Kurden im Irak – Präzedenz?
Solange die Nachkriegsordnung halbwegs stabil war, gab es für die irakischen Kurden wenig Spielraum, wenn auch noch mehr als in den anderen Ländern. Seit dem US-geführten Krieg gegen den Irak 1991 betrachtet Washington die irakischen Kurden jedoch als Bündnispartner, was ihnen die Erlangung eines Autonomiestatus ermöglichte. Mit dem US-Krieg 2003 kam es dann zu einer De-facto-Selbständigkeit einschließlich der Verfügung über die Erdölressourcen. Nur die De-Jure-Unabhängigkeit wollten die USA nie einräumen – aus Rücksicht auf ihre Verbündeten, deren Grenzen damit auch indirekt in Frage gestellt werden würden. Das gilt vor allem für die Türkei, die auch ein Mitglied der Nato ist.
Auch Israel unterstützt die irakischen Kurden, weil sie ein Stachel im Fleisch des Arabismus sind, den der Zionismus lange Zeit als wichtigsten Gegner betrachtete, zumindest bis zum Sturz Saddams.
Der gewaltsame regime change sowie die US-Besatzung hat die Kräfteverhältnisse im Irak und in der gesamten Region stark verändert. Die logische Folge ist die Ausdehnung und Aufwertung des politisch-schiitischen Iran, dem Erzfeind des Baathismus. Das dual containment, die doppelte Eindämmung, die strategische Grundidee Washingtons hinter der Befeuerung des Iran-Irak-Kriegs, verlor ihre Grundlage. Der schiitische Islamismus übernahm die Macht, der im Irak als Folge des Kriegs gegen den Khomeini-Iran als Opposition aufgestiegen war. Bagdad gelangte in den Einflussbereich Teherans. Der Widerstand gegen die US-Besatzung wiederum nahm eine sunnitisch-islamische Form an, auch weil für den schiitischen Islamismus die USA das kleinere Übel darstellten. In einem gewissen Sinn war es ihnen gelungen, den amerikanischen imperialistischen Tiger für ihre Zwecke zu reiten. Mittelfristige Folge davon ist jedoch die sunnitisch-arabische Rebellion, die auf baathistischen Kulturboden stattfindet und die letztlich den Islamischen Staat hervorbrachte. (Eine Bilanz des irakischen Widerstands und seiner konfessionellen Spaltung 2007.)
Für die USA sind beide Lager keine verlässlichen Stützen. Umso mehr wertet das die irakischen Kurden auf, die mehr als 20% der Bevölkerung des Zweistromlandes stellen. Zudem kommt eine qualitative Veränderung der Beziehungen zur Türkei. Unter den Kemalisten waren alle Kurden Feinde. Für die AKP Erdogans ist das anders. Die Feindschaft zur dominanten PKK, die sie nicht unter Kontrolle bringen können, bleibt aufrecht. Doch gleichzeitig bemüht sich Ankara um Einbindung der Kurden auf einer anderen Grundlage. Dazu versuchte er eine alternative Führung zu schaffen, für die das Regime von Erbil Pate spielen sollte.
Barzani, der historische Clan-Führer der nördlichen Kurdenregion fühlt sich heute so stark, dass er sogar an eine Unabhängigkeitserklärung denkt. Zum wiederholten Mal hat er ein Referendum angekündigt. Seine Partner mögen darüber nicht glücklich sein und ihn möglicherweise doch noch davon abhalten, doch als Drohung mit Hebelwirkung dient es ihm allemal.
Die Kurden in der Türkei
Die Kurden in der Türkei stellen nicht nur den größten Anteil an den Kurden überhaupt. Nirgendwo wurden sie so hart und systematisch unterdrückt wie in der kemalistischen Türkei, wo ihnen sogar die schiere Existenz abgesprochen wurde („Bergtürken“). Gegen den von der Nato orchestrierten Putsch 1980 entstand eine linke Guerillabewegung, die vor allem unter den Kurden Fuß fasste. Die Aufstandsbewegung geriet zur nationalen Geburt. Die Führung der Nationalbewegung wurde dabei von der PKK erobert, die bis heute die Hegemonie ausübt.
