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Die [Wiener] Sozialdemokratie bricht zusammen!?

21. September 2016
Von Albert F. Reiterer

Zu der Wahlwiederholung im 2. Wiener Gemeindebezirk (Leopoldstadt)


Beim ersten Durchgang der Bundespräsidentenwahl konnte man noch der Meinung sein: Das SP-Ergebnis lag am jämmerlichen Kandidaten. Ganz so falsch war dies natürlich nicht. Die Wahlwiederholung in der Leopoldstadt allerdings brachte einen Eklat: Die personalisierte Erklärung greift viel zu kurz. In Wien traut man es der SPÖ offenbar einfach nicht mehr zu, die Mittelschicht zu schützen. Wie soll sie die Plebejer noch in Zaun halten, wenn diese fast geschlossen die Partei verlassen und zum Gegner übergehen, den man aus taktischen Gründen zu einem riesigen Popanz aufgebaut hat?

Eine solche Desertion der ehemaligen Kernschichten einer Partei findet man in der neueren Geschichte auch wieder nicht oft. Mit fällt dazu ein Beispiel nicht aus Österreich, sondern aus Großbritannien ein: Vor einem Jahrhundert erlitt dort die Liberale Partei ein ähnliches Schicksal und wurde von Labour abgelöst. Das war damals allerdings ein Prozess, der auch stark mit der Ausweitung des Wahlrechts zusammenhing.

Zu Wien: Die Eliten und die Mittelschichten selbst können ja einigermaßen zufrieden sein. Mit den Grünen steht eine Alternative zur SPÖ bereit, welche die Interessen und die kulturellen Sichtweisen der besser Gestellten konsequenter vertritt als die SPÖ mit ihrem bürokratisierten Apparat. Die aufgeklärten urbanen Liberalkonservativen, die Life-Style-Linken, jene, denen die Demonstration ihrer sexuellen Orientierung in der Öffentlichkeit das wichtigste Element politischer Handlung ist, alle Male wichtiger jedenfalls als die soziale und politische Orientierung, die können sich auf Chorherr und Vasiliakou entschieden eher verlassen als auf Brauner, Wehsely, Ludwig und alle „the good weibs“ der Wiener SP. Häupl scheint dies zu begreifen und spricht zu Recht von einer Katastrophe.

Man muss die Kirche im Dorf lassen. Die Wahlbeteiligung betrug wenig über ein Drittel. Alle Parteien, auch die siegreichen Grünen, haben kräftig an Stimmen verloren. Trotzdem halte ich dies, im Zusammenhang mit der Präsidentenwahl, wirklich für einen Wendepunkt in der Parteiengeschichte in Österreich. Die Frage allerdings ist: Bleibt dies eine Erscheinung in Wien und auch im Westen – denn man muss auch an Tirol denken, wo ein ähnlicher Prozess seit Längerem im Gang ist, wenn auch diskreter? Die Ergebnisse bei der Bundespräsidenten-Wahl I und II lassen eher vermuten, dass dies eine nationale Tendenz ist, die sich halt in Wien besonders auffällig ausdrückt. Bei der SP müssten jedenfalls alle Alarm-Glocken schrillen.

Die Verschnaufpause nach dem Faymann-Rücktritt hat eben noch ausgereicht, die SP vor Hofer und der FP zu retten – noch bleibt abzuwarten, ob dies dauerhaft hält.
Kern hat offenbar eine ferne Ahnung, was passiert. Er hat den Wahlkampf begonnen, will aber die Politik nicht ändern. Höchst kennzeichnend ist da die Türkei-Affäre. Wäre es Kern ernst mit der Politik, und das Ganze nicht nur ein Wahlkampf-Schmäh, dann wäre er anders vorgegangen. Dann hätte er sich z. B. innerhalb seiner Peers in der EU Verbündete gesucht, und wäre dann an die Öffentlichkeit getreten. Der Schnellschuss, eine so drastische Wende in einem Zufalls-Interview im ORF anzukündigen, ohne das im Geringsten vorbereitet zu haben zeigt: Das ist typische, Faymann’sche Rosstäuscher-Manier.

Dieser Wahlkampf, obwohl ein halbes oder ein ganzes Jahr vor den Wahlen, kommt vermutlich auch zu spät. Da kann sein „Österreich“ noch dutzende Mal triumphierend verkünden: „Kern auf der Überholspur!“ – mit Daten aus einem 400-er Sample und einem triumphalen Vormarsch der SP von einem Punkt, bei einer Unsicherheit von + / – 6 Punkten selbst auf nur 95 %-Niveau.

Doch wir schwimmen da ziemlich an der Oberfläche. Was wirklich wichtig ist: Die neue neoliberale und sozialtechnokratisch-konservative SP ist in ganz Europa im Abstand, wie sie sich auch immer bezeichnet. Was an ihre Stelle treten kann, ist eine ebenfalls recht oberflächliche Frage. Entscheidend wird sein, ob jemand der unteren Hälfte, den unteren zwei Dritteln in den europäischen Bevölkerungen, den Arbeitern, den kleinen Angestellten, auch der Unteren Mittelschicht, wieder glaubhaft den Eindruck vermitteln kann: Euer Ausschluss aus der Politik ist nicht Schicksal. Ihr und Eure Anliegen habt wieder eine echte Repräsentation.

Das war das Rezept der Integration der Unterschichten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob eine solche Integration noch einmal möglich sein wird, ist eine andere Frage, ganz abgesehen davon, dass wir von einer anderen Politik und einer anderen Zielsetzung ausgehen.

Albert F. Reiterer, 20. September 2016

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