Die diversen Nobel-Preise erregen immer noch die Aufmerksamkeit zumindest der Journaille. Über die Preise für Physik, Chemie und Medizin möchte ich nicht sprechen. Dazu fehlt mir die Kompetenz. Aber die anderen Preise ähneln mittlerweile sehr den „Ig-Nobel-Preisen“, jenen Scherz-Preisen, welche für unsinnige oder belanglose Arbeiten vergeben werden. Sie sind allerdings oft schlimmer. Denn sie werden eingesetzt, um konservative Politik zu machen, und doch nehmen ziemlich viele Menschen solche Preise ernst.
Der „Frieden-Nobelpreis“ der norwegischen Parlamentarier sticht dabei besonders hervor. Ich will mich nicht näher darauf einlassen. Aber diesen Preis einem kriegsführenden US-Präsidenten zu verleihen, ist denn doch eine offene Verhöhnung der Berta von Suttner. Obama hat sich in der richtigen zynischen Art bedankt: Er fuhr nach Oslo und gab einen Vortrag unter dem Motto: Give War a Chance!
Der Literatur-Preis entwickelt sich seit Jahrzehnten in dieselbe Richtung. Jean-Paul Sartre war daher authentisch genug, diesen Preis abzulehnen – m. W. der Einzige, der dies bisher tat.
Und da gibt es noch den „Wirtschafts-Nobelpreis“ für die Propagandisten des Neoliberalismus.
Diesmal hat man ihn einem Ökonomen verliehen, welcher sich mit Ungleichheit beschäftigt, Angus Deaton, Professor in Princeton. Das lässt aufhorchen. Man geht allerdings vermutlich nicht fehl, wenn man darin auch eine leise Polemik gegen Thomas Piketty sieht. Der hat ja seine wirkliche fachliche Leistung bisher dadurch erbracht, dass er wertvolle Daten als Zeitreihen präsentierte. Seine zweite, politisch viel wichtigere und sensationelle Aktivität war sein Erfolgsbuch („Kapital im 20. Jahrhundert“). Das hat das Thema Ungleichheit auf die politische Agenda der Gegenwart gesetzt. Und er hat es auch noch gewagt, Steuererhöhungen für die hohen Einkommen vorzuschlagen. Ungleichheit ist ein Thema selbst für viele systemkonforme Intellektuelle, und es wird nicht sobald von der Tagesordnung abtreten. Dem gilt es Rechnung zu tragen und gleichzeitig entgegen zu steuern. In dem Sinn ist es auch wieder nicht erstaunlich, dass der Preis einem Menschen gegeben wird, welcher sich mit dem Thema beschäftigt. Angus Deaton weiß nämlich, wie er damit umzugehen hat.
Mein Eindruck ist allerdings: Dabei haben sich die Herrschaften in Stockholm doch etwas verkalkuliert.
Deaton wird kaum ein solcher Erfolgs-Autor werden, wie es Piketty ist. Dazu sind seine Aufsätze viel zu technisch. Oft kommen seine Aussagen auch in die Nähe „ig-noble“-verdächtiger Feststellungen: wenn er etwa mit Emphase festhält: Der Gesundheitsstatus verschlechtert sich bei Männern und Frauen in den USA mit zunehmendem Alter (Deaton / Paxson 1998). Aber wenn man sich durch so mühsame Aussagen gequält hat, findet man bei ihm doch auch eine Fülle von Resultaten, welche seinen Laudatoren vermutlich weniger gut gefallen. Überdies hat er sich mit seinem Buch von 2013 auch an Leute gewandt, die mit statistischer Technik wenig anfangen können.
Die schwedischen Kollegen wissen schon, warum sie ihm ihren Preis gaben. Denn insbesondere in seinem eben erwähnten für ein größeres Publikum geschriebenen Buch (2013) bedient er in jeder Hinsicht ihre Bedürfnisse. Ungleichheit ist gar nicht so wichtig; viel wichtiger ist, dass man Bescheid weiß, was man für seine Gesundheit zu tun hat („Wissenstheorie der Epidemiologie“). Das ist, nur ein wenig anders und trivialer ausgedrückt, der Tenor dieses Werks. Sein wichtigster Punkt, auch in anderen Beiträgen schon vorgebracht, ist: Zuerst kommt das Wachstum eben nur wenigen zugute. Aber man muss etwas Geduld haben. Es sickert schließlich schon in die große Masse hinab. – Wir werden diese Aussage, die gewissermaßen das Credo fast aller Ökonomen ist, noch später kurz ansehen.