Während der kemalistische Staat nur die Sprache der blutigen Repression kannte, öffnete die Erdogan-AKP ein historisches Fenster, insofern als sie den türkischen Nationalismus herunterdämpfte und panislamische Elemente mit ins Spiel brachte, die als Brücke dienen können. Im Friedensprozess lotete Erdogan die Möglichkeiten aus. Doch es zeigte sich, dass es keinen Weg an der PKK vorbei gab. Starker Tobak für den türkischen Nationalismus, doch von beiden Seiten schien sich Bereitschaft zum Kompromiss abzuzeichnen.
Doch die Beteiligung der AKP am syrischen Bürgerkrieg gab den Anstoß zu Verwerfungen ihres Bündnissystems in der Türkei selbst. Einerseits verlor die AKP mit der Intensivierung des islamischen Kulturkampfes die liberalen Mittelschichten, andererseits ging ihr Bündnis mit den staatlichen Kadern der Gülen-Bewegung in die Brüche, vermutlich auch wegen letzterer antikurdischer Haltung. Hinzu kamen dann die militärischen Erfolge der syrischen PYD, der Bruderpartei der PKK, just an der türkischen Südgrenze – und das noch mit amerikanischer Hilfe –, während Erdogans neoosmanischen Träume mit der russischen Militärintervention zerstoben. 2011 hatte Erdogan noch als Messias für die Region gegolten. 2015 stand er intern wie extern vor einem Trümmerhaufen. Es wurden der Fronten zu viele, irgendwo musste er einlenken. So schlug er intern die Tür zu den PKK-Kurden zu, um gegenüber den kemalistischen Teilen des Staatsapparates zu entspannen; extern ließ er die Jihadis und Aleppo fallen, um gegenüber den Russen zu entspannen. (Wir haben diese historischen Passagen vielfach analysiert.)
Exkurs: Erdogan hatte ein politisches Wunder vollbracht, nämlich den kemalistischen Staatsapparat friedlich zurückzudrängen. Das gelang mittels einer Zangenbewegung. Einerseits mit der liberalen Mittelschicht, die eine Demokratisierung gegen die Militärs wollte. Andererseits mittels der Gülenisten, die die Kemalisten nicht nur infiltriert hatten, sondern Teil ihrer geworden waren und sie somit von einem Putsch gegen Erdogan abhalten konnten. Mit beiden überwarf sich Erdogan. Er bedurfte der Duldung anderer Kräfte, um sich halten zu können. Tatsächlich führen die sich verschärfenden Gegensätze dazu, dass Erdogan sich nach dem gescheiterten Putsch als Bonaparte emporhebt, trotzdem die Hegemonie seines Blocks erodiert. (Zum Präsidialreferendum und Bonapartismus.)
Die nationalkurdische Bewegung in Form der HDP beging einen historischen Fehler, sich reziprok zu verhalten. Als sie im Juni 2015 ihren Wahlerfolg errang und die absolute Mehrheit der AKP brach, hätte es sich angeboten, den Friedensprozess zum Abschluss zu bringen. Regierungsunterstützung gegen Autonomie! Egal ob Erdogan angenommen hätte oder nicht, es wäre ein politischer Punkt für die HDP gewesen. Stattdessen machte sie der CHP Avancen, der Repräsentantin des alten Regimes.
Da ist einerseits das fehlende Verständnis dafür, dass die AKP die weiche Seite des türkischen Staates darstellt – das teilen die Nationalkurden mit der türkischen Linken. Denn wenn der türkische Nationalismus zu knacken sein sollte, dann über die Dämpfung mittels Islam, der bis in die Eliten wirkt. Auf der anderen Seite wird da wohl bei HDP und PKK der Erfolgsrausch der Schlacht von Kobane gewesen sein, der sie dazu bewog den Fehdehandschuh auch im Südosten der Türkei aufzunehmen. Dieses kurze Aufflackern des Bürgerkriegs 2015-16 in der Türkei führte zu einer verheerenden militärischen Niederlage der Kurden, die nicht nötig gewesen wäre.
