Es ist ein unglaublicher Text, der mir da zufällig in die Hände fiel. Oder doch nicht so zufällig. In Assisi, vom 20. – 24. August 2014 fand ein Treffen statt: „Jenseits des Euro“. Und da gab es auch einen Stand mit Literatur vor allem von Warren Mosler. Später hörte ich, dass der Mann an einem vorherigen Treff teilgenommen und einen Vortrag gehalten habe. Da er mir als häretischer Ökonom vor allem in Geldangelegenheiten beschrieben wurde, und sowas höchst notwendig wäre, wuchs mein Interesse. Ich kaufte mir eine Broschüre: The Seven Deadly Innocent Frauds of Economic Policy, 2010 (mein Exemplar heißt Italienisch: Le sette innocenti frodi capitali della politica economica, 2012).
Der Trick des Buchs ist einfach: Der Autor geht von einem Fünkchen Realität aus, und daraus fabriziert er seine Thesen, die man alles in allem nur als absurd kennzeichnen kann. Der Witz dabei ist: Er kennt nur Realwirtschaft, Geld gibt es im Grund nicht. Das sind nur Zahlen, welche die Regierung nach Belieben auf irgendwelche Konten hinschreibt, bucht und abbucht. Dem geläufigen Wahnsinn der üblichen Wirtschafts-Ideologie, die eigentlich nur mehr Geld und keine Realwirtschaft mehr kennt, setzt er den alternativen Wahnsinn entgegen: Geld existiert nicht. Das ist eine Warenwirtschaft ohne Geld und Waren, ein Kapitalismus ohne Kapital.
Und das ist kein Zufall: Der Mann hat einen erheblichen Teil seines Lebens in Banken verbracht und war dort angestellter Spekulant („portfolio manager“). Damit hat er die Luftgeschäfte des postmodernen Spekulations-Kapitalismus aus der Nähe kennen gelernt – aber übersehen, dass Geld trotz allem der Regelmechanismus der Wirtschaft bleibt.
Doch der Reihe nach.
Geld ist „nichts Konkretes und Materielles“. Wenn ich der Regierung Steuern zahle – Steuerzahlen ist der Kern des ganzen Textes –, so wird einfach auf meinem Konto die Zahl von 5.000 auf 3.000 gesenkt, „die 5 wird zu einer 3“, und auf dem Regierungskonto steigt der Saldo um 2.000. Aber „kein Goldstück ist in irgend einen Behälter des Fed gefallen“ (38).
Dass es (Verfügungs-, Bezugs-) Rechte gibt, die verbindlich und quantitativ durch Geld symbolisiert werden, ob dieses ein Stück Gold, ein bedrucktes Papier (eine Banknote), oder eine Kontozeile ist, die von einer Bank verwaltet wird, scheint ihm völlig unwichtig. Gesellschaft ist ein Netzwerk von Rechten und Verpflichtungen, von Erwartungen und Orientierungen. Geld ist eines der wichtigsten Medien in diesem Verbund.
Der Staat gibt Geld aus, damit man ihm Steuern bezahlen kann, liest man, und so entsteht Geld. Der Staat kann also auch nicht Bankrott gehen, denn er kann immer soviel Geld ausgeben, wie er will. Nebenbei: Dass es unterschiedliche Geldqualitäten („Geldmengen“) gibt, scheint ihm noch nicht untergekommen zu sein.
In ganz ähnlicher Weise geht er an die Fragen der Saldenmechanik in der VGR, insbesondere im Sektor Staat heran. Er begreift nicht, dass es sich hier um Definitionen handelt, die oft einen Sinn haben, manchmal aber auch in die Irre führen. Defizite etwa behandelt er nach dem Muster der berühmtesten keynesianischen Gleichung des I = S (aus Y = C+I und Y=C+S). Die Unternehmer würden auf diese Art von „Investitionen“ nur zu gerne verzichten, ebenso wie viele in der Bevölkerung auf das (Zwangs-) „Sparen“ durch Inflation wegen zu hoher Defizite.
Der Staat ist überhaupt der Dreh- und Angelpunkt. Wie immer, finden wir hier einen Funken Wahrheit. Der Staat als Geldschöpfer könnte einfach drauf los „Geld drucken“, wie es so häufig heißt. Und damit wird die Geschichte gefährlich. Denn der Staat kann und darf offenbar Alles. Er ändert ein paar Zahlen in den Konten – und voilà, alles ist geritzt! Das läuft neben dem ökonomischen Aspekt auf reinen Autoritarismus hinaus.
