Der „Spiegel“ weint Krokodilstränen. Frauen mit unterbrochener Berufs-Karriere und Erwerbsminderungsrentner kommen im Alter nicht über die Runden. Aber da wollen einige Leute wie Seehofer und Gabriel das Renten-Niveau stabilisieren. Das kostet 600 Milliarden, schreibt das Blatt, und die „werden den Jüngeren fehlen“. Er spielt also wieder einmal Alterskampf, der „Spiegel“ vom 6. August 2016. Das ist ja seit Jahren die probateste Möglichkeit, vom Kampf gegen die Ungleichheit abzulenken. Man formt den Klassenkampf zu einem Krieg zwischen den Generationen um.
Der „Spiegel“ sorgt sich also um die Jungen. „Die Kinder, die die Renten einst als Beitragszahler sichern sollen, sind fast alle längst geboren“ (S. 17). Man muss also „die Lasten zwischen den Generationen gerecht verteilen.“ Dagegen wollen die populistischen Politiker Seehofer und Gabriel „die Senioren komfortabler ausstatten“. Die bekommen ja immer noch 48 % des mickrigen Durchschnittslohns. Einige von ihnen leben noch über der Armutsgrenze. Das muss sich ändern. Es wird sich auch ändern, wenn nichts weiter passiert. In wenigen Jahren werden sie nur mehr 43 % bekommen, und bald danach nur mehr 41 %. Das hat der Basler Thinktank Prognos für den „Spiegel“ ausgerechnet. Der schreckt sich „vor großen Zahlen nicht“ und schreibt ohne weiteres einmal 600 Milliarden Zusatzaufwand hin.
Doch überlassen wir den sattsam bekannten Spiegel-Stil seinen Redakteurinnen.
Es ist Zeit, an einige wenige Grund-Verhältnisse zu erinnern. Sie sind trivial. Aber der mainstream-Politik, ihren Ökonomen und ihren Journalisten scheinen sie bei aller Trivialität nicht wirklich geläufig zu sein.
Da wäre, erstens, die simple Geschichte, dass wir alle einen Lebenslauf durchmachen; dass wir als junge Menschen von der Gesellschaft erhalten werden; dass wir als Berufstätige im mittleren Alter die Jungen und die Alten erhalten; dass wir im Alter wieder von der Gesellschaft insgesamt erhalten werden. Ist doch nicht so schwierig, oder? Aber für Politiker und ihre Journalisten scheint dies zu komplex zu sein. Das Bild, das sie vermitteln, schaut anders aus. Da gibt es die Erwerbstätigen, die ewig wie die Sklaven arbeiten und von den Alten ausgebeutet werden. Was ist übrigens mit den Jungen? Die kommen gar nicht vor, obwohl sie von den Aktiven erhalten werden. Könnte es sein, dass auch sie einmal älter werden, zuerst nun die Anderen erhalten, und dann noch älter werden und ihrerseits von den Aktiven erhalten werden?
Zweitens: Der Zahl der Alten, derer über 65 (bzw. in Hinkunft über 67, darauf kommen wir noch) auf 100 Erwerbstätige steigt laut den keineswegs über allen Zweifeln erhabenen Zahlen im Text von 34 im Jahr 2010 auf 58 im Jahr 2040. Das wäre ein jährlicher Anstieg ihres Anteils um 1,24 %. Nun wächst aber die Produktivität im langjährigen Durchschnitt um 1,5 % pro Jahr. Es ist richtig, nach den Daten des Sachverständigenrats stieg die Produktivität von 1991 bis 2007 nur um jährlich 1,3 %. Dann kam überdies die Finanzkrise. Damit tauchte sie noch einmal ab. Aber: Die Verlangsamung in den 1990er war auf den Anschluss der DDR zurück zuführen. Sagen wir es deutlicher: Die vergleichsweise langsame Entwicklung war das Ergebnis einer annexistisch-imperialistischen Politik. Die wurde damals von einer Mehrheit der Westdeutschen mitgetragen. Dass so was aber die Produktivität bremsen kann, ist ziemlich klar. (Übrigens, nebenbei aber nicht unwichtig: Berechnet man die Produktivität nicht auf die Person der Erwerbstätigen, sondern auf die Arbeitsstunde, dann ist sie in diesem Zeitraum sogar um jährlich 1,7 % gestiegen!) Aber es bleibt ein Faktum: Allein die Reinvestitionen verkörpern schon einen technischen Fortschritt. Da braucht es gar nicht große Netto-Investitionen. Das bedeutet in diesem perversen System oft genug sogar ein Problem. Wenn das allgemeine Wachstum nicht über dem Produktivitäts-Wachstum liegt – z. B., weil wegen der niedrigen Löhne zuwenig konsumiert wird – , steigt die Arbeitslosigkeit.
