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Brexit: der erste Schritt?!

26. Juni 2016
Von Albert F. Reiterer

Der britische Schlag gegen die EU und wir


52 : 48. Das ist nicht so schlecht. Die Wahlbeteiligung stieg mit 72,2% deutlich gegenüber den letzten Parlamentswahlen (66,1 %). Offenbar hat das Sperrfeuer der Eliten gewirkt – aber gegen sie. Auch die Unterschichten gingen stärker zur Wahl als sonst. Ein-zwei Prozentpunkte dürften auch die dumpfen Drohungen der Deutschen und des Herrn Juncker gebracht haben. Sie lernen ja nicht. Als Gegenprogramm zum deutschen Herrenmenschen Schulze aufgestellt, imitiert er dessen Stil jetzt, soweit er nur kann. Und der „Spiegel“ hat eine zweisprachige Ausgabe gemacht, in welcher er die Briten zum Bleiben aufforderte. Das wird den EU-Gegnern auch ein klein wenig geholfen haben, ohne es zu überschätzen.

Ich muss zugeben: Nach dem Mord an der Labour-Abgeordneten Cox habe ich die Sache verloren gegeben. Zu deutlich war das zufriedene Grinsen auf den Gesichtern der EU-Befür-worter, bevor sie sich wieder erinnerten, dass sie doch Trauer heucheln müssten und Betrof-fenheit. Und es gab eine ganze Reihe von den Sprechern der Eliten, die jede Vorsicht fahren ließen und in den letzten Tagen triumphierend schon ihren Sieg ankündigten. Man erinnere sich nur an die Chefredakteurin des „Economist“ und ihren Auftritt in ZIB 2 vor wenigen Tagen!

Dass aber die Demoskopie in der letzten Zeit in wichtigen Fragen systematisch falsch liegt, ist auch aufschlussreich. Ein Teil der Menschen quer durch Europa wagt offenbar nicht mehr, zu sagen, was sie wirklich denken. Wen wundert’s? Die Wohlhabenden, die Mächtigen, die gut Verdienenden haben ganz massiv für das EU-Imperium geworben. Da kann man schon ein wenig in Furcht geraten. Man braucht nur auf die Karte der Wahlsprengel in England und Wales sehen: Es ist wirklich eine geographisch regionale Verteilung des Wohlstands einerseits, und der Dürftigkeit andererseits, die da graphisch als Stimmen für und gegen die EU erscheinen.

Wie geht es weiter? Für Großbritannien dürfte sich fürs Erste nicht allzu viel ändern. Die Gräuel-Propaganda gegen den Austritt wird sich als Propaganda heraus stellen. Der Pfund-„Absturz“ von 1,489 US-$ erreichte um 3.30 Uhr 1,32; aber 2 Stunden später lag es bereits wieder auf 1,36, und wieder 2 Stunden später, um 8.30, lag es schon bei 1,39. Es wird heute Abend schon noch deutlich höher sein: Das sind die Spielchen erfolgreicher Spekulanten. Man spricht von Gewinn-Mitnahmen, welche auf den Ängsten weniger Erfolgreicher bauen.

Kurzfristig wird sich wirtschaftlich wenig ändern – auch nicht zum Guten. Denn der Austritt bietet nur die Chance, aber keinerlei Gewissheit. Das ist das Quentchen Wahrheit, welches hinter Varoufakis’ zynischen Witzchen steckt: „Mit der Drachme hatten wir auch keinen Sozialismus.“

Allerdings dürfte die EU ihre Revanche planen. Die könnte z. B. in einer offenen Unterstüt-zung der schottischen Separatisten bestehen. In Schottland gingen 62 : 38 % der Stimmen an die Bleiber. Doch zum Einen ist ein Erfolg eines neuerlichen Unabhängigkeits-Referendums der Schotten alles Andere als sicher. Zum Anderen würde dies mindestens einen ebenso großen Knall darstellen wie der Sieg der Unabhängigkeits-Befürworter gestern. Es würde weitere Spannungen unglaublichen Ausmaßes in die EU tragen. Es wäre ziemlich sicher ein Schuss ins Knie. Denn selbst in Schottland bekamen die EU-Propagandisten weniger Stimmen, als sie es sich erwarteten, in Wales sowieso.

