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„Antijudaismus“, „Antisemitismus“ ˗ und was?

1. Mai 2015
Von A.F.Reiterer

Ein Versuch, jede System-Kritik zu skandalisieren


 

Wenn Theologen sich streiten, ist dies inzwischen eine höchst esoterische Angelegenheit und bisweilen auch ein bisschen amüsant. Die Zeiten sind sehr lange vorbei, als sich die blaue und die grüne Zirkuspartei nicht nur wegen ihrer Favoriten prügelten, sondern auch wegen der Natur Christi. Im hoch entwickelten Westeuropa brauchen politische Streitereien keine religiöse Einkleidung mehr.

Oder vielleicht doch?

Religiöse Literatur hat ihre Poesie. Aber wer die „hebräische Bibel“, in christlicher Diktion das „Alte Testament“ (AT) liest, ist schnell ziemlich erschrocken. Was man da, z. B. in den Büchern Josuah oder den Richtern findet, das ist nackte Propaganda für den Völkermord. Natürlich ist dies auch Anderen schon aufgefallen. Anfang des 20. Jahrhunderts trat daher ein einflussreicher evangelischer Theologe, Adolf von Harnack, dafür ein, diese Texte nicht mehr als „Heilige Schrift“ zu betrachten. Er wollte sie sozusagen aus der Bibel streichen.

Diese Idee hat ein jüngerer Theologe aus Berlin wieder aufgegriffen. Notger Slenczka von der Humboldt-Universität weist auf die Unvereinbarkeit der Gottesbilder im „AT“ und im „NT“ (Neuen Testament) hin. Ein konfessionsloser und areligiöser Religionssoziologe könnte dazu immerhin anmerken: Da, mit Durkheim, die Religion nichts ist als die Hypostasierung der Gesellschaft selbst und ihres Bildes, ist das Gottesbild und seine Qualität nichts Unwichtiges für die Gesellschaft.

Die evangelische Theologie, argumentiert Slenczka weiter, würde es zudem längst vermeiden, das gesamte AT als Hinweis auf das künftige Christentum zu lesen. Wer sich selbst ein Bild von diesen Positionen machen will: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/AT. Dieses reflektierte Vermeiden christozentrischer Positionen, ist übrigens im Katholizismus keines­wegs der Fall, soweit meine lückenhafte Kenntnis reicht.

Und jetzt ist der Teufel los.

Das Flagschiff des seriösen (?) deutschen Ultrakonservatismus, die FAZ, brachte am 21. April 2015 einen langen Artikel über den keineswegs nur mehr universitären Streit. Am 28. April finden wir dort zwei ebenfalls lange Leserbriefe, unterzeichnet von einer ganzen Latte von Theologie-Professoren. Sie distanzierten sich auf das deutlichste von einem hohen Kirchen-Funktio­när, einem gewissen Christoph Markschies, der Slenczka in unqualifizierter Weise angegan­gen war.

Worum geht es in diesem seltsamen Streit? Das sei „Anti-Judaismus“ befindet ein anderer politisierender Kirchenfunktionär. Der Vorwurf des Antisemitismus lauert da schon um die Ecke.

Die alten Antisemiten, die Nazis und ihre Vorläufer, hatten die ganze Welt in jüdisch und nichtjüdisch eingeteilt. Alles, was ihrer Meinung nach jüdisch war, war zu verurteilen. Und da fanden sie eine ganze Menge, vom Sozialismus bis zu Einsteins Relativitäts-Theorie.

Die neuen Philosemiten, kulturtreu und politisch unterwürfig, teilen die ganze Welt wieder in projüdisch und antijüdisch ein. Alles, was nicht projüdisch ist, ist zu verurteilen. Und da nehmen sie auch noch eine gar nicht so klammheimliche Ersetzung vor: antijüdisch ist Alles, was sich gegen die mörderische Politik Israels richtet, von Menschenrechten bis zu jeder antikapitalistischen Regung.

Die Schoa ˗ nicht der „Holocaust“, denn das war eine US-Filmschnulze ˗, die Vernichtung der Juden im Nazi-Reich, hat dafür gesorgt, dass jeder Ausdruck des Antisemitismus politisch geächtet wird, und sei es auch nur der Art, wie man, im Vergleich, in Österreich auf die Piefkes schimpft. Das haben manche Oppositionelle aus der Dritten Welt nicht begriffen. Damit werden ihre oft recht plebejisch-rüpeligen Wortmeldungen zur Belastung.