Bleibt also: In der Tendenz wächst die Produktivität deutlich schneller, als die demographische Alterung den Anteil der Alten ansteigen lässt, sogar in einer Übergangszeit wie heute. Bleibt also das durchschnittliche Lebensniveau der Alten konstant und sinkt nicht, drastisch ab, wie es die Politik und die Eliten wünschen, dann ergibt sich daraus ein jährlicher Wohlstandszuwachs für die Aktiven, zwar eher bescheiden, aber doch. Vorausgesetzt ist allerdings: Die Verteilung wird nicht noch schiefer und ungleicher, der zusätzliche Wohlstand geht nicht zur Gänze in die Profite.
Und genau hier liegt das Problem. Sogar das Friedrich Ebert-Institut und die Verteilungsberichte der deutschen Bundesregierung auf der Basis ihrer eigenen Statistiken zeigen: Die Ungleichheit nimmt zu. Die untere Hälfte der Bevölkerung muss seit Jahren Einkommensverluste hinnehmen, je weiter nach unten, umso mehr. Die Mittelschichten bis weit oben stagnieren im Wohlstand,. Aber die obersten Einkommensbezieher legen, ebenfalls seit Jahren, deutlich zu, vor allem die Eliten, aber auch die oberste Mittelschicht.
Aber das dürfen die Politiker und ihre Journalisten nicht aussprechen. Sie müssen auf einen Generationenkampf setzen, wie dies keineswegs die deutsche Bundesregierung allein unter der Anleitung der EU-Kommission tut. Die wiederum eifert den US-Verhältnissen nach. Die sind seit vielen Jahren das offen eingestandene Vorbild für „Europa“. Sie weisen eine Ungleichheit auf, wie sie sonst nur die Entwicklungsländer zeigen. Das ist der eigentliche Hintergrund.
Damit dies aber nicht zu deutlich wird, verdrückt man ein paar Tränen über die Renten von Frauen nach unterbrochenen Berufs-Karrieren. Die hat die deutsche Familienpolitik man bis vor Kurzem offen gefördert. Und weint man auch noch über die Erwerbsgeminderten. Das ist purer Zynismus. Denn gerade das hat die SPD-Grüne-Regierung Schröder / Fischer absichtsvoll und bewusst in Szene gesetzt.
Und man verweist auf die Riester-Reform. Hier wollen wir, trotz allem Widerwillen noch einmal das Blättchen zitieren: „Um die Jahrtausendwende argumentierte das Bundessozialministerium noch, die Kapitalmärkte böten Verzinsungen von 4 % bis 5 %. Die Privatrente sei also höchst rentierlich“ (S. 18). Wahrscheinlich übersteigt es wieder das Fassungsvermögen von Politikern und Journalisten, wenn man festhält: In einer Wirtschaft, die, wie damals, nur um ½ % jährlich wuchs, können 4 % bis 5 % grundsätzlich nur aus einer Umverteilung von den Arbeitenden nach oben hin zu den Finanz-Titeln heraus kommen. Bei einer gleich bleibenden Verteilung sind sie rechnerisch real schlicht unmöglich. Wenn die Leute dies damals wirklich ernst gemeint haben, müssen sie von vorneherein auf Pyramidenspiele und sonstige Glücksräder gesetzt haben. Aber die haben bekanntlich die Eigenschaft, dass sie nach kurzer Zeit platzen.
