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Chancen des italienischen No

18. Dezember 2016
Von Wilhelm Langthaler

Das Scheitern des italienischen Verfassungsreferendums ist eine Abfuhr für den Populismus der „Eliten“ und öffnet die Tür für eine soziale und demokratische Alternative um die Fünf Sterne Bewegung.


Es war abermals ein Klassenvotum. Die Unterschichten und die Arbeiterschaft sowieso, aber auch weite Teile des Mittelstands haben Renzi abgewählt. Aber anders als beim Brexit wollte gerade die Jugend den neoliberalen Bonaparte losbekommen, genauso wie die präkarisierten Gebildeten. Im armen Mezzogiorno gab es eine Zweidrittelmehrheit, auf den Inseln Sizilien und Sardinien über 70% „No“.

Umso interessanter ist es zu sehen, wer Renzi verteidigte: Vom sozialen Status her gesehen sind es die Pensionisten, die überwiegend „Si“ (also ja) sagten – so viel zum „Modernisierer“. Regional sind es die roten Hochburgen Toskana und Emilia Romagna, wo nicht nur die klientelistischen Netzwerke der Partito Democratico wirken, sondern wo auch die soziale Katastrophe durch die Reste des Sozialstaates noch gedämpft werden. Gegenfolie ist Venetien, die Region der gefeierten, neoliberalen, entgewerkschafteten, hochspezialisierten Kleinindustrie, die von der Krise schwer angeschlagen ist. Dort stimmten 62% mit Nein. Die Zentren der Großindustrie in der Lombardei und in Piemont votierten mit ca. 55% gegen Renzi, deren reiche Stadtbezirke oft mit „Si“. Die mit Abstand meisten Befürworter hat Renzi in Südtirol, nicht nur wegen der hohen Einkommen, sondern auch, weil Renzi im Gegenzug zur parlamentarischen Unterstützung der Abgeordneten der Region dessen autonomen Sonderstatus nicht anzutasten versprach.
Entzauberung des Elitenpopulismus

Wenn in den hiesigen Medien im Zusammenhang mit Italien vom Populismus die Rede ist, meint man, den Schuldigen benennen zu können. Doch das eigentliche populistische Projekt repräsentiert Renzi selbst, wenn er sich als letzter Retter des zerfallenden politischen Systems darstellt. Er trat mit einem modernistischen und neoliberalen Narrativ an und sprach insbesondere die entpolitisierte Jugend an. Er feierte sich als „Rottamatore“, als Verschrotter des alten Systems, das von Korruption und klientelistischen Privilegien geprägt sei. Tatsächlich setzte er mit dem „Jobs act“ eine ultraliberale Arbeitsmarkt-Konterreform durch, die die Löhne weiter senkte und die Arbeitslosigkeit erhöhte – ganz nach den Rezepten der EU-Institutionen. Doch sein Meisterstück war die Verfassungsreform. In der Propaganda schoss er sich auf den Senat ein, der mit so bizarren Einrichtungen wie den Senatoren auf Lebenszeit verbunden wird. Er warb gegen Politikerprivilegien und für die Verbilligung des parlamentarischen Systems. Tatsächlich ging es jedoch darum, einen De-facto-Präsidentialismus ohne institutionelles Gegengewicht zu etablieren (daher die Entmachtung des Senats, der zweiten Parlamentskammer). Das Ergebnis wäre schlimmer als in den USA gewesen, in Europa nur mit Frankreich vergleichbar. Alles war auf seine Person zugeschnitten. En passant sollten gleich die Unterordnung unter die neoliberalen Vorgaben der EU verankert und die sozialistischen Elemente der Verfassung getilgt werden.

Im Rausch des Erfolgs verknüpfte Renzi sein Krönungsstatut in verständlicher Logik mit seiner Person. Doch sehr schnell wandelte sich die fast notwendige Personalisierung in einen enormen Hebel gegen sein populistisch geschminktes neoliberales Diktat – hauptsächlich, weil sich die soziale Situation der der Bevölkerungsmehrheit immer weiter verschlechterte.

