Die Volksabstimmung in Großbritannien über die Mitgliedschaft in der EU ist zu einem Fiasko für die herrschende politische Elite in der Europäischen Union geworden. Damit ist ein vorläufiger Höhepunkt der Legitimationskrise des europäischen Kapitals, seiner Regierungen und seiner zentralen Behörden in Brüssel erreicht. Nur in den wenigsten Ländern und in wenigen Fällen wurde die Politik der EU und ihre vertraglichen Grundlagen den Bevölkerungen zur Entscheidung vorgelegt. In fast allen dieser wenigen Fälle hat die Bevölkerung ein klares Nein zu dieser EU gesagt. Das ist heute in Großbritannien nicht anders. Wir respektieren dieses wiederholte Nein nicht nur, sondern wir halten es für die einzig angemessene Antwort in dieser Situation.
Wer hat verloren, wer hat gewonnen?
Die Regierung Cameron hat zur Überwindung ihrer eigenen Vertrauenskrise zum Mittel dieses Referendums gegriffen. Sie ist das Risiko der Spaltung der eigenen Partei, der Regierung und großer Teile der ökonomisch herrschenden Klasse eingegangen. Sie ist das Risiko eingegangen, die nationalistischen und rassistischen Kräfte in Großbritannien zu ermutigen, hat ihnen ein überragendes Thema gegeben. Die Regierung Cameron fühlte sich sicher, dass eine beispiellose konzertierte Aktion der europäischen Regierungen, der Börsen und Konzerne, wie auch vieler Medien die Stimmung der Menschen in Großbritannien genügend beeinflussen würde. Noch während die Stimmabgabe lief, schossen die EU-Verwalter, Regierungen und Medien ein Trommelfeuer über die angeblichen Folgen eines „Brexit“ ab. Die Demoskopen waren sich nicht zu blöde, noch bis in die Abendstunden des Wahltages von einem „Sieg“ der „Remain“-Kampagne zu sprechen. Sie haben alle verloren.
Die Bevölkerung in Großbritannien wurde in einer einfachen Ja-Nein-Frage befragt, ob sie beim Thema EU noch auf der Seite der Regierungen in London und Brüssel stehe. Und sie hat Nein gesagt. Sie wurde nicht zum nationalistischen Geschrei der UKIP befragt, nicht zu Obergrenzen der Immigration und nicht zur Frisur von Boris Johnson. Das Nein ist hier die einzig angemessene Antwort. Auch für Linke, SozialistInnen und KommunistInnen. Wer bei dieser Abstimmung zuhause geblieben ist, sich enthalten oder mit Ja gestimmt hat, der oder die hat einen schweren Fehler und sich gemein mit der herrschenden Elite des kapitalistischen Europas und seiner aktuellen Politik gemacht.
Die EU ist nicht mehr unschuldig
Es geht bei solchen Abstimmungen in der EU schon lange nicht mehr um ein abstraktes Prinzip „Europa ja oder nein“. Die EU war niemals ein Friedensprojekt und eine Union im Interesse des menschlichen Fortschritts, wie sie sich gerne selber darstellt. Die EU ist als reines Binnenmarktprojekt des europäischen Kapitals gegründet worden. Ihre heute gültigen Vertragsgrundlagen legen detailliert die Mitgliedstaaten auf eine kapitalistische Wirtschaftsweise fest und schließen im Gegenzug jede Festlegung auf eine Sozialunion aus. Die „Stabilitätsregeln“ der EU verpflichten alle Mitgliedsstaaten auf eine rigide neoliberale Austeritätspolitik, mit dem ausdrücklichen Ziel, die Löhne der Arbeitenden mit allen ökonomischen und politischen Mitteln zu kürzen, um den Konkurrenzkampf mit den USA und Japan zu bestehen. Die EU ist ein Kind des kalten Krieges und hat von Anbeginn an die Hälfte Europas ausgeschlossen (im Gegensatz zu anderen europäischen Institutionen). Sie hat sich widerspruchslos in die militärischen Pläne der Nato einbinden lassen und ihre eigenen militärpolitischen Ambitionen dazu niemals gegensätzlich gesehen.
Aber es soll Leute geben, die hartnäckig behaupten, diese grundsätzliche Ausrichtung der EU könne durch Mitgestaltung, innere Reformen und Internet-Aufrufe von Intellektuellen gebremst und umgedreht werden. Wir sind es leid, darüber zu diskutieren, weil die Geschichte sich leider weiter entwickelt hat: Die EU hat ihre Unschuld verloren. Ihr Frontex-Regime an den Außengrenzen, ihre Politik gegenüber Millionen von Menschen, die aus Armut, Krieg und Umweltkrise flüchten müssen, sind zu einem Massaker an Menschen, zu einem Massengrab im Mittelmeer geworden. Ihre eigenständigen oder im Bündnis mit der Nato verfolgten Militäreinsätze im Balkan, Afghanistan, Naher Osten und in den früheren afrikanischen Kolonien haben die EU zu einer Kriegspartei erster Güte werden lassen, dessen aktuelles Gesellenstück in der Ukraine-Frage und der neuen Aggression gegenüber Russland angefertigt wird. Und die ebenfalls über Leichen gehende Erpressungspolitik gegenüber Griechenland hat sich erstmals nicht gescheut, ein eigenes Mitglied mit barbarischen Spardiktaten unter Verletzung selbst der eigenen EU-Grundlagen in die Knie zu zwingen.