Der syrische Bürgerkrieg…
Der syrische Bürgerkrieg ist ein außerordentliches historisches Kräftemessen, das nicht nur die Regional-und Globalmächte mit einbezieht, sondern die verschiedenen politischen Projekte in der arabischen Welt auf die Probe stellt. Es stehen sich gegenüber:
Erstens: Die postkolonialen Regime im arabischen Zentralraum, die ihre Wurzeln im arabischen Nationalismus haben, sich aber mit der regionalen und globalen Ordnung arrangiert haben oder arrangieren mussten. Das neuerliche Auftreten Russlands in der Region gibt ihnen etwas mehr Spielraum, ändert ihren Charakter als Instrument der Eliten jedoch nicht.
Zweitens: Die Golf-Regime um Saudi-Arabien, die direkt mit den USA verbunden sind, die aber in der einen oder anderen Form auf den sunnitischen Islam setzen, um in der Region einen Hebel haben. Sie sehen die wachsende Macht des Iran als ihr Hauptproblem an.
Drittens: Der sunnitische Politische Islam, der nach dem Ende der UdSSR sich schrittweise zur größten Herausforderung für die lokalen Regime entwickelte. Er ist ein klassenübergreifendes und sehr breit gefächertes Phänomen, das von einem antiimperialistischen Aspekt, über einen Quietismus und einen Konfessionalismus bis hin zu den Interessen der sozialen Eliten und des Golfes vieles enthält und repräsentieren kann. Es ist ein häufiger, aber umso schwerer Fehler eine gerade Linie von diesen sehr diversen Kräften bis zu den sunnitisch-politischen Regimes und noch mehr zu den USA zu ziehen. (Der gegenwärtige Konflikt zwischen Riad und Doha zeigt, welche Vermittlungsebenen es da gibt. Die saudische Unterstützung für den ägyptischen Militärputsch gegen die Muslimbrüder ist ein weiterer Beweis dafür, welche Angst die Monarchien auch vor islamisch gefärbter Massenmobilisierung haben.)
Viertes: Der Iran, der zwar keine arabische Macht ist, aber dennoch über erheblichen und wachsenden Einfluss verfügt, welcher meist schiitisch konfessionellen Charakter trägt. Ausgehend vom Widerstand der libanesischen Hisbollah gegen Israel bezeichnet sich die Mullah-Regierung gerne als „Achse des Widerstands“, doch überwiegt vor allem im Irak und Syrien der konfessionelle Aspekt und die persischen Interessen als Regionalmacht.
Fünftens: Die Türkei, die im Gegensatz zum Iran kaum über loyale arabische Anhängerschaft verfügt, aber dennoch über die sunnitisch-konfessionelle Achse und die Unterstützung für gewisse Strömungen des Politischen Islam Einfluss ausübt. Die neoosmanischen Ambitionen stoßen hingegen auf keine arabische Gegenliebe. Zu sehr ist der Islamismus auf dem Boden des Arabismus gewachsen, hat in seinen Teichen gefischt, ja ist bisweilen sein Surrogat oder Zerfallsprodukt. Das ist in der Türkei selbst nicht viel anders, wo der gegenwärtige Erdoganismus eine Mischung aus türkischem Nationalismus und Sunnitismus darstellt.