In der verzweifelten Endphase des Wahlkampfes sah sich Renzi gezwungen, soziale Elemente seiner Gegner demagogisch in seine Reformen einzubauen. So spielte er sich als standhafter Verteidiger Italiens gegen Merkel und Junker auf, um letztlich ein paar Promillepunkte höheres Budgetdefizit zugestanden zu bekommen. Er versuchte als Retter der nationalen Souveränität zu posieren und die Realität in abstruser Weise auf den Kopf zu stellen: dass nämlich ein „No“ die Rückkehr der alten Bürokraten (seiner eigenen Partei) und ihre Unterordnung unter Brüssel bedeuten würde. Doch das nahm ihm niemand mehr ab.
Verfassungspatriotismus: die Wiederentdeckung des Sozialen

Es ist bekannt, dass die Bewegung Fünf Sterne (M5S) die Kampagne für das Nein anführte, ja deren Motor war. Die Lega Nord schloss sich unverzüglich an. Die Linke außerhalb der PD (Partido Demokratico) blieb zögerlich, sah sich jedoch schließlich gezwungen, auf den Zug aufzuspringen. Als der von Renzi gestürzte Chef des PD-Parteiapparats Bersani sich dann auch für das Nein aussprach, musste das als Zeichen gelesen werden, dass die Massenstimmung selbst in der herrschenden Oligarchie so spürbar geworden war, dass sie als Werkzeug der Machtintrigen benutzt werden konnte. Als dann selbst der ultraliberale Ex-Premier Monti von Gnaden der EU-Kommission das Ja verweigerte, war es um Renzi geschehen. Monti kritisierte vor allem das Referendum selbst. Quintessenz: notwendige Entscheidungen müssten allein von der Oligarchie getroffen werden und man dürfe sich nicht durch Plebiszite gefährden. Die einzige parlamentarische Kraft, die schwieg, war die Berlusconi-Gruppe. Denn Renzi war auch sein Kind. Hinter Renzi blieb nur die Großindustrie, die EU, Merkel und Obama. Zu guter Letzt erwies sogar noch Schäuble dem Möchtegern-Präsidenten seinen Bärendienst.

Doch um die Bedeutung des Neins zu verstehen, muss sich der Blick über das enge parlamentarische politische Spiel hinaus richten, in das eine große Mehrheit kein Vertrauen mehr hat. Sehen wir uns die Zivilgesellschaft im ursprünglichen Gramsci’schen Sinn an, nämlich als nicht direkt staatlich-repressiv organisierte Vermittlungsinstitution der Macht der sozialen Eliten:

Während der Medienapparat praktisch geschlossen für das „Si“ schrieb und berichtete, entwickelte sich auf der anderen Seite eine richtiggehende politische Bewegung zur Verteidigung der Verfassung, die erhebliche Breite und Selbständigkeit aufweist. Die Fünf Sterne sind zur Führung dieser Strömung weder fähig noch gewillt. Sie handeln praktisch immer unilateral und sind zu keinen Bündnissen bereit. Vor allem im Zentrum des Landes entstanden viele unabhängige Nein-Komitees, die sich auch aus der Kultur der Linken speisten. Ihr Handlungsspektrum reichte von Straßenaktionen, über Diskussionsveranstaltungen bis hin zu öffentlichen Stellungnahmen von Rechtsanwälten, Juristen sowie Partisanenverbänden – also tief in bisher von der PD kontrolliertes Terrain hinein.

Neben dem Wahlrecht und dem Zweikammersystem rückten in einer breiten Öffentlichkeit auch tiefgreifende historische Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Die aus der Periode unmittelbar nach dem Krieg stammende Verfassung weist der Arbeit die zentrale Stellung in der Gesellschaft zu. Arbeit ist ein jedem zustehendes Recht und Vollbeschäftigung ein explizites Ziel (§4). Das Soziale steht im Allgemeinen über dem Eigentum. Damit passt sie wie die Faust aufs Auge der neoliberalen Konterreform, die nicht nur Eigentumsrechte über formale Demokratie und soziale und kollektive Rechte stellt, sondern in Form der „Schuldenbremse“ die Austerität sogar verfassungsmäßig festschreiben will. Entsprechend finden sich in der Neufassung auch typische Code-Wörter wie Kosteneffizienz oder Förderung der Konkurrenz. Oder in Merkels euphemistischer Diktion: es geht um die marktkonforme Demokratie. In der Referendumskampagne wurden somit tote Werte wieder zum Leben erweckt. Viele Menschen wurden sich bewusst, dass die italienische Verfassung im offenen Gegensatz zu den Regeln des Euro, der EU und dem globalen Freihandelsregime im Allgemeinen steht.