Aber sehen wir uns einige Ergebnisse vor allem aus früheren Aufsätzen an! Die sind interessant genug und sprechen für sich selbst. Man muss noch aufmerksam machen: Deaton spricht hauptsächlich von den USA. In späteren Publikationen allerdings zieht er gerne den Vergleich auf globaler Basis, zwischen den Ländern. Das hat auch den Vorteil, dass er mit Pro-Kopf-Werten operieren kann, mit Durchschnitten also, wo die Verteilung keine Rolle spielt. Die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften ist ihm ein weitaus geringeres Problem.
Ich möchte zwei Punkte hervorheben und einen dritten, fundamentalen, ansprechen.
Der Zusammenhang von Einkommen und Gesundheitsstatus (je höher das Einkommen, desto besser die Gesundheit), gemessen mit der üblichen Korrelation, bleibt über den Altersablauf nicht gleich. In jüngeren Jahren ist er geringer. Mit zunehmendem Alter steigt er und ab 60 Altersjahren wird er wieder etwas lockerer. Man kann dies quasi „anthropologisch“ deuten. In jüngeren Jahren ist „die Biologie“ noch so stark, dass sie den sozialen Nachteil durch geringes Einkommen etwas abmildert. Gleichzeitig findet aber bereits eine Selektion statt. Ein Teil der weniger Gesunden, vorwiegend aus den Unterschichten, stirbt weg. Für den (großen) Rest setzt im Alter wieder die conditio humana, „die Biologie“ ein. Sie setzt der Ungleichheit eine allerdings sehr moderate Grenze. Doch nicht übersehen dürfen wir: Die Menschen mit geringerem Einkommen werden ständig ausselektiert, die weniger Gesunden sterben langsam weg. Damit ist aber auch schwer zu erkennen, ob wirklich „die Biologie“ die große Gleichmacherin ist, oder ob es sich einfach um einen Selektionseffekt handelt. Im Übrigen zeigt der Hinweis im Kasten, wie tief die Wirklichkeit der Ungleichheit geht!
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NZZ, 9. April 2014: Spuren einer schwierigen Kindheit
„Kinder aus armen Familien, die oft angeschrien oder geschlagen werden, deren Mütter allein erziehend sind oder oft den Partner wechseln, … altern … schneller. Die schützenden Enden der Chromosome (Telomere) sind bei ihnen kürzer als bei Kindern aus wohlhabenden intakten Familien. … Aus operationellen Gründen wird bei jeder Zellteilung ein kurzes Stück der repetitiven Sequenz im Telomer abgeschnitten. Ist das Telomer aufgebraucht, stoppt die Teilung. … Die Zelle ist im Stadium der Seneszenz. … Benachteiligte Kinder hatten besonders kurze Telomere.“ Die Zeitung beruft sich auf eine Studie (Mitchell u.a 2014).
Hier übersetzt sich Ungleichheit in einen epigenetischen Prozess. Das ist ungemein wichtig. Denn wir wissen zwar deskriptiv gut Bescheid, dass die Lebensdauer der Unterschichten deutlich niedriger ist. Wie dies aber funktioniert, ist im Einzelnen wenig klar. Hier haben wir einen Erklärungsansatz.
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Ein weiteres wichtiges und höchst aufschlussreiches Ergebnis ist: Für die Geburtsjahrgänge vor 1945 hat sich der allgemeine Gesundheitszustand bei späteren Geburtsjahren allgemein leicht verbessert. In Geburtsjahrgängen nach 1945 hat diese allgemeine Verbesserung über alle Schichten hinweg (in den USA) aber aufgehört. Man kann sogar eine leichte Tendenz zur Verschlechterung feststellen. Oder klar und verständlich ausgedrückt: Für Menschen, die nach 1945 geboren sind, prägt sich die Ungleichheit stärker aus, sogar in diesem existenziellen Bereich, den Gesundheit denn doch darstellt. Dazu passt ganz gut ein weiteres Ergebnis aus Großbritannien, das Deaton /Paxson auch zitieren (1998, 249): „Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich die sozioökonomischen Unterschiede in der Sterblichkeit vergrößert, obwohl der Unterschied in den Lebensjahren abgenommen hat, hauptsächlich wegen der Abnahme der Kindersterblichkeit“ (mit Bezug auf Wilkinson 1986).
