Unter Führung Reagans und Thatchers war der Neoliberalismus in den 80er Jahren vom anglosächsischen Zentrumskapitalismus ausgegangen. Die kontinentaleuropäischen Eliten nahmen bereitwillig den Ball an und zwangen den gesamten Kontinent in den Schwitzkasten. Das Ziel war es die sozialen und demokratischen Errungenschaften, die in den 70er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatten, wieder zurückzunehmen. Institutionell diente der Binnenmarkt und die um diesen organisierte, supranationale Bürokratie als das Hauptinstrument des permanenten Klassenkampfes von oben – genannt „Reform“.
Doch nun reicht es. Das globalistische Narrativ verfängt nicht mehr. In ganz Europa gärt es. Die Unter- und Mittelschichten wollen sich insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise 2008 die ständige Verschlechterung ihrer Lebenssituation nicht mehr gefallen lassen, während die Reichen immer reicher werden und das zynischerweise noch dem Gemeinwohl dienen soll. („Geht es der Wirtschaft gut, geht es allen gut.“)
Die Mehrheit stemmt sich gegen die zügellose Globalisierung. Sie will der heiligen Freiheit der Eliten über Kapital, Waren und Arbeitskraft ohne demokratische Einschränkung zu verfügen (die Realverfassung der EU) endlich einen Riegel vorschieben – sie will Regulierung. Gegen den Sachzwang des Marktes (hinter dem sich die Alleinherrschaft der kapitalistischen Oligarchie verbirgt) will sie zurück zur politischen Mitbestimmung. Dieses Prinzip der Volkssouveränität, das bisher nicht verwirklicht werden konnte weil die Verfügung über die Wirtschaft im Wesentlichen in der Hand einer winzigen Eliten verblieb, hat als Forum den Demos mit seinem Staat, bedarf also der nationalen Souveränität.
Dass gerade im Mutterland des Neoliberalismus die Mehrheit gegen das konkrete Regime des Neoliberalismus, die EU, stimmt, ist ein Fanal.
Brexit geführt von der Rechten?
Hier kommt der Einwand, dass es sich um einen Sieg des Rechtspopulismus handeln würde, oder dass die Bewegung zumindest von der Rechten geführt sei. Diese würde den Neoliberalismus, wahrscheinlich sogar in einer reaktionären Form, fortsetzen.
Erstens gab und gibt es auch in Großbritannien eine linke Kampagne gegen die EU, die tiefe Wurzeln hat und bis in die Gewerkschaften hineinreicht. Doch gegen diese wurde ein mediales Blackout verhängt, so wie Sozialproteste und noch mehr politische Äußerungen einer antisystemischen Linken nie zu Wort kommen. Es ist eine oligarchische Strategie den sozialen Protest gegen die Eliten in die Nähe der historischen Rechten zu rücken.
Zweitens sind es auch in Großbritannien vielfach ehemalige und auch gegenwärtige Labour-Wähler, die für den Brexit stimmten, nicht nur UKIP und Tories. Selbst der heutige Parteichef Corbyn gehörte früher den EU-Skeptikern an. Die Linke mit ihrer Verteidigung der EU und damit der Herrschaft der Oligarchie überlässt den sozialen Protest der Massen der Rechten.
Es ist richtig, dass die britischen Herrschenden mehr als alle anderen europäischen Großmächte gegenüber der politischen, supranationalen Zentralisierung skeptisch waren. Ihnen ging es um Freihandel und Neoliberalismus, dessen Champions sie waren und sind, aber durch ihre imperiale Geschichte blieb ihnen die Eingliederung in und die Unterordnung unter die Brüsseler Bürokratie immer suspekt. Das ändert nichts daran, dass die entscheidenden Kräfte der britischen Elite die EU als unumgänglich akzeptieren. Der große Bruder über dem Atlantik brachte es klar und deutlich zum Ausdruck – Obama wollte den Verbleib Großbritanniens in der EU.
Es ist klar, dass der EU-Austritt nicht automatisch einen Schritt nach links bedeutet, vor allem in Großbritannien ist das schwierig. Aber es erschüttert die Eliten in England wie am Kontinent. So bietet es eine Riesenchance, die es zu nutzen gilt.
Rassistisch?