Die italienische Verfassung ist noch stark von der antifaschistischen Partisanen-Tradition geprägt. Diese bezog sich auf die italienische Nation und richtete sie gegen die deutsche – im Ansatz auch gegen die amerikanische Besatzung, während sie die faschistische und reaktionär-chauvinistische Interpretation in den Hintergrund drängte. Daraus ergeben sich heute Anknüpfungspunkte gegen die Globalisierung und insbesondere das neoliberale, suprastaatliche Gefüge der EU.

Zusammengedacht ergibt sich daraus ein linksdemokratischer und sozialer Souveränismus. Damit ist der Versuch Renzis, die protosozialistische italienische Verfassung mit dem Filz und der Kultur der Ersten Republik – im Ausland versinnbildlicht durch das unsäglichen Muppet-Show-Paar Craxi & Andreotti – zu assoziieren, nach hinten losgegangen.

Auch die Rechte hat sich ein Stück weit auf neolinkes Territorium begeben müssen. Sie konnte die klassischen linken Argumente gegen Autoritarismus und für soziale Gerechtigkeit nicht gänzlich in Xenophobie und Chauvinismus ertränken. Das ist wichtig, denn die hiesige Medienkampagne versucht das Nein-Lager und auch die Cinque Stelle gerne ins rechte Eck zu rücken und mit Front National oder FPÖ in einen Topf zu werfen.

Die verfassungspatriotische Bewegung oder ihr politisches Sediment könnte dabei helfen, dass „Piraten-artige“ Internet-Sektierertum der Fünf Sterne abzuschleifen und aufzuweichen – auch weil die Verteidiger der Verfassung mehr eine Strömung oder gar eine Stimmung sind, aber keine parteiförmige, bei Wahlen konkurrierende Formation darstellen. Die Grillini bleiben der Dreh- und Angelpunkt jeder substantiellen politischen Änderung weg vom neoliberalen Elitenregime, zumindest in der näheren Zukunft.
Das Wahlrecht und der Machterhalt der Oligarchie

Nach der schweren Niederlage Renzis und seines Rücktritts konzentriert sich die Auseinandersetzung auf das Wahlrecht. Denn früher oder später werden Wahlen stattfinden müssen und es steht so gut wie fest, dass die M5S die meisten Stimmen wird auf sich vereinigen können – aber gleichzeitig von der absoluten Mehrheit weit entfernt bleibt.

Seit den 1990er Jahren geht es darum, dass Wahlrecht zugunsten der Oligarchie zu gestalten und so deren wackelige Herrschaft autoritär zu panzern, ohne einen demokratischen Anspruch aufgeben zu müssen. Mit dem Mehrheitswahlrecht wurde 1993 das Ende der Ersten Republik eingeläutet (Mani pulite, Tangentopoli). Daran schlossen Berlusconi (Porcellum) und Renzi (Italicum) in ihrer jeweils spezifischen Art daran an, für sich selbst die Hauptrolle zu sichern. Das führte angesichts der sozialen Dauerkrise immer wieder zu Gegenschlägen der unterlegenen Kontrahenten innerhalb der Oligarchie, so auch jetzt wieder.

Derzeit gibt es zwei Lager: Einerseits der alte Parteiapparat der PD, Berlusconi, der Präsident Mattarella und scheinbar auch die Mehrheit der Oligarchie, die eine „technische“ Regierung bilden wollen und Wahlen möglichst hinauszuzögern versuchen. Leider vertritt auch Stefano Fassina, der ehemalige Vizefinanzminister unter Letta, der heute mutig eine Anti-Euro-Position einnimmt, mit seiner Sinistra Italiana diese Position. Er erhofft sich taktisch von einem parlamentarischen Kompromiss eine für ihn günstige Nische im Wahlrecht.

Die Renzi-Regierung selbst war ja bereits nicht aus Neuwahlen hervorgegangen, sondern setzte nach der Palastrevolte gegen die Regierung Letta mit dem bestehenden Parlament fort. Einen solchen Coup will man nun wiederholen. Eine verlängerte Übergangsregierung soll erstens ein genehmes Wahlrecht basteln und zweitens die unpopuläre Bankenrettung durchsetzen sowie die von der EU vorgeschriebene Austerität fortsetzen. Vorzugsweise soll daran auch Renzi beteiligt werden, der damit gänzlich verbraucht werden würde.

