Die Entwicklung der Brutto-Löhne und Gehälter ist in Österreich nicht leicht vergleichbar zurückzuverfolgen. Das Median-Einkommen, das Einkommen, wo genau die Hälfte mehr bzw. weniger verdient, ist nach den von der Statistik Österreich veröffentlichten Steuerdaten nominell deutlich gestiegen. Im Jahr 1997 betrug es € 19.800,- , damals allerdings noch in Schilling, also rund 272.600,-, monatlich 19.500,- 14 mal ausbezahlt. 2012, die letzten vorhandenen Daten, machte es 25.370,- im Jahr aus. Das wäre immerhin ein Anstieg um 28 %. Aber da gab es die Geldentwertung. Und die machte sogar etwas mehr aus, gerade 30 % seit 1997.
Das Medianeinkommen der Unselbständigen stieg also in diesen eineinhalb Jahrzehnten überhaupt nicht, wenn man die Kaufkraft berücksichtigt, es sank sogar etwas. In derselben Zeit stieg das verfügbare Einkommen pro Erwerbstätigen – ein rein statistischer Mittelwert – um mehr als 48 %, das „reale“ BIP (technisch: berechnet mit „verkettetem Volumen-Index“ jeweils zu Preisen des Vorjahrs) um 34 %. Wo ging also der Rest hin, in Zeiten sinkender Investitionsquoten?
Quelle: Statistik Österreich, Lohnsteuerdaten-Daten, diverse Jahrespublikationen seit 1998
Machen wir einen weiteren Blick auf die Graphik und nennen dabei Zahlen: Während der Median, das mittlere Einkommen zu laufenden Preisen, um 28 % stieg, stieg das Einkommen des 3. Quartils, also das Einkommen, wo 3 Viertel weniger verdienten, um 37 %, das Einkommen des 1. Quartils um nur 7 %. Oder verständlicher ausgedrückt: Das Einkommen in jenem sozialen Bereich, der am ehesten die mittlere Mittelschicht im unselbständigen Bereich abbildet, schon ziemlich weit oben, nur ein Viertel verdient mehr, stieg durchaus stärker als die Inflation. Diese Menschen haben also bereits ein wenig an Einkommen gewonnen, nicht allzu viel, zugegebener Maßen. Dagegen haben jene Menschen, die etwa die Mitte der Unterschicht (das 1. Quartil nämlich) repräsentieren, deutlich an Einkommen verloren.
In Zeiten, wo plötzlich die Debatte hoch kocht, dass zuviel weggesteuert wird, das „zuwenig im Börsel verbleibt“((c) ÖGB), muss man sich die Entwicklung aber netto ansehen. Und da ist festzuhalten: Es ändert sich wenig, fast nichts an der Sachlage und der Entwicklung. Es bleibt nicht weniger „im Börsel“ seit 15 Jahren! Ganz unten und in der Mitte ist es sogar um ein Komma günstiger: das mittlere Einkommen ist um einen Punkt stärker gestiegen, und der Unterschichtlohn um knapp 3 Punkte. Nur die höheren Gehälter, die des obersten Viertel (über 3. Quartil), haben im Vergleich zur Brutto-Betrachtung geringfügig verloren. Aber sie haben, im Unterschied zu den niedrigeren Gehältern, immerhin nicht an Kaufkraft verloren, sie haben sogar etwas gewonnen.
Die derzeitige Debatte, angezündelt vom ÖGB und mit Freuden von der SPÖ übernommen, ist eine reine Mittelschicht-Angelegenheit, und zwar eine Angelegenheit der oberen Mittelschicht. Der vergleichsweise gut gestellte Bereich, der mehr als die unteren drei Viertel verdient, beklagt sich über die Entwicklung. Das ist in mehrerer Hinsicht von erheblicher politischer Bedeutung.
Der ÖGB lenkt von den wirklichen Verteilungsproblemen ab. Er führt derzeit ein Kampagne für die oberen Mittelschichten und nutzt dafür in ganz zynischer Weise den Ärger der Bevölkerung aus. Sie muss mit ihren Steuern immer wieder die Spekulanten der Banken retten“ und subventionieren. Was aber der Ausfall der öffentlichen Mittel durch diese „Reform“ gerade für die schlechter Gestellten bedeuten wird, im Gesundheits-, im Bildungs-, im Pflegewesen, davon haben wir schon mehrfach gesprochen.
Eine Steuerreform wäre dringlichst und müsste die komplette Schieflage in der Verteilung ein wenig korrigieren. Dazu wäre jedoch ein Umbau des Steuersystems in ganz anderem Maß erforderlich. Die ÖGB-„Steuerreform“ wird die Besser-Verdiener begünstigen. Um das zu verschleiern, ist ein kleines Zuckerl auch für die große Masse der Bevölkerung eingebaut. Das ist die Standard-Politik der politischen Klasse in Österreich, und nicht nur hier. Denken wir etwa an die Agrar-Politik: Über Jahrzehnte und auch heute noch ging ein Großteil der sehr beträchtlichen Mittel an die Großbauern und die Großgrundbesitzer, die Klöster und die Adeligen. Damit da die anderen nicht so genau hinscheuen, ja, dies aktiv unterstützen, wurde den Kleinen systematisch auch ein wenig hingestreut – und es funktionierte.
Die Steuerreform des ÖGB ist die Fortsetzung der Politik der Oligarchie. Aus einer linken Sicht ist sie striktest abzulehnen, auch wenn kurzfristig eine Kleinigkeit für die Unterschichten abfällt.
25. September 2014