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Konflikte in der EU: Konflikte zwischen zwei Fraktionen

30. November 2014
Von A.F.Reiterer

Die Transnationale Klasse (TCC), Renzis Heuchelei und der System-Zerfall


Zwischen Rom und Paris auf der einen und Berlin und Brüssel auf der anderen Seite hängt7 der Haus­segen schief. Italienische Genossen diagnostizieren daraus euphorisch gleich einen Zerfall der €-Zone oder gar der EU. Mich erinnert dies an manche Debatten Anfang der 1970er. Jeder Streik in einem kleinen Betrieb und ˗ auch damals schon ˗ jeder Zank zwischen zwei EG-Ministern wurde zur finalen Krise des Systems hochstilisiert.

Jenseits dieser polemischen Erinnerung und jenseits eines etwas müden Zynismus eines altgedienten Beobachters möchte ich festhalten: Es gibt gute theoretische Gründe für eine ganz andere Sicht.

Seit rund zwei Jahrzehnten gibt es, vor allem im englisch-sprachigen Raum, eine lebhafte Debatte um die Formierung einer neuen dominanten Transnationalen Kapitalistenklasse (TCC – Transnational Capitalist Class). Der Akzent liegt auf dominant ebenso wie auf transnatio­nal. Es gib – so die These – eine Gruppierung hochvernetzter Akteure, Besitzer und Spitzen­manager von Großvermögen, die nicht mehr national gebunden sind und die Weltwirtschaft in hohem Grad beherrschen (Sklair 2001). Diese These ist keineswegs  rein abstrakt. Eine ziem­lich neue Disziplin, die Netzwerktheorie, hat überzeu­gende Ergebnisse beigebracht (Vitali 2011, Glattfelder 2010). Unter mehr als 40.000 Transnationalen Konzernen hat sich demge­mäß eine Übereinheit (superunity) von 147 hoch vernetzten Konzernen gebildet, die sie a strongly connected core nennen, ein engst verbundenes Zentrum. 2 Drittel davon sind Banken. Sie üben in hohem Maß Kontrolle über die Mehrzahl der anderen Konzerne aus. Die Kontrollmacht ist wesentlich stärker konzentriert als das Eigentum, das über Aktien-Streubesitz unter Umständen formell ziemlich weit gestreut sein kann. Das wäre somit die Realität eines neuen Finanzkapitalismus.

Doch das ist nur eine Kapitalfraktion. Eine andere, die nach Umsatz und Beschäftigten noch immer sehr stark ist, blieb stark national gebunden. Zwar ist auch sie stärker global orientiert, als noch vor wenigen Jahrzehnten. Sie sieht sich aber noch immer auf die Unterstützung des nationalen Staats angewiesen. Noch wichtiger: Sie ist verhältnismäßig eng und kapillar mit der nationalen Gesellschaft verbunden, wo sie auch einigen Einfluss ausübt. Das ist denn auch der Punkt, an welchem die Kritik zur TCC-These ansetzt. Der Witz aber besteht darin, dass beide, die These und ihre Kritik, in weitem Ausmaß Recht haben.

Was sich gegenwärtig in Italien abspielt, ist unter dieser Perspektive nicht vorrangig ein Konflikt des nationalen italienischen Staats mit dem übernationalen Brüsseler Staat, der am Gängelband Berlins hängt. Es ist viel stärker ein inneritalienischer Konflikt zwischen der dort mit ihren Produktions-Apparaten teilweise angesiedelten TCC und der noch stärker national-italienisch orientierten Kapital­fraktion, die auch kleinere und mittlere Betriebe umfasst. Sicher: Es ist auch ein Konflikt, fast schon definitorisch, mit der TCC allgemein, die eher auf Deutschland setzt; für die Merkel eine ganz andere Befehls-Empfängerin und Bündnispartne­rin ist als der windige Renzi. Wer dabei die stärkeren Kräfte hat, ist auch ziemlich klar. Und wer glaubt schon, dass Sergio Marchione nicht auf Seiten der Berli­ner-Brüsseler Orthodoxie steht? Er hat bei Fiat genau das gemacht, was die Troika allgemein will. Er soll die €-Zone verlassen wollen? Dass manche Klein- und Mittelunternehmer aus Apulien und der Basilicata anders denken, mag schon möglich sein. Aber wer fragt die?

In diesem Konflikt hat Renzi auf populistische Weise Partei ergriffen. Ich sage populistisch: Denn seine bisherige Politik belegt, dass er im Wesentlichen auf der Seite der TCC steht. Im Unterschied zum einfältigen Bersani und zum rein außenabhängigen Monti hat er aber begriffen: Er ist in seiner nationalen politischen Stellung von der italienischen Gesellschaft abhängig – noch! Also muss er dem Elektorat nach dem Mund reden und Opposition gegen Berlin-Brüssel markieren.

Denn dieser Konflikt hat auf der Ebene der Bevölkerung eine Reihe von Ausdrücken. In Italien besonders auffällig ist die Krise der Mittelschichten. Eine solche gibt es auch im übrigen Europa und den USA. Doch die Wahrnehmung ist vielfach nicht so klar wie im europäischen Süden. Im Norden ist der Einschnitt vielleicht auch weniger drastisch, die Bevölkerung will sich dies nicht im selben Aus­maß zugestehen, und die Politik versucht, weitgehend stillschweigend sich darüber hinwegzuschwin­deln. Beispiel Schweden: Dort steigt seit Jahren die private Verschuldung, und sie hat mittlerweile eine enorme Höhe eingenommen.: Mit über 170 % des BIP hat sie sich seit 1995 mehr als verdoppelt, ins­besondere die Hypothekenschulden sind gewaltig. Das ist die Situation, aus der in den USA 2007/08 mit der Subprime-Krise die Schuldenkrise erwuchs. Dort wurde die Situation allerdings verschärft durch die Aggressivität der Banken und das Zögern des Staats, der zwischen zahnloser Kontrolle und Kollusion schwankte. Es war dort auch stärker ein Problem der Unterschichten, die in ihrer prekären Lage sowieso kaum auf die Probleme reagieren konnten. Die unteren Mittelschichten in Schweden aber vertrauen noch dem Staat: Der würde sie schon nicht zugrunde gehen lassen! Ob sie sich da nicht irren?!