Das aber nützen die Verteidiger des Systems und seiner Eliten. Man braucht nur ein wenig im Internet zu recherchieren. Dort wird nicht nur jede Anti-Israel-Stellung auf die schäbigste Weise und meist ziemlich hysterisch denunziert. Anti-Amerikanismus, Antiimperialismus und Anti-Kapitalismus sind schon längst in dieselbe Kategorie eingestellt und gelten bei diesen Typen gemeinhin als antisemitisch.

Da wird neuerlich eine „jüdische Frage“ konstruiert, wie sie seinerzeit die Rassisten und Antisemiten aufgebaut haben. Das kommt den Israel-Apologeten taktisch kurzfristig zugute. Dazu zählen aber nicht zuletzt die offiziellen Funktionäre der IKG in Österreich und auch Zentralrats der Juden in der Bundesrepublik. Die Herrschaften Ariel Muzikant oder Oskar Deutsch melden sich fast immer dann zu Wort, wenn irgendjemand aus der österreichischen Politik eine leichte Distanzierung von einem besonders verbrecherischen Vorgehen Israels wagt. Dabei ist die politische Klasse in Österreich zur Gänze ohnehin nicht nur Israel-freundlich, sondern regelrecht Israel-hörig. Das gilt nicht nur für die Regierungsparteien, sondern z. B. auch für die FPÖ und ihre Bemühungen um die Weihe seitens israelischer Akteure. Das muss auf die Dauer verhängnisvoll sein.

Kommen wir nochmals zurück zum Theologenstreit. Es ist fast ein wenig vergnüglich, wenn ein Theologe einen anderen zur „wissenschaftlichen“ Diskussion auffordert. Wenn aber der andere, der Mächtige, brüsk ablehnt mit dem Hinweis: „Man diskutiert nicht, ob die Erde eine Scheibe ist!“, dann ist dies nicht nur frech. Es zeigt auch, was passiert, wenn Theologen und Kirchen-Funktionäre ein klein wenig Macht bekommen. Immerhin ist im Rahmen der evangelischen Strömungen seit fast zwei Jahrhunderten eine diskursive Auseinandersetzung möglich. Das ist wesentlich mehr als der Katholizismus zu bieten hat.

Ein Element der Erklärung für die neurotische Reaktion ist natürlich die fragwürdige Geschichte eines Großteils der Evangelischen im Nazi-Reich, übrigens auch im Österreich der Ersten Republik. Die Deutschen Christen waren eine eindeutige Kolonie der NS. Wenn sie das AT ablehnten, hatte dies nichts mit seinem blutigen Inhalt zu tun, sondern ausschließlich mit seiner jüdischen Herkunft.

Und Österreich? Wie immer, hat der hiesige dominante Katholizismus länger gebraucht und ist noch nicht einmal auf halben Weg stehen geblieben. Aber auch hier können wir beobachten: Die unbedingtesten Israel-Apologeten stammen aus dieser Wolke. Wenn ein ehemaliger „Furche“-Redakteur und nachmaliger nicht unintelligenter Politik-Professor geistig völlig zumacht, sobald von Israel die Rede ist, so ist auch dies ein Reflex des Spätschämens für den seinerzeitigen katholischen Antisemitismus. „Jungen Menschen die Zustände in einem Palästinenserlager zu zeigen, heißt, den Antisemitismus zu wecken!“ Also das Zeigen ist daran schuld, am „Antisemitismus“, nicht etwa die Politik, die dies verursacht.

Auch das ist ein wichtiges Feld im Kampf gegen die herrschende Hegemonie und um einen Wandel. Die evangelische oder katholische Theologie braucht uns wahrlich nicht zu küm­mern. Die sorgen schon selbst für ihre politische Bedeutungslosigkeit. Aber wir müssen uns gegen die Immunisierung der Herrschaftsstrukturen wenden. Und in diesem Feld spielen diese Linien eine erhebliche Rolle. Es ist wenig hilfreich, wenn da ein unbedarfter Rapper oder was immer mit den Tabubrüchen spielt und die Gaskammern evoziert.

29. April 2015

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