Hier darf ein antiimperialistischen Befreiungs- und Entwicklungsprojekt nicht fehlen, auch wenn es aus vielfachen Gründen nicht in die Kategorie der Aufgezählten passt, sondern quer dazu steht. Der arabische Frühling legte über den Stand dieses Projekts Zeugnis ab. Es gab eine Massenmobilisierung mit elementaren demokratischen und sozialen Zielen, doch ihre politische Kraft und Reife reichte nicht aus, um die Fallstricke der Situation, die sich aus der Intervention des Westens im Verein mit den genannten Spielern ergaben, zu bewältigen. Das Emanzipationsprojekt erlitt eine historische Niederlage. Die Bruchlinien können im syrischen Bürgerkrieg betrachtet werden.
In diesem Paroxysmus gibt es keinen Sieger – auch deswegen, weil der US-Imperialismus als Ordnungsmacht entscheidend an Kraft verloren hat, was wiederum potentiell Chancen bietet. Nicht umsonst ist es der Iran, der in der gegenwärtigen Lage noch am besten dazustehen scheint, der gleichzeitig von Washington und Tel Aviv als der staatliche Oberböse angesehen wird. Schein deswegen, weil die aufgerissenen Gräben sehr tief sind und die konfessionelle Spaltung und eventuell sogar Teilung keine dauerhafte Lösung bringen kann. Selbst Jahre oder Jahrzehnte des Bürgerkriegs würden keine homogenen Territorien hervorbringen. Denn der konfessionellen Identität und Subjektbildung liegen auf diese Art und Weise nicht lösbare sozioökonomische Ursachen zugrunde. Zudem greifen an ihr noch die Interessen der Regionalmächte an. Letztlich ist die Konfession zur Staatsbildung kaum geeignet. Sie tritt im Fieber des Bürgerkrieges an die Oberfläche. Das Konzept der Nation (wenn auch nicht wie vom Arabismus oder Kemalismus gedacht) hat die tieferen Wurzeln und ist besser geeignet Gesellschaft und Staat zu organisieren, wenn Inhomogenität demokratisch akzeptiert und durch soziale Entwicklung gleichzeitig gedämpft wird. Gerade auch die Kurdenfrage stellt die überragende Bedeutung der Nation ebenfalls unter Beweis.
Umgekehrt zeigt das totale Fiasko des syrischen Bürgerkriegs wie sehr ein universelles Emanzipationsprojekt gebraucht wird, das soziale Gerechtigkeit mit nationaler und kultureller Selbstbestimmung verbinden kann.
… und die Rolle der Kurden
Aus dieser Situation erklärt sich, warum eine so kleine Gruppe wie die syrischen Kurden, deren relatives und absolutes Gewicht kleiner ist als jenes der Kurden in der Türkei und im Irak und deren Verteilung auch für die Inanspruchnahme eines geschlossenen Territorium ungünstig ist, eine so herausragende Rolle spielen kann. Sogar die Weltmacht USA setzen auf diese Karte, obwohl PKK und PYD aus einer marxistischen Tradition kommen – denn sie haben sonst niemanden, auf den sie sich verlassen könnten.
Die Schlacht um Kobane stellte den Wendepunkt dar. Der Jihadismus war an seinem bisher höchsten Punkt angelangt. In Mosul hatte der IS die Macht übernommen. Er dehnte seinen Einfluss auf wichtige Teile Syriens aus. Das Damaszener Regime stand mit dem Rücken zur Wand und der Sieg der Jihadis konnte nicht mehr ausgeschlossen werden.
In Washington war man schon längere Zeit hinsichtlich der Kontrollierbarkeit des islamischen Aufstands skeptisch geworden. Spätestens mit der Entscheidung Obamas im Spätsommer 2013, trotz aufgebauter Legitimation und Ultimatum Syrien nicht anzugreifen, war klargeworden, dass die USA den Sieg der Jihadis nicht fördern wollten. Als im Herbst 2014 auch die PYD mit dem Rücken zur Wand stand, griffen sie schließlich massiv in Kobane zu ihren Gunsten und gegen den IS ein und wendeten so das Blatt.