Und dann gibt es die Möglichkeiten, in Kollusion mit den Herrschenden in Großbritannien und ihrer Regierung die Effekte des Austritts möglichst weitgehend zu unterlaufen und das reale Ergebnis zu manipulieren. Was den Herrschaften da einfallen wird, wissen wir noch nicht. Es ist auch nicht direkt unser Problem. Die Mehrheit der Briten muss reagieren.

Für Labour ist der Ausgang ebenso eine Katastrophe wie für die Konservativen. Das britische Parteiensystem wird sich nach dieser Kampagne massiv ändern. Für die Linke war die Kam-pagne insgesamt kein Ruhmesblatt: Sie überließ die Demokratie-Argumente ebenso wie die allgemein politischen Überlegungen weitgehend der Rechten. Ob es ein Lichtblick war , dass die Sprecherin der Leave-Kampagne aus Labour kam, ist auch eine Frage: Sie ist sicher keine Linke.

Und wir hier?

Das Ergebnis kann zum Big Bang für eine neue europäische Linke werden. Gesichert ist dies aber keineswegs. Es gibt, wie schon gesagt, nur die Möglichkeit dafür. Noch überlässt die reformistische Linke den Kampf gegen das Finanzkapital und seine Organisation und damit die politische Vertretung der Unterschichten weitgehend der neuen nationalen Rechten. Allerdings sehen wir in den letzten Tagen, dass sich etwas ändert: Der großartige Sieg des M5S, der Grillini, bei den Kommunalwahlen in Italien, war eben erst ein Paukenschlag gegen Renzi. Die Unterstützung von einer Reihe von prominenten Figuren der LINKEN für den Aufruf gegen den Euro ist in der BRD ein viel versprechender Anfang.

In Österreich allerdings sind wir noch ziemlich allein in diesem Bereich.

Hier muss ein nicht unwichtiger Punkt erwähnt werden. Der ORF ist zur reinen Propaganda-Maschine der EU geworden. Wir müssen uns ernsthaft überlegen, was wir da machen können. Einmal abgesehen von der Dümmlichkeit, dass er hier Wahlkampf für die EU-Bleiber in Großbritannien machte, war die ganze Berichterstattung und die Debatte zur Thematik ein einziger Skandal. Eine kritische Stimme kam überhaupt nicht zu Wort. Das setzte sich heute in der Früh fort: Die Leichenbitter-Miene der Journalist/inn/en kann man den Leuten schon verzeihen. Sie sitzen ihrer eigenen Propaganda auf. Dass aber ein Sprecher in einer Musik-Sendung es wagt, um 6.00 die Briten weiter zu beschimpfen („Gute Nacht England und guten Morgen Österreich!“) geht denn doch etwas weit. Aber was soll’s. Der setzt nur das fort, was seit Jahren geschieht.

Vielleicht sollten wir uns überlegen, eine Kampagne gegen die Zwangs-Gebühren zu starten. Das würde dort treffen, wo es den Herrschaften am meisten weh tut.

Der Erfolg der Unabhängigkeits-Befürworter in Großbritannien ist tatsächlich eine großartige Nachricht. Aber jetzt geht der Kampf erst wirklich los, für die Briten und für uns. In Österreich steht die ganze politische Klasse auf Seiten des Imperiums – inklusive der FPÖ, die nicht müde wird zu beteuern, dass sie nicht anti-EU ist. Das ist vielleicht nicht schlecht, ber leichter wird es dadurch für uns nicht, welche wir einen neuen Anfang, eine Rückkehr zur Demokratie und sodann eine völlig andere Politik für eine andere Gesellschaft wollen.

24. Juni 2016, 11.00 Uhr

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