Aber so leicht wird es Renzi seinen Feinden in der eigenen Partei nicht machen. Er betreibt eine Art Vorwärtsverteidigung und hat sich der Forderung der Fünf Sterne und der Lega Nord nach baldigen Neuwahlen angeschlossen. Damit meint er, das retten zu können, was zu retten ist. Wer will sich nicht in Geiselhaft seines PD-Apparats begeben müssen. Man darf Renzi noch nicht für tot erklären, denn er hat das Zeug für allerlei populistisches Verwirrspiel. Diese gegensätzliche Koalition der Neuwahlbetreiber ist das zweite Lager.

Das nächste Wort hat am 24. Januar der Verfassungsgerichtshof, der über das derzeit bestehende Wahlrecht Italicum entscheidet. In der Logik vergangener Urteile liegt, dass die Stichwahl fällt und die Mehrheitsprämie herabgesenkt werden wird. Andererseits sind die Höchstrichter natürlich auch Teil der Machtelite und werden versuchen, möglichst hohe Hürden gegen Grillos Partei zu erhalten.

Aber es gibt noch eine Möglichkeit. Um einem für die Grillini günstigen Urteil der Verfassungsrichter zuvorzukommen, könnte ein „Technokraten“-Kabinett im Eiltempo ein Anti-Cinque-Stelle-Wahlrecht verabschieden. Für den Fall eines solchen Coups hat Grillo mit Massenmobilisierung gedroht.

Ohne auf die Details der Wahlrechtsdebatte einzugehen, geht es um folgende Elemente: Mehrheits- versus Verhältniswahlrecht, die Höhe der Prämie für den Erstplatzierten, das Verhältnis von Parteien zu Parteienverbindungen, die Einteilung der Wahlkreise und die Beziehung der zwei Kammern, des Abgeordnetenhauses und des Senats, zu einander (All das verdiente eine gesonderte Betrachtung).
Die Chancen: Fünf Sterne, latente Revolte, Souveränismus

Vehikel jedes substanziellen Wandels ist die unaufhaltsam wachsende Oppositionspartei Cinque Stelle. Ihre Stärken und Schwächen beschreiben nicht nur die Partei selbst, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Widersprüchlichkeit ihres Milieus und der Opposition der Subalternen überhaupt.

Ihr politisches Programm im engeren Sinn ist wenig ausgearbeitet. Es richtet sich gegen die Eliten, gegen Korruption, für direkte Demokratie unter starker Verwendung des Internets und der sozialen Medien. Ökonomisch spricht es dem Staat eine größere Rolle zu, betont die Wichtigkeit der öffentlichen Leistungen und tendiert zu stärkerer Regulierung. Grillo selbst hat sich zuletzt gegen den Euro ausgesprochen und fordert eine diesbezügliche Volksabstimmung, will das aber nicht als antieuropäische Haltung verstanden wissen. Er tritt für die Begrenzung der Migration ein, allerdings ohne chauvinistische Töne. Hinzu kommt ein Kulturliberalismus wie beispielsweise die Befürwortung der Homo-Ehe. Mit Rechtspopulismus, wie man die Fünf Sterne hierzulande gerne zu verunglimpfen versucht, hat das also wenig zu tun, auch wenn hinter der dominanten Führungsfigur eine große Heterogenität zum Ausdruck kommt.

Vielmehr könnte man von sozialdemokratischen bis kulturkritischen Mittelklasse-Konzeptionen sprechen, die bisweilen ins Utopisch-illusorische reichen. Das drückt sich auch im modus operandi aus: Das ist ein sehr starker Elektoralismus und prinzipieller Respekt vor den Institutionen. Die Kehrseite dessen ist der untergeordnete Stellenwert von Massenmobilisierungen, von systematischer Basisarbeit und von den Institutionen selbst in Frage stellenden Brüchen im Denken und Handeln der Grillini. Entsprechend gibt es auch wenig Parteiorganisation, kaum Kader und Aktivisten, keine demokratischen Versammlungen. Das alles ersetzende Zauberwort heißt Internet als prozeduraler Modus und als Medium. So wird auch verständlich, warum sie zu keinen Koalitionen und einschließenden breiteren Initiativen fähig sind. Diese Selbstgenügsamkeit hat den Vorteil, sie gegen die Oligarchie abzuschotten, die schon mehrere Verführungsversuche unternommen hat. Auf der anderen Seite macht es aber auch nach links hin die Kooperation sehr schwer bis unmöglich.

