanzkapitals.

Alternativen?

Die Reste der europäischen Linken und teils auch die langsam neu entstehende diffuse Opposition aus vielen Quellen nehmen zu diesem Sachverhalt eine Haltung ein, die man grob in zwei Strategien gliedern kann; und es gibt diffus erkennbar eine neue Haltung, wo wir eben dabei sind, sie mitzuformulieren.

(1) Die eine Strategie ist der Weg, den die deutsche Partei Die Linke einschlägt. Es ist der Weg Gysis, der Weg nach Godesberg. Von der eigenen Haltung vieler Militanter in der früheren DDR noch schockiert, ohne das geringste Selbstbewusstsein und erniedrigt von der politischen Konkurrenz versucht man sich als Sozialdemokratie. Das einzige Ziel ist die Respektabilität und die Regierungsbeteiligung. Ob man die eigene Gefolgschaft, die eigenen Wähler verprellt, wie in Berlin und Brandenburg, scheint gleichgültig.

(2) Eine andere wesentlich kleinere Fraktion hält an den alten Werten, aber auch an den alten, gescheiterten Strategien  fest. Sie ist nicht imstande, sich von den alten grob geschnitzten Grundlagen zu lösen. Und diese bestehen in den Ideen der Dritten Internationale. Die bisheri­ge bürgerlich-kapitalistische Entwicklung, so die Gedanken-Basis, ist das Höchste, was Tech­nik und Ökonomie erreicht haben. Wir müssen sie in die Hände nehmen und nach unseren Zielen einsetzen. Die EU und die WU ist gegenüber der bisherigen nationalen Entwicklung ein Fortschritt. Wir müssen sie erhalten und benützen. Das ist etwa die Haltung der DKP und auch der alten Breschniewisten in anderen Ländern. Geradezu ein Prototyp ist die KKE.

Berufen wir uns für einmal auf Marx! Das ist zwar kein Argument, kann aber nachdenken helfen. Dieser hatte sich 1881 in einem Brief an Vera Sassulitsch Gedanken gemacht, wie sehr in Russland aus der Tradition der Dorfgemeinschaft (Mir) und ihres Gemeineigentums die Möglichkeit bestünde, den kapitalistischen Entwicklungsweg abzukürzen oder zu überspringen (MEW 19, 242 – 243, 384 – 406). Im abgesandten kurzen Brief meint er dazu: „Das Spezialstudium, das ich darüber getrieben und wofür ich mir Material aus Originalquellen beschafft habe, hat mich davon überzeugt, dass diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiederkehr Russlands ist“ (243). Wie ernst Marx diese Frage genommen hat, zeigt sich darin, dass er gleich vier teils umfangreiche Entwürfe für diese Antwort skizziert hat, die damals allerdings noch länger nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Nicht wenige Formulierungen in diesen Entwürfen könnten den Vertre­tern vieler Varianten eines indigenen Sozialismus als Stütze ihrer Argumentation dienen. Die Argu­mentation könn­te ungewöhnlich erscheinen: Die russische Dorfgemeinde hat nicht zuletzt Überlebens­chancen, weil sie heute, gleichzeitig mit einer hochproduktiven und weit fortgeschrittenen westlichen Gesellschaft existiert. Sie braucht also nicht alle Schritte dieser Entwicklung nachmachen. Sie kann Technik, aber auch Organisationsformen importieren und sie im eigenen Sinn einsetzen: „Die Gleich­zeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit“ (MEW 19, 405). Hier schreibt Marx gegen jeden historischen Determinismus an und für eine rationale menschliche Freiheit der Wahl seiner Entwicklungsalternativen.

Friedrich Engels, mit seiner Unbekümmertheit und seiner Tendenz zu einem europäischen Suprema­tismus, hat diese Entwürfe vermutlich nicht gekannt. Er hätte sie jedenfalls wenig ernst genommen. Er hat eine ganz andere Haltung vertreten: Der Kapitalismus mit allen seinen auch politischen Folgen ist in Russland unvermeidbar, die Dorfgemeinschaft wird ihn jedenfalls nicht aufhalten (vgl. 1894: Nach­wort zu Soziales aus Russland – MEW 22, 421 – 435). „Die Initiative zu einer solchen etwaigen Umgestaltung der russischen Gemeinde [kann] nur ausgehn nicht von ihr selbst, sondern einzig von den industriellen Proletariern des Westens“ (a.a.O., 426f.). Engels war zweifellos realitätsnäher, aber gleichzeitig auch phantasieloser – und brutaler.