Die Kurden hatten Kobane zu ihrem Stalingrad erklärt und alles auf diese Karte gesetzt – und gewonnen. Der Einsatz war extrem hoch, denn ohne die US-Unterstützung wären sie wahrscheinlich vernichtet worden. Eine vorsichtigere und defensivere Politik, die sich nicht in die Abhängigkeit von US-Hilfe begeben hätte, wäre nur vorstellbar gewesen, wenn die Kurden es bei einem Guerilla-Konzept belassen und nicht nach territorialer Kontrolle gestrebt hätten. Natürlich hätte ein sich anbahnender Ausgleich in der Türkei selbst einen anderen Gang der Ereignisse erlaubt. Doch standen die Zeichen im Friedensprozess scheinbar bereits auf Sturm, ohne dass es an die interessierte Öffentlichkeit gedrungen wäre. Zudem glaubte Erdogan zu diesem Zeitpunkt noch an die Möglichkeit des Sieges in Syrien, unterstützte den Jihad im Allgemeinen und ließ den IS zumindest gewähren.
Die PYD-Kräfte nutzten die Gunst der Stunde, eroberten kurdisches Gebiet zurück und begannen bald auch auf mehrheitlich nicht kurdisches Territorium vorzustoßen. Im Sommer 2016 nahmen sie die 100.000-Einwohner-Stadt Manbij ein, was in Ankara zum Entschluss führte, selbst in Syrien einzumarschieren. Damit sollte ein kontinuierliches kurdisches Territorium an der türkischen Südgrenze verhindert werden.
Die türkische Militärintervention genoss die Duldung Russlands, nachdem die Türkei Aleppo fallengelassen und die eingekesselten Jihadis ihrem Schicksal überlassen hatte. Ankara bot sich Washington als alternative Führung für den Angriff auf die syrische IS-Hauptstadt Raqqa an. Doch ihre arabischen Hilfstruppen bissen sich die Zähne an Al Bab aus, einer arabischen Stadt mit rd. 60.000 Einwohnern, die vom IS mit äußerster Zähigkeit verteidigt wurde. Nicht nur diese jämmerliche militärische Leistung ließen die USA eine solche Variante ausschließen. Das syrische Regime errichtete schließlich einen Sperrriegel gegen den weiteren türkischen Vorstoß, worauf sich die düpierten türkischen Streitkräfte gegen die Kurden zu richten versuchen, um Manbij in ihre Hände zu bekommen. Doch das wussten Washington und Moskau mit ihrer direkten militärischen Präsenz zu verhindern.
Allein sind die kurdischen Kräfte jedoch gegen den IS nicht zum Sieg fähig. Die Einkreisungsoperation gegen Raqqa dauert nun schon Monate. Wie schwierig der Feldzug werden könnte, zeigt die Schlacht um Mosul. Diese zieht sich bereits ein halbes Jahr. Und dort sind irakische Spezialtruppen mit direkter amerikanischer Unterstützung aus der Luft sowie in der Planung und Führung eingesetzt. Die USA müssen für die Schlacht von Raqqa ihre Militärhilfe massiv aufstocken und auch Luftunterstützung geben. Nach unterschiedlichen Angaben von US-Medien sollen sich bereits an die 2.000 US-Truppen auf der Seite der kurdisch geführten SDF befinden, davon ein erheblicher Teil Eliteeinheiten und Marines.
Hilfstruppe der USA?
Es ist eine Sache, für die Selbstverteidigung und für das eigene Überleben Hilfe von den USA anzunehmen. Trotzdem müssen sich die syrisch-kurdische Führung die Frage gefallen lassen, ob man es politisch verhindern hätte können, in eine solche Abhängigkeit vom imperialistischen Zentrum zu geraten. Einiges spricht dafür. Doch andererseits kann man aus demokratischer Sicht die Ausnutzung der Widersprüche bei den Gegnern nicht verurteilen. Bei gutem Willen könnte man die Interessenüberschneidung mit Washington als taktische Koinzidenz bezeichnen. Keine nationale Befreiungsbewegung kann Erfolge gegen die geschlossene Ablehnung der relevanten Ordnungsmächte erzielen.