Und dieser Zauberer Staat ist der Demiurg schlechthin. Der Staat reguliert nicht das Geld, er schöpft es aus dem Nichts. Und wozu? Damit wir Steuer zahlen können (wortwörtlich auf S. 46 und 51). Und Steuern werden nicht bezahlt, weil der Staat einen Teil des Produkts für kollektive Zwecke benötigt. Sie dienen nur der Regulierung der Gesamt-Nachfrage: „Wenn die Regierung zu hoch besteuert im Vergleich mit ihren Ausgaben, … gibt es Rezession“ (S. 54), und andersherum Inflation.
In diesem Nonsens gehen viele nützliche Hinweise fast unter, nicht zuletzt, weil sie verquer begründet werden: Wir müssen zuerst durch eine seriöse politische Debatte unsere kollektiven Ziele bestimmen, und dann müssen wir sehen, wie das Budget aussehen muss! Ganz einverstanden. Oder: Die Debatte um die Belastung der zukünftigen Generationen wird als Fetisch geführt, weil sie nur den Finanzaspekt betonen. Oder: Der Blick auf Ex- und Importe muss einmal die realen Ströme ins Auge fassen und den Wohlstands-Effekt von Importen. Hier wird er allerdings „amerikanisch“ und versucht das Leistungsbilanz-Defizit wegzudebattieren. Und so gäbe es noch eine Reihe von nützlichen Denkanstößen – wenn nicht alles in einer Art von Voodoo-Ökonomik verpackt wäre.
Und es gibt einen höchst kennzeichnenden Punkt, der völlig fehlt: die Verteilung.
Dass alle seine Anliegen unauflöslich mit der ungleichen Verteilung von Einkommen (und Vermögen) verknüpft sind, dass sich die Frage des Defizits, der Leistungsverschiebung zwischen den Generationen, dass die Sozialversicherung und deren Leistungsfähigkeit, dass die Frage der Investitionen alle an der Verteilung der in „Geld“ dokumentierten Ansprüchen und Rechten hängen, das kommt ihm offenbar nicht im Traum in den Sinn. Wir können keine Produkte aus der Zukunft in die Gegenwart holen und heute anstelle morgen verbrauchen? Ist schon richtig. Aber leider ist es möglich und gang und gäbe, heute Verträge einzugehen, die übermorgen von der nächsten Generation erfüllt werden müssen; heute etwas zu verbrauchen, was von den Begüterten sonst nicht verbraucht wird, aber wofür ich mangels ausreichenden Einkommens heute keinen Anspruch habe und daher Schulden machen muss; und die Leistung dafür auf morgen zu verschieben, wo dann eine andere Generation, wieder mit niedrigen Einkommen, auf Rechnung derer mit hohem Einkommen arbeiten muss.
Am Beispiel der Sozialversicherung (83ff.) wird die ganze Widersprüchlichkeit klar. Zuerst argumentiert er ausschließlich, als ob die Pensionen nur eine Frage des Kapitalmarkts wären. Die Idee, dass jedes Pensionssystem real ein Umlagensystem ist, allerdings mit ganz anderen Verteilungswirkungen, wenn es als „Kapitaldeckungs-Verfahren“ aufgezogen wird, scheint im komplett fremd. Doch auf den letzten Seiten des Abschnitts scheint er dies plötzlich zu begreifen. Da heißt es auf einmal: „Die wirkliche Frage ist, welches Konsum-Niveau wir den Älteren zukommen lassen wollen“ (91).
Es würde kaum der Mühe wert sein, sich mit diesem Text auseinanderzusetzen. Es ist wie eines der vielen Büchern, die über Atlantis oder über außerirdische Intelligenz geschrieben wurden. Aber der Mann ist auf einem Treffen der konsequenten Linken in Italien aufgetreten. Damit stellt sich ein ganz anderes und ziemlich wichtiges Problem: Wie grenzt man sich von solchen Tendenzen ab? Intellektuelle Hygiene unter uns selbst erfordert dies. Wir selbst werden von einer großen Mehrzahl von Menschen als Exoten betrachtet. Insbesondere die Ökonomen der neoklassischen Zunft, die ganz überwiegende Mehrzahl, werden uns etwa so betrachten, wie ich den Herrn Mosler. Wir müssen uns hüten, mit Sekten dieser Art eine Verbindung einzugehen.
Für mich persönlich ist es eine Warnung in einem speziellen Sinn. Ich tendiere oft genug dazu, die Geldgeschäfte als völlig bedeutungslos für die Bevölkerung zu betrachten und nur den realwirtschaftlichen Aspekt der wesentlichen Fragen zu betonen. Hier sieht man, was herauskommt, wenn man nur einen „Geldschleier“ (so haben früher einmal Ökonomen dies getauft) sieht und die reale Funktion des Geldes nicht beachtet.
4. September 2014