 

Die Selbstwahrnehmung in Italien wird realistisch

In Italien steigt der Anteil jener stark, die sich selbst der Unterschicht zurechnen und ist schon in der Mehrzahl. (Die Daten stammen aus Demos, Jänner 2014, 2011 und 2006 auf der Basis von gut 2.000 Befragungen.) Das ist ganz und gar ungewöhnlich. In hoch entwickelten Ländern tendieren normaler­weise Alle, auch die Unterschichten, sich als Mittelschichten darzustellen. So kommt man auf 80 % Mittelschichten in der Eigenwahr­nehmung der Österreicher. Aber diese Illusion beginnt selbst hier zu bröckeln.

Ein zweiter Punkt ist die Zuwanderung. Seit Jahren kommen aus der Demographie angesichts sinkenden Fruchtbarkeit der nicht zuletzt auch der Krise und der Politik wegen die Hinweise: Es wird in naher Zukunft an Arbeitskräften fehlen. Die Bevölkerung nimmt dies aber ganz anders wahr, und mit viel Recht. Denn derzeit steigt die Arbeitslosigkeit wieder stark. Seit Jahren nützen die Eliten und ihre Helfershelfer die Immigration, um noch mehr Druck auf die Löhne der Unterschichten auszu­üben. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wo es möglich ist, stemmen sich die Leute dagegen. In der Schweiz gibt es Volksabstimmungen, mittels deren die sogenannte Freizügigkeit der Arbeitskräfte, vor allem auch der Zuzug aus der EU, d. h. im Wesentlichen Deutschland, eingeschränkt werden soll. Die Eliten schimpfen und tricksen dagegen.

 

Anmerkung: ohne jene, welche Antwort verweigern oder Wahlenthaltung beabsichtigen

 

Die Folge sind dort und auch in den meisten anderen Ländern, wo Plebiszite ja nicht möglich sind, rassistische Tendenzen. Gegen diesen Rassismus schreien am lautesten diejenigen, die vorher bedingungslos die Lohndrückerei durch Einwanderung unterstützt haben. Auch das ist wenig verwun­derlich. In Österreich beispielsweise profitieren ja nicht zuletzt die unteren Mittelschichten, sogar die Unterschichten, von einer besonders schmutzigen Form der Einwanderungspolitik. Die unterbezahlten Pflegekräften sind zwar jetzt so halb und halb legalisiert. Aber sollte die Differenz zwischen dem Kurs und der Kaufkraft zwischen dem € und den östlichen Währungen einmal geringer werden, dann wird auch dieses schäbige Modell nicht mehr funktionieren. Es lebt doch ganz wesentlich davon, dass diese Menschen in ihrer Heimat für den € mehr bekommen, als er hier wert ist..

Zurück in den Süden, zu dem in der Tendenz auch Frankreich gehört! Renzi wird nach dem Absturz des cavaliere ja als Häuptling einer „Mitte-Rechts-Partei“ gehandelt, die er demnächst gründen könnte.

Da muss er sich aber beeilen.

Nach dem unerwarteten Erfolg bei den EP-Wahlen haben ihn die Medien hoch geschrieben. In Italien muss man sich überhaupt an virtuelle Siege gewöhnen. Nach jeder Wahl herrscht eine Woche lang pure Hysterie im Interpretieren noch so kleiner Bewegungen.

Nunmehr aber zeigt die Kurve ziemlich stetig nach unten. Von 69 % positiven Meinungen über die Regierung im Juni ist er mittlerweile, Mitte November bei 43 % angelangt. Und seine persönliche Beurteilung weist ebenso deutlich nach unten. Wenn die Wahlen nicht schnell kommen, wird er das Bersani-Ergebnis noch unterbieten. Die letzten Regionalwahlen am 23. November waren auch lein so gutes Zeichen für ihn. Es gab geradezu unglaubliche Höhen der Wahlverweigerung. Aber die Renzi-Enthusiasten gingen doch meist hin. Seine ganze Arroganz und Frechheit demonstriert der presidente del consiglio danach: „Auf die Wahlbeteiligung kommt es nicht an!“

 

Aber das Problem ist: Die Linke, selbst ziemlich weit gefasst, inklusive SEL, gewinnt nur geringfügig. Hingegen ist die Lega Nord wieder im Aufwind. Auch die Gewerkschaften (CGIL, auch UIL/CISL) haben massiv an Vertrauen verloren. Ein Wunder?

Aber das ist nur ein Aspekt. Der politische Prozess spielt sich nur zum Teil in den Institutio­nen ab. Die Frage ist allerdings: Was kann eine auch in Italien mittlerweile sehr schwache Linke außerhalb der Institutionen erreichen?

Nur einen Schluss können und müssen wir mit Sicherheit ziehen: Auf die trübe Lage mit Voluntarismus und Überoptimismus zu reagieren, ist ein sicheres Rezept für ein endgültiges Scheitern

2014/11/27

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