Doch es ist eine ganz andere Sache, sich zur Hilfskraft bei der Eroberung arabischen Kerngebiets zu machen. Der IS mag usurpatorischen Charakter haben, aber gegen eine drohende kurdische Fremdherrschaft wird es überwältigende arabisch-islamische Ablehnung geben – ähnlich wie in Mosul gegenüber der Herrschaft des politisch-schiitischen Bagdad. Der kurdische Vorstoß auf Raqqa im Dienste der USA ist aus demokratischer und antiimperialistischer Sicht ein historischer Fehler, der auch mit einem militaristischen Denken zu tun hat. Er bringt Tendenzen ans Tageslicht, die bereits vorher angelegt waren:
Erstens: Die Eroberung wichtigen arabischen Territoriums noch dazu unter Federführung der USA wird zu einem arabischen Aufschrei führen, über die politischen Demarkationen hinweg und das völlig berechtigt. Darüber hinaus wird er dem Verständnis für die kurdischen Rechte in der arabischen Bevölkerung nicht dienlich sein. Im Gegenteil, es wird den antikurdischen Kräften massiven Auftrieb geben. Es ist nicht die Aufgabe der Kurden in den arabischen Bürgerkrieg einzugreifen und gegen Phänomene wie den IS vorzugehen, der in vermittelter Weise auf den US-Krieg und Regimewechsel im Irak zurückgeht.
Zweitens zeigt es ein Unverständnis für die Ursachen des politisch-sunnitischen Aufstands, dessen extremste, verzweifeltste, ja nihilistische Form der IS ist. Es ignoriert, dass der Politische Islam im weiteren Sinn erheblichen Einfluss in wichtigen Teilen der sunnitischen Bevölkerung genießt. Zur politischen Schlussfolgerung, dass man mit gewissen Teilen des Politischen Islam einen Ausgleich oder Kompromiss braucht (auch in der syrisch-arabischen Gesellschaft), um die extremistischen Elemente isolieren und schlagen zu können, ist die nationalkurdische Führung nicht gekommen. (Hier gibt es eine Parallele zu Assad.) Überhaupt stand die PYD der anfänglichen demokratischen Volksbewegung ablehnend bis indifferent gegenüber. Das von ihr propagierte Konzept der „demokratischen Autonomie“ ist für die kurdischen Gebiete legitim, muss aber für die arabische Gesellschaft schal und instrumental wirken. Es geht an dieser zentralen Problemstellung vorbei.
Drittens spielt natürlich das kurdische Versagen in der Türkei eine wichtige Rolle, den politischen Druck auf die AKP zu einem Ausgleich aufrecht zu erhalten. Somit hätte die HDP nicht nur den Preis für Erdogans türkisch-nationalistische Wende in die Höhe treiben können, sondern eventuell auch die Tür für einen seiner 180-Grad-Schwenks offengehalten. Das hätte auch in der syrischen Arena zu besseren Ergebnissen führen können.
Mit Arabern, Türken und Iranern – gegen die USA
Kurdische Selbstbestimmung tut den großen Nationen der Region weh. Dennoch ist sie demokratisch legitim. Natürlich muss sie den dominanten Nationen letztlich aufgezwungen werden, aber im Sinne eines Angebots der friedlichen und demokratischen Kooperation, am besten sogar im Rahmen gemeinsamer Staaten – nicht nur angesichts der historischen Verflechtung. Doch sobald man von den USA oder Israel als Instrument für deren Zwecke verwendet wird oder sich verwenden lässt, werden die Kurden zum Hindernis für den historischen Befreiungskampf in aller erster Linie der Araber, die unter dem (Neo)kolonialismus am meisten zu leiden hatten und noch immer in unerhörter Weise unterworfen sind. Gerade die arabische Emanzipation hat erstrangige welthistorische Bedeutung.