Die Gegner des Austritts wollen glauben machen, dass es im Kern gegen die Einwanderung ginge. Tories und UKIP sind natürlich chauvinistisch und auch rassistisch. Ihnen geht es gerade darum, einen sozialen Impuls auf einen äußeren Feind umzulenken. An der Wurzel liegt jedoch allemal die soziale Frage. Es ist Blindheit der regimenahen Linken, den Wunsch nach Beschränkung der Immigration als per se rassistisch motiviert anzusehen. Die Bewegungen des Marktes einschließlich des Arbeitsmarktes in bestimmter Weise zu regulieren (also die Alleinherrschaft der Eliten in Frage zu stellen), ist im Interesse der Lohnabhängigen. Es ist Teil des Kampfes gegen die Globalisierung, wie jeder sozialer und gewerkschaftlicher Kampf zu Verteidigung von Löhnen und Tarifverträgen. Die Menschen sollen nicht den Arbeitsplätzen folgen müssen, sondern Arbeit soll dort geschaffen werden, wo die Menschen leben. Das geht nur mit dem Ende der Globalisierung, des globalen Freihandelsregimes und deren europäischer Form, dem EU-Binnenmarkt. Konkret für die Osteuropäer in Britannien heißt das, die Peripherisierung Polens, des Baltikums, des Balkans usw. und damit die Abwanderung zu stoppen.
Man kann gegen nationalen und kulturellen Chauvinismus und Rassismus nur ankämpfen, wenn man die sozialen Interessen der Unter- und Mittelklassen gegen die Globalisierung verteidigt. Die Forderung nach der Beschränkung der Zuwanderung muss ihrer Rolle als Allheilmittel entkleidet werden, muss in den allgemeinen Kampf gegen die Globalisierung, gegen die oligarchische Herrschaft der Eliten, gegen den fortgesetzten Imperialismus eingegliedert werden. Nur so kann der Ruf nach Solidarität mit den sich bereits hier befindlichen Immigranten konkret werden.
Friedensprojekt EU?
Kaum noch jemand getraut sich die „soziale EU“ zu verkaufen. Die letzte Verteidigungslinie ist immer das angebliche Friedensprojekt – die EU als Bollwerk gegen den alten Nationalismus.
Vergessen ist der Balkankrieg, wo die EU federführend eingriff, Jugoslawien als multinationale Integration gegen den Westen bekämpfte und den Nationalismus mit schürte. Oder auch die aggressive Haltung gegen Russland, die in der Ukraine mit den Bürgerkrieg befeuert. Die NATO-Expansion nach Osten, die im Gleichklang mit der EU erfolgt, schürt Krieg und Nationalismus.
Global folgt die EU mit mehr oder weniger Abstand der imperialen Politik der USA, sei es der ökonomische Raubzug im Namen des Freihandels, seien es die direkt militärischen Abenteuer im Nahen Osten oder Afrika.
Doch auch in Europa selbst ist es das Euro-Regime der EU, das den Süden gnadenlos verarmt und Widerstand entlang nationaler Bruchlinien erzeugt. Tatsächlich ist das Festhalten an der Zwangsjacke Euro-Regime ein versteckter Chauvinismus und Nationalismus des reichen Nordens und insbesondere Deutschlands. Genauso wie sich hinter der Globalisierung und dem Clintonianismus US-Nationalismus versteckte (der mit Bush dann offen zu Tage trat).
Zentrifugale Beschleunigung
Großbritannien ist ein Zentrumsland und es ist zweifellos noch ein sehr weiter Weg für eine antisystemische Linke Fuß zu fassen. Hier spielt auch der Widerspruch mit Schottland eine Rolle. Denn gegen das neoliberale Londoner Zentrum hat sich ein linker schottischer Nationalismus entwickelt, der seinerseits auf die EU setzt. ÄhnlicheMechanismen kann man in Katalonien und im Baskenland beobachten.
Doch was der Brexit in jedem Fall aussendet, ist ein politisches Signal an die Unter- und Mittelschichten des Kontinents, dass weder der Euro noch die EU irreversibel sind – so wie es in den Verträgen steht, die zu brechen sich Tsipras nicht getraute.
In wenigen Tagen wählt Spanien und es ist zu hoffen, dass Podemos die Eliten noch mehr in Bedrängnis bringen wird. Bisher wollte sich die linke Protestpartei dem Problem des Euro und der EU jedoch nicht stellen. Im Gegenteil: Iglesias schlug sich auf die Seite von Tsipras. Das britische Arbeiter-Votum kann dabei hilfreich sein, einen radikalen Flügel zu entwickeln, der sich auf den Bruch mit der EU-Oligarchie vorbereitet – im Sinne der sozialen und demokratischen Interessen der Mehrheit.
Die neoliberale EU spaltet Europa, sozial, kulturell und national, beschwört (Bürger)krieg und Diktatur herauf, gefährdet die verbliebenen Errungenschaften – was die Ungleichheit betrifft sind wir bereits wieder im 19. Jahrhundert angelangt. Was wir brauchen ist die Solidarität der Völker (nicht nur der europäischen) und das ist wiederum nur möglich auf der Basis der nationalen Selbstbestimmung und Souveränität zu allererst der armen Völker gegen die globalen Zentrumseliten.