Strategische Aufgabe ist es, die M5S in eine breitere Oppositionsfront zu bringen, die den Bruch mit der Oligarchie und dem mit ihr verbundenen Euro-Regime vorbereitet – und zwar auf der Basis einer souveränen demokratischen Entscheidung. Man kann nicht damit rechnen, dass den Grillini die Macht über das parlamentarische System in die Hand fällt. Die Eliten werden es nicht nur verstehen, ausreichende Hürden beizubehalten oder gar neu zu errichten, sondern die Cinque Stelle sind auch weit davon entfernt, die absolute Mehrheit hinter sich zu haben. Sie brauchen Bündnisse inner- und außerhalb des Parlaments.

Es gibt eine vielsagende Anekdote: Nachdem sich die Eliten am 20. April 2013 nicht auf einen neuen Präsidenten einigen konnten und den alten Amtsinhaber Neapolitano für eine zweite Amtszeit vereidigten, rief Grillo spontan gegen den kalten Putsch zu einem Marsch auf Rom. Die Vorstädte sollen sich bereits in Bewegung gesetzt haben und die Piazza Montecitorio (der Sitz der Abgeordnetenkammer) füllte sich. Doch plötzlich blies Grillo zum Rückzug. Gerüchte sagen, dass ihn die Polizei vor der Unkontrollierbarkeit einer solchen Protestbewegung gewarnt haben soll. Wie dem auch immer sei, die politische Moral von der Geschichte ist, dass es einerseits so etwas wie eine latente Revolte der Unterschichten gibt, andererseits Grillo und seine Partei Angst oder großen Respekt vor dieser hat.

Warum gibt es dann keine signifikante soziale Bewegung? Die Tiefe der sozialen Krise macht Arbeitskämpfe in traditionellen Formen wie Streiks und Demonstrationen aussichtslos. Der klassische linke Aktivismus befindet sich im freien Fall. Für die breite Masse gibt es nur eine allgemeine, politische Lösung und die heißt Cinque Stelle. Doch das heißt nicht, dass die Partei ihre Wählerbasis kontrollieren würde oder über ein freies Mandat verfügte. Es gibt ihr gegenüber massive Erwartungen. Wenn sie ihren Versprechungen zuwiderhandeln oder diese nicht erfüllen können, könnte es auch zu schnellen Abwendungen oder auch unerwarteten Entwicklungen kommen. Als die neugewählte Römer Bürgermeisterin Virginia Raggi für die Schlüsselpositionen der Stadtregierung Figuren des alten Establishments nominierte, die in der Folge eine De-facto-Sabotagehaltung einnahmen, musste Grillo persönlich einschreiten und jene wieder entfernen. Nur so vermochte er es eine interne Rebellion abzuwenden.

Auch im unmittelbar bevorstehenden Konflikt um das Wahlrecht und um Neuwahlen bedarf es nur eines Funkens, um die Straßen zu füllen. Grillo hat die Zünder in der Hand. Doch ob er damit etwas anzufangen und die Dynamik eines solchen Schrittes zu steuern weiß?

Die sich nach dem Nein ergebene neue politische Phase eröffnet bisher nicht gekannte Möglichkeiten. Ein potentieller Oppositionsblock um die M5S ist nur mehr wenige Schritte von der politischen Macht entfernt. Doch um diese zu erreichen, muss sie sich transformieren und entwickeln. Es bedarf einer breiten sozio-politischen Allianz mit einem viel klareren Programm, das den Bruch mit dem Establishment deutlich macht: Entmachtung der Oligarchie; Bruch mit dem Euro, dem Binnenmarkt, der Globalisierung und zurück zur nationalen Souveränität; keynesianische staatliche Eingriffe in die Wirtschaft im Sinne von Vollbeschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit; Wiederherstellung der sozialen Verfassung und der demokratischen Beteiligung der Mehrheit. Und es bedarf der Mobilisierung, Politisierung und Aktivierung der breiten Massen. Denn ohne deren Druck wird ein solcher Konflikt mit den herrschenden Eliten weder führbar, geschweige denn gewinnbar sein. Zudem sind die Cinque Stelle keine einheitliche Bewegung. Im Zuge eines solchen historischen Zusammenstoßes mit der Oligarchie wird sie wohl auch einen kompromissbereiten Flügel herausbilden, der auf den Spuren von Alexis Tsipras wandeln könnte. Auf der anderen Seite befindet sich ein radikaler linker Pol in der Entstehungsphase.

Die historische Linke Italiens indes spielt in diesem Prozess kaum eine Rolle. Sie befindet sich im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung noch immer in der europäischen Blase und im De-facto-Schlepptau der PD.

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