Und was hat dies mit dem Euro und der EU zu tun?

Die Idee, die EU sei ein technokratisch-organisatorischer Fortschritt, ist exakt vom selben Stamm. Der historische Ablauf wird zum Automatismus. Die Frage nach Alternativen stellt sich nicht mehr. Politik hört auf zu entscheiden und vollzieht nur die Entscheidungen des Weltgeists nach.

Machen wir uns nichts vor. Die konsequente Linke steht vor einem Dilemma. Die Struktur-Umwandlung der europäischen Gesellschaft und ihrer Politik ist in wenigen Jahren tatsächlich unumkehrbar geworden – jedenfalls mit den üblichen politischen Mitteln. Die einzige Mög­lichkeit scheint nur mehr eine revolutionäre Veränderung. Aber die ist derzeit praktisch unmöglich und von den Risiken her höchst zweischneidig: Wir wissen ja, was aus der Lenin’schen Revolution geworden ist. Folgten Lenin und Mao auf ihre Weise noch irgendwie Marx, So haben sich Stalin und Chruschtschow und Breschnjew für Engels entschieden. Deng Xiao-ping hat diese Option folgerichtig weitergeführt. In seiner und seiner Nachfolger Politik kam zu Engels als weiterer Stammvater noch Pinochet hinzu, und für Vietnam gilt das Gleiche.

Was tun?

Die europäische Linke hat mittelfristig einige Alternativen, bevor sie resigniert. Die allge­meine Empörung bietet ein Feld, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch dazu müssen wir mehrere Wege einschlagen, durchaus im arbeitsteiligen Sinn der Beteiligten. Die praktische Politik des Alltags und der kürzeren und mittleren Frist wird Prioritäten beinhalten, die sich an sehr allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung zu orientieren hat: Die lokale, regionale, nationale Ebene sind wichtig, und dazu ist natürlich die internationale hinzuzufügen.

Teils parallel dazu hat eine neue theoretische Bemühung zu erfolgen. Die beiden Stränge werden manchmal nebeneinander laufen und müssen sich immer wieder kreuzen. Als Mensch, der sich persönlich hauptsächlich mit Analyse beschäftigt, sehe ich für die Praktiker und die Theoretiker eine gemeinsame essenzielle Voraussetzung: Denn der Kampf um die Hegemonie ist auch eine politische Praxis, und in meiner Sicht sogar erstrangige.

Der Inhalt dieser Praxis der Theorie scheint mir auch klar und wird zwei wesentliche Punkte umfassen müssen:

Notwendig ist eine neuen Klassen- und eine neuen Staatsanalyse.

Das alte STAMOKAP-Konzept und seine Defizienzen soll uns nicht abhalten, die wesentli­chen Ansätze von dort aufzugreifen. Es war paradoxer Weise eine theorielose Theorie. Wenn man sich die alten Bücher ansieht, dann ist das eine Sammlung von empirischen Beispielen, die einige ziemlich triviale Aussagen belegen sollen. Doch einen wesentlichen Impuls sollten wir aufnehmen, der dort allerdings völlig missgestaltet war und letztlich unterging.

Der Primat der Politik ist ein analytischer Grundsatz, der nicht stark genug betont werden kann, weil er sogleich auch zu einem politischen Handlungs-Prinzip wird.

Um dies entsprechend auszuarbeiten bedarf es einer neuen Politische Ökonomie. Sie wird als Synthese von Ökonomie und Politik auftreten müssen.

Literatur

Autori vari (1973), Trattato marxista di economia politica. Il capitalismo monopolistico di Stato. Roma: Riuniti.

Beck, Ulrich (2011), Kooperieren oder Scheitern: Die Existenzkrise der Europäischen Union. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 56, Heft 2, S. 41-54.

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.

Marx, Karl (1972 [1881]), Brief an V. I. Sassulitsch. – Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch. In: MEW 19, 242 – 243; 384 – 406.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2010/2011), Ein neuer institutioneller Rahmen für den Euroraum. Auszüge aus dem Jahresgutachten 2010 / 2011. (www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/…/z142_z175j10.pdf – download 30. Juni 2014).

Lieberam, Ekkehard (2001), PDS auf dem Weg nach Godesberg? Bergkamen: pad.

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