Diese konkrete Praxis der EU darf nicht mehr nur abstrakt kritisiert werden, sondern die Linke Europas, die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung müssen dieser Politik praktisch in den Arm fallen. Deshalb ist es gut, wenn die Politik und die Strukturen der EU ins Stocken kommen und am weiteren üblen Geschäft gehindert werden. Selbst wenn das nur bei einem Teil der Akteure beim britischen Referendum zum Thema gemacht wurde, selbst wenn die nationalistischen Krakeeler nicht zum Verstummen gebracht werden konnten, so ist die praktische Wirkung eines „Leave“ beim britischen Referendum nützlich für eine antimilitaristische und antiimperialistische Politik überall in Europa.
In Frankreich legen Massendemonstrationen gegen die Regierung einen weiteren Musterschüler der EU lahm. In Spanien kann am kommenden Wochenende die Linke zum entscheidenden Faktor im Land werden. Wir begrüßen dies nicht nur für die Menschen in diesen Ländern, sondern auch als eine notwendige Ergänzung zur Blockade der EU auf den britischen Inseln.
Ein Sieg der Nationalisten?
Die konkrete Politik der EU hat in den letzten Jahren in vielen Ländern Europas und vielen Mitgliedsländern der EU einen Aufschwung von ultrarechten und nationalistischen, oft brutal rassistischen Parteien erlebt. Sie werden durch die sozialen Folgen der EU-Politik – Massenerwerbslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen; hartes Regime gegenüber Flüchtenden; nationalistische Egoismen auch in den führenden europäischen Regierungsparteien und Kaputtsparen der öffentlichen Vorsorgeeinrichtungen – selbst aufgepäppelt. Allein ihre Existenz und ihr Wachstum sind ein Beleg dafür, wie hohl das Gerede ist, die EU wäre ein Projekt zur Überwindung des Nationalismus.
Leider gelingt es den rechten Parteien, wie auch der UKIP beim britischen Referendum, den Protest gerade von Arbeiterinnen und Arbeitern und von sozial abgehängten Milieus gegen die unsoziale Politik von Cameron und der anderen europäischen Regierungen für sich zu instrumentalisieren. Ein Protest bleibt es trotzdem.
Es gab in Großbritannien auch eine respektable linke Mobilisierung für den „Brexit“. Ein Teil der politischen Linken, die KP, SWP, SP und andere, sowie mehrere Gewerkschaften haben eine beachtlichte Kampagne auf die Beine gestellt. Trotzdem blieben sie leider nur ein frisches Windchen bei all dem nationalistischen Gestank der UKIP-Leute und ihrer Verbündeten bei den Tories. Eine große Verantwortung dafür, dass nicht mehr für die Linke herauskam, trägt auch Jeremy Corbyn und die Labour-Party, die, obwohl sie noch vor gar nicht langer Zeit für einen „Brexit“ waren, sich dann doch mehrheitlich von den EU-Strategen einwickeln ließen.
Dennoch wird ihre Kampagne ein besserer Ausgangspunkt für das Ausnutzen der vertieften Krise der EU für linke Politik sein als das freiwillige Anketten an die EU-Propaganda, für das sich andere Teile der britischen (und auch deutschen) Linken entschieden haben.
Es spricht auch einiges dafür, dass die UKIP nach diesem ersten Sieg in ihrem Hauptanliegen Probleme haben wird, die Erwartungen an eine britische „Unabhängigkeit“ von der EU für weitere Erfolgen zu nutzen. Schon am Tag nach dem Referendum musste sie eilfertig zurückrudern, bei ihrem Versprechen, die EU-Gelder komplett zum Ausbau sozialer Dienstleistungen benutzen zu wollen. Die Hoffnungen der britischen ArbeiterInnenklasse auf eine Verbesserung der sozialen Situation sind mit diesem Referendum geweckt worden. Im Übrigen ist diese Erwartung, es muss sich etwas Grundlegendes ändern, auch bei den, vor allem jungen WählerInnen geweckt worden, die beim Referendum mit Ja gestimmt haben. Wir sind ziemlich sicher, dass die Nationalisten diese Erwartungen nur enttäuschen werden.
Ob die Linke sie aufgreifen und zu einer Stärkung der sozialistischen Kräfte in Großbritannien ausweiten kann, ist natürlich auch nicht sicher. Eine kluge und solidarische Politik der gesamten europäischen Linken kann dabei nur hilfreich sein.
Dabei muss aber auch klar sein: Die EU-Krise stellt in hohem Maße die Systemfrage. Wie soll es in Europa weitergehen, wie können die inneren und äußeren Schranken des Kapitalismus überwunden werden? Ein linke Antwort auf die Krise der EU, muss deshalb auch die Perspektive eines komplett alternativen, sozialistischen Europas mehr ausmalen als bisher, um nachhaltig zu wirken.
Inge Höger, Lucy Redler, Yannik Dyck, Tim Fürup, Thies Gleiss
25. Juni 2016