Aber so daneben sind nicht einmal die meisten Ökonomen (nicht wenige leider schon). Es steckt also was Anderes dahinter. Das ist nicht schwer zu erkennen. Diese Renten-Reformen waren und sind ein gewaltiger Schritt hin zur Gesellschaftsspaltung. Sie sind ein abgefeimtes Mittel, die Löhne sozusagen auf freiwilliger Basis zu senken, wenn dies denn überhaupt möglich ist. Denn wenn sich die Menschen das überhaupt leisten können, werden sie aus Angst vor Altersarmut auf „Eigenvorsorge“ einsteigen. Was aber ist dies Anderes als eine Senkung des Aktiv-Lohns?
Die obersten 20 % bis 25 % der Einkommensbezieher können es sich leisten. Und die sollen belohnt werden. Denen hat man also die 4 % oder 5 % Rendite versprochen. Das war eine Planungsgröße für die Umverteilung nach oben. Die Finanzkrise hat diesen schönen Plan allerdings vermasselt.
Aber nur für die Obere Mittelschicht. Die wirkliche Oberschichten, die Eliten, sind von der Nullzins-Politik nicht betroffen. Man braucht bloß in die Forbes-Listen zu schauen. Jeden Tag kommen Milliardäre dazu, in Echtzeit nachzuverfolgen. Das ist nicht zuletzt auf die seit Jahren wieder steigende Bewertung ihrer Vermögen zurück zu führen. Man sollte eigentlich nicht erklären müssen: Renditen bestehen nicht sosehr aus Nominal-Zinsen. Die Rendite enthält die Wertsteigerung, und die zeigt steil nach oben.
Doch zurück zu den Renten und den unverschämten deutschen Alten, die nicht rechtzeitig sterben wollen. Dem muss man nachhelfen. Also bringen Ökonomen – wer sonst? – den Vorschlag, Alle sollten bis 73 zu arbeiten. Wir werden es den Alten schon zeigen!
Dieser Vorschlag hat einen weiteren Vorteil. Mit einem Schlag verschwindet jede differenzierte Debatte über unterschiedliche berufliche Anforderungen und ihre Folgen. Schaut’s doch: Der Professor Soundso ist schon 76 Jahre und arbeitet immer noch. Da werden doch der Dachdecker und der Maurer mit läppischen 62 Jahren auch noch arbeiten können.
Und es verschwindet auch jede Überlegung über neue gesellschaftliche Möglichkeiten, über selbstbestimmtes Altern und sinnvolle Nützung dieses Lebensabschnitts.Selbstbestimmt? Die Leute sollen bloß nicht auf dumme Gedanken kommen.
Um das durchzusetzen, braucht man entsprechendes politisches Personal. Die „ehemalige Parteilinke Nahles“ ist da zu loben, die da sehr konstruktiv „die Rentenfinanzen im Blick“ hat. Oder der Betriebsrat Thöne bei Bayer, der selbst fast 6.000 Euro verdient, und „wenig davon hält, das Sicherungsniveau einfach anzuheben“. Walter Riester, der Erfinder der Riester-Rente, war auch ein solcher Gewerkschafter und SPD-Mann, bevor er Minister wurde und die deutschen Rentner in die Altersarmut stieß.
Aber es ist ein Pech. Die SPD sinkt in der Wählerzustimmung immer tiefer; neuerlich lag sie sogar unter 20 %. Mit dieser Partei allein ist also kein Staat mehr zu machen. Man braucht da noch andere unverbrauchte Kräfte. Ein Glück, dass eine Mehrheit in der LINKEN so ganz und gar geil darauf ist, endlich auch wo in der Regierung zu sitzen. Sie haben zwar die Hälfte der Stimmen verloren, dort wo sie wirklich mitregieren, in Berlin oder in Brandenburg. Nach diesem gewaltigen Erfolg beeilt man sich in Thüringen, dem nachzueifern. Und wenn sich Widerspruch meldet, dann wird man die entsprechende Person schon demontieren, mit Hilfe von Außen. Gregor Gisy weiß wie das geht.
„Ganz ohne Verteilungskampf“ möchte Prognos-Mann Böhmer also die Frage lösen. Und der „Spiegel“ kommt seinem Auftrag nach. Er bemüht sich, das in die deutschen Gehirne einzuhämmern. Nur ein Pech, dass er auch nicht mehr das ist, als was er zur Zeit Augstein seniors in der BRD einmal war: Unter Augstein junior und Konsorten kämpft das Wochenblatt seit Jahren um sein Überleben.
Albert F. Reiterer, 9. August 2016