Das ist von allergrößter Bedeutung für den Blick auf die Entwicklung unserer Gesellschaft. Es sagt nicht weniger, als dass die sozialen Unterschiede sich verschärft haben, dass aber gleichzeitig statistisch der gegenteilige Eindruck entsteht, weil in einem einzigen Indikator ein allgemeiner quasi-technischer Fortschritt erzielt wurde.
Bei Deaton allerdings klingt dies anders. Seine Grundauffassung lässt sich offenbar als trickle-down-These kennzeichnen, wie es auch Weil (2015) in einem langen Besprechungs-Essay des neueren Buchs von Deaton hervorhebt. Es soll denen oben gut gehen, dann wird, irgendwann, der Wohlstand schon auch noch unten ankommen. Ein Freund hat dies zutreffend die Pferdeäpfel-Theorie der Wohlstandsverteilung genannt.
Es ist sinnvoll, sich mit diesem neuen Glanzlicht der Ökonomie ausführlicher auseinander zu setzen, zumal er seine Überlegungen vorwiegend entwicklungspolitisch auslegt. Dieser kurze Hinweis soll nur eine erste Orientierung bringen und somit Weiteres fürs Erste aussparen. Aber es ist schon kennzeichnend. Auch Deaton kann nicht leugnen: Die Ungleichheit verschärft sich in den Zentren, in der hoch entwickelten Welt selbst. Sein Trost ist jener, den schon der Reagan-Ökonom Feldstein vor Jahrzehnten vorbrachte: Was ist so schlimm an der wachsenden Ungleichheit, wenn es allen etwas besser geht?
Die Menschen spüren die zunehmende Ungleichheit. In den unteren zwei Dritteln gewinnen sie nicht nur nichts. Es fängt an, weiter unten vorerst, ihnen real schlechter zu gehen.
In den USA, aber auch in Österreich, können wir die ersten Reaktionen auf diesen Prozess beobachten. Nicht wenige unter den Betroffenen suchen einen Sündenbock, und zwar nicht unter den Eliten, sondern in Schichten und Klassen, denen es noch schlechter geht. In den USA ist daraus die Tea-Party entstanden. Es ist eine wirkliche Unterschicht-Bewegung der Weißen. Sie machen die Augen zu, um die Wirklichkeit nicht sehen zu müssen, denn als Weiße sind sie ja prädestiniert, besser zu sein. Die Inhalte in dieser Bewegung sind, nach europäischen Maßstäben, wirklich faschistoid. Ihre hiesigen Propagandisten, meist aus den oberen Mittelschichten und deren Presseorganen, wollen dies allerdings so nicht nennen. Schließlich geht die Sonne bekanntlich im Westen auf.
In Österreich schwenkt der plebejische Protest politisch auch nach rechts. Aber die Inhalte sind fundamental anders als jenseits des Atlantik. In diesen Inhalten können wir die Sehnsucht nach den alten sozialdemokratischen Erfahrungen lesen. Das Ergebnis ist der scheinbar unaufhaltsame Erfolg der FPÖ.
Angus Deaton aber sagt uns in seinen von den Neoliberalen preisgekrönten Arbeiten: Nur Geduld, nur Geduld! Wartet doch noch ein wenig, 50 oder 100 Jahre. Dann wird schon von diesem neuen Wohlstand, auf den ihr so neidisch seid, auch bei Euch etwas ankommen.
Literatur
Deaton, Angus S. / Paxson, Christina H. (1994), Intertemporal Choice and Inequality. In: J. of Pol. Economy 102, 437 – 467.
Deaton, Angus S. / Paxson, Christina H. (1998), Deaton, Angus S. / Paxson, Christina H. (1998), Aging and Inequality in Income and Health. In: AEA Papers and Proceedings 88.2, 248 – 253.
Deaton, Angus / Gourinchas, Pierre-Olivier / Paxson, Christina (2002), Social Security and Inequality over the Life Cycle. In: Feldstein, Martin / Liebman, Jeffrey B., eds., The Distributional Aspects of Social Security and Social Security Reform. Chicago:University of Chicago Press, 115 – 148.
Deaton, Angus S. (2013), The Great Escape: Health, Wealth, and the Origins of Inequality. Princeton: Princeton University Press.
Mitchell, Colter, u. a. (2014), Social disadvantage, genetic sensitivity, and children’s telomere length. In: PNAS 111, 5944 – 5949.
Weil, David N. (2015), A Review of Angus Deaton’s „The Great Escape: Health, Wealth, and the Origins of Inequality“. In: J. of Ec. Literature